Der Junge, der mit Jimi Hendrix tanzte

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Bei Appaz’ Vater war es anders, ihm ging es vor allem darum, gegenüber den Nachbarn und Arbeitskollegen nicht aufzufallen, um bloß beim freitäglichen Kegeln keine hämischen Kommentare zu ernten. Die er im Übrigen selber gelegentlich von sich gab. Appaz sollte sich noch lange daran erinnern, wie seine Eltern ihn eines Nachmittags aufgeregt auf den Balkon riefen, um dann in einträchtigem Entsetzen den ältesten Sohn eines Nachbarn zu beobachten, wie er am Straßenrand mit einem Freund seine BMW Isetta reparierte.
»Furchtbar«, stellte Appaz’ Vater fest und zündete sich eine neue Lord Extra an, »so läuft man doch nicht rum!«
»Was muss das vor allem für seine Eltern bedeuten?«, fügte Appaz’ Mutter kopfschüttelnd hinzu und legte schützend den Arm um Appaz. »Guck dir das an, Kurt! Das wird aus jemand, der die Schule nicht zu Ende macht!«
Der Nachbarssohn hatte tatsächlich die Schule abgebrochen. Und seine Eltern wurden jetzt »nicht mehr fertig« mit ihm, wie Appaz’ Vater erzählte. Nicht nur, dass der Junge eine ausgefranste Jeans und ein bunt bedrucktes Batikhemd trug, sondern er lief auch barfuß und hatte Haare, die ihm weit über den Rücken fielen.
»Wie ein Mädchen«, sagte Appaz’ Vater. »Schlimm!«
Später erfuhr Appaz, dass dieser erste Hippie ihrer Siedlung mit dem Freund und der Isetta über Nacht verschwunden war und nie wieder auf tauchte. Von dem Freund - ebenfalls ein Nachbarssohn, aber zumindest mit adrettem Haarschnitt und vernünftigem Schuhwerk - erhielten die Eltern Wochen danach eine Postkarte aus Südfrankreich. Ihr Sohn hatte in Hannover ein Mädchen geschwängert und sich deshalb freiwillig zur Fremdenlegion gemeldet. Er bat seine Eltern, ihn nicht zu suchen. Von dem Hippie hörte nie wieder jemand ein Wort. Sein kleiner Bruder, der in die Oberstufe des Gottfried-Wilhelm-Gymnasiums ging, brachte sich kurz vor dem Abitur um.
»Das musste ja so kommen«, war der einzige Kommentar von Appaz’ Vater, der zunehmend Schwierigkeiten hatte mit einer Welt, die offensichtlich alle bislang gültigen Werte und Normen auf den Kopf stellte.
»Das musste ja so kommen«, war dann auch sein Kommentar, als kurz hintereinander Martin Luther King ermordet und Rudi Dutschke angeschossen wurden. Und auch die Studentenunruhen in Berlin und Paris, die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den »Krawallmachern« und die daraus resultierende Verabschiedung der Notstandsgesetze durch Bundeskanzler Kiesinger folgten nach Meinung von Appaz’ Vater nur zwangsläufig einer vorhersehbaren Entwicklung. Worum es eigentlich ging, wurde nicht besprochen, weder zu Hause noch in der Schule, und blieb für Appaz nahezu vollständig im Dunkeln.
Da sie, wie die meisten von Appaz’ Mitschülern, noch keinen Fernsehapparat hatten, waren die einzigen Informationen, die er aufschnappen konnte, die Fotos und Schlagzeilen aus der Tageszeitung. Und da erschien es ihm allemal interessanter, die Meldungen über die erste Herzverpflanzung des südafrikanischen Arztes Barnard zu verfolgen, und jeden Tag zu zählen, den der Patient überlebte. Diese medizinische Pioniertat begeisterte auch Appaz’ Mutter, sie war vor allem weit weg von jeder Politik, aus der man sich besser raushielt.
Die Kuba-Krise war ebenso wenig vergessen wie der Einsatz der Rosinenbomber in Berlin, und die Angst vor dem, was die Sowjetunion der freien Welt noch alles antun könnte, reichte vollkommen, um jetzt auch die Warnungen vor allen umstürzlerischen Ideen ernst zu nehmen - der Einmarsch russischer Panzer in Prag bestätigte das erneut, und auch die Fotos der nackten Mitglieder der Kommune 1 passten in dieses Bild. Das verbindende Glied war die »rote Gefahr«, die hinter allem lauerte, auch Langhans und Teufel waren natürlich »von drüben« bezahlt.
Appaz’ Eltern schickten also weiterhin regelmäßig Kukident und Kaffeepulver in die Ostzone, stellten Weihnachten zum Gedenken an die Brüder und Schwestern im Osten eine Kerze ins Wohnzimmerfenster und hofften im Übrigen, dass der Sohn noch möglichst lange damit beschäftigt wäre, Fotos von Autorennfahrern in seinem Zimmer aufzuhängen. Was Appaz auch begeistert tat. Und als Jim Clark, Bruce McLaren, Gerhard Mitter und Jochen Rindt kurz nacheinander tödlich verunglückten, malte er schweren Herzens hinter jeden Namen ein Kreuz und das Todesdatum.
Abends saß er manchmal mit seinem Vater auf dem Sofa neben dem großen Philips-Radio, über den eingebauten Plattenspieler hörten sie einträchtig die Werbe-Single von Esso, die der Tankwart dem Vater als treuem Kunden überreicht hatte: Ralf Bendix sang »Pack den Tiger in den Tank«. Appaz konnte den Text von der ersten bis zur letzten Zeile auswendig hersagen: »Pack den Tiger in den Tank, und dein Auto weiß dir Dank, gleich wird seine Leistung steigen! Hei, wie läuft der Wagen zügig, wie geschmeidig ist die Kraft, die das gute Esso-Extra schon vom Start weg ihm verschafft …« Appaz’ Eltern waren glücklich, dass bei ihnen zu Hause alles so gut lief.
Und dann kam der Tag, an dem Appaz’ Vater unerwartet - und, hätte er darüber nachgedacht, wahrscheinlich auch zu seiner eigenen Verblüffung - selber zum revolutionären Kämpfer wurde. Die ÜSTRA, die städtischen Verkehrsbetriebe in Hannover, hatten zum wiederholten Mal die Fahrpreise erhöht, und jetzt sollte der Einzelfahrschein 80 Pfennig kosten. Umgehend blockierten Hunderte von Demonstranten in der Innenstadt die Straßenbahnschienen und skandierten ein vielstimmiges »Üstra, Üstra, Ungeheuer, erstens Scheiße, zweitens teuer!«
Appaz und Kerschkamp warteten an diesem Morgen vergeblich auf ihre Bahn und fuhren schließlich mit dem Fahrrad zur Schule, Appaz’ Mutter schrieb ihm eine Entschuldigung für die Verspätung. Nach Schulschluss wagten sie sich dann bis zum Klagesmarkt in der Innenstadt, und beobachteten aus sicherer Entfernung, wie die Polizei vergeblich versuchte, die Schienen zu räumen, bis ein Polizist auf seinem BMW-Motorrad sie noch nicht mal unfreundlich mit den Worten »Macht, dass ihr hier wegkommt, Jungs! Ihr habt hier nichts zu suchen«, wieder nach Hause schickte.
Zwei Tage später stellte die ÜSTRA endgültig ihren Betrieb ein, und der Oberstadtdirektor forderte Hannovers Bürger in einer Zeitungsanzeige vorsorglich auf: »Folgen Sie den Anordnungen der Polizei!« Gleichzeitig tauchten überall im Stadtgebiet handtellergroße rote Punkte auf, zunächst noch selbst gemalt, kurz darauf von den Tageszeitungen in hoher Auflage gedruckt und verteilt - Autofahrer klebten sich diese roten Punkte an die Windschutzscheiben und zeigten damit an, dass sie unentgeltlich Fahrgäste mitnehmen würden. Freiwillige Helfer organisierten den improvisierten Nahverkehr, wiesen Autos zu den Haltepunkten und riefen Fahrziele aus. Selbst Oberstudienrat Löffler hatte einen roten Punkt an seinem NSU, und Appaz war nicht wenig stolz darauf, dass auch sein eigener Vater sich offen zu dieser Selbsthilfeaktion von Bürgern bekannte, die nicht länger alles mit sich machen ließen. Wobei ihm durchaus auffiel, dass sein Vater ohnehin schon länger eine Fahrgemeinschaft mit vier seiner Kollegen gegründet hatte, und der Käfer somit trotz rotem Punkt im Fenster gar keine solidarischen Sitzplätze für autolose Mitfahrer mehr frei hatte.
Natürlich befestigten auch Appaz und Kerschkamp an ihren Fahrrädern rote Punkte, und Klaus-Dieter nahm tatsächlich einmal einen Schüler der benachbarten Mittelschule auf dem Gepäckträger mit. Der Fahrgast wackelte allerdings so hin und her, dass Klaus-Dieter im Stadtwald dann vom Radweg abkam und sie beide mitten in den Brennnesseln landeten.
Nach zwei Wochen beschloss der Rat der Stadt die Kommunalisierung der ÜSTRA und die Einführung eines Einheitstarifes von 50 Pfennig. Busse und Bahnen fuhren wieder - wer beim »roten Punkt« mitgemacht hatte, gehörte zu den Gewinnern, gemeinsam hatten sie ihr Ziel erreicht und die hannoverschen Verkehrsbetriebe in die Knie gezwungen! Und Appaz hatte zum ersten Mal eine Idee davon bekommen, dass gemeinsames Handeln tatsächlich Macht bedeutete …
Noch im gleichen Sommer landete der erste Mensch auf dem Mond, auch dies schien nur möglich geworden zu sein durch eine gemeinsame Kraftanstrengung, und Appaz’ Mutter wusste stolz zu berichten, dass aller Anfang des Raketenflugs Wernher von Braun zu verdanken war, einem Deutschen, der noch dazu in der Lüneburger Heide und damit gar nicht weit weg von Hannover seine ersten Triebwerke gezündet hatte.
Zur Mondlandung kaufte Appaz’ Vater dann auch den ersten Fernseher, Appaz durfte aufbleiben, bis Neil Armstrong seinen Fuß in den grauen Mondstaub setzte und von Knistern und Knattern bis zur nahezu vollkommenen Unverständlichkeit verzerrt verkündete: »Das ist ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer Sprung für die Menschheit.«
In der Folge durfte Appaz dann gemeinsam mit seinen Eltern erst Kulenkampffs »Einer wird gewinnen« angucken, später auch »Aktenzeichen XY ungelöst«, noch später »Bonanza« und »Der Kommissar«. Und »Percy Stuart« schließlich avancierte zur absoluten Lieblingssendung der ganzen Familie, Appaz’ Eltern konnten herzlich über den typisch britischen Butler lachen, Appaz träumte davon, irgendwann selber mal eine weiße Schafspelz] acke wie die von Claus Wilcke zu besitzen. Kerschkamp war es, der Appaz den Tipp gab, unbedingt mal »Wünsch dir was« anzusehen: »Die Frau da ist toll«, schwärmte er Appaz vor, »die sieht total gut aus und ist echt witzig!« Bei Appaz’ Eltern allerdings stieß Vivi Bach auf wenig Gegenliebe, was zweifellos nicht nur mit ihrem gelispelten »sch« zu tun hatte.
Noch eine andere Frau sollte Appaz kurz nach der Mondlandung für eine ganze Weile beschäftigen. In Amerika war Sharon Täte ermordet worden. Nach den Zeitungsberichten war Täte in ihren Filmen immer äußerst »freizügig« gewesen, und der Mörder war, zumindest nach den abgebildeten Fotos, ein unrasierter, langhaariger »Hippie« - für Appaz’ Eltern passte beides nur zu gut zusammen. Aber Appaz empfand eine unklare Wut auf Charles Manson, der seiner Meinung nach die ganze Hippie-Bewegung, die Appaz - genauso wie Kerschkamp und die meisten anderen - gerade erst anfing, gut zu finden, in Verruf gebracht hatte.
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