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Neun Jahre war es mittlerweile her, dass Skal sich des Schicksals eines jungen Kriegers angenommen hatte, der die Grundausbildung zum Iatas beinahe schon mit Leichtigkeit gemeistert zu haben schien.
Cedryk war aus jeder Sicht ein wahrhaft talentierter junger Mann, in dem Skal mehr gesehen hatte, als nur einen Schüler. Für ihn war er wie ein Sohn gewesen. Ein Sohn, mit dem er die Welt bereist und beobachtet hatte, wie er an seinen Aufgaben wuchs; wie er stetig reifer wurde und ihm schlussendlich sogar ebenbürtig war. Während ihrer vielen Abenteuer hatten sie sich nicht nur Freunde gemacht, und waren dem Tod auch mehr als einmal nur knapp von der Schippe gesprungen. Aber obwohl Krieg und Zerstörung ihre dunklen Schatten auf die beiden Freunde geworfen hatten, war es dennoch die schönste Zeit, die Skal jemals erlebt hatte. Viel mehr als die Erinnerungen daran, war ihm davon nun jedoch nicht mehr geblieben. Denn der Schüler, welchen man ihm guten Gewissens anvertraut hatte, war tot. Cedryk war durch Skals Verschulden gestorben. Noch immer sah er vor sich das Bild des blutbesudelten Körpers und den anklagenden Blick in seinen toten, kalten Augen.
In diesem Moment öffnete sich die Tür und der alte Krieger wurde urplötzlich aus seinen trüben Gedanken gerissen. Noch vor Kurzem wäre Skals natürlicher Reflex der Griff zum Schwert gewesen, wenn ein Unbekannter die Tür öffnete, doch er hatte sich aufgegeben und ließ inzwischen jede Schutzmaßnahme fahren. Sein Leben war ihm nichts mehr wert.
»Mein Herr ... mein Herr.« Der dicke Wirt war ins Zimmer getreten und versuchte nun umsichtig auf sich aufmerksam zu machen. »Mein Herr, Euer Essen ist fertig, wünscht Ihr hier zu speisen oder ...«
»Nein, lass es unten. Ich komme sofort«, meinte Skal tonlos, nahm seinen Rucksack, das Schwert und den Mantel und folgte dem Wirt aus dem dunklen Raum. Er hatte nicht vor, noch einmal in das Zimmer zurückzukehren. Skal brauchte jetzt Gesellschaft, auch wenn sie nur aus dem Gesindel bestand, welches sich um diese Zeit in einem so abgelegenen Gasthaus herumtrieb.
Im Schankraum angekommen, der vor einer halben Stunde noch fast leer gewesen war, tummelten sich jetzt, außer Skal, dem Wirt und seiner Kellnerin, erstaunlich viele Leute. Eine Handvoll zerlumpter Söldner aus der nördlichen Tundra saßen nahe der Tür und spielten mit unbemalten, grobgeschnitzten Würfeln an einem der Ecktische. In beinahe schon regelmäßigen Abständen johlten sie immer wieder auf, wenn ihre Münzen reihum den Besitzer wechselten. Einer von ihnen, ein alter Haudegen mit warzigem Gesicht, und einer ledernen Augenklappe, blickte kurz zu Skal auf, als dieser die Treppe herabschritt. Doch schien er seinen braunen Mantel nicht als die Auszeichnung und Uniform zu erkennen, welche sie darstellte. Bereits einen Lidschlag später war die Aufmerksamkeit des Mannes wieder bei seinen düsteren Begleitern und den fallenden Würfeln.
Genau wie für Skal war es für die meisten hier sicher die letzte Übernachtungsmöglichkeit vor der noch einen halben Tagesritt entfernten Hafenstadt Lerm. Von dort aus würde er dann mit der Fähre nach Baknakaï, dem Hauptsitz seines Ordens, übersetzen.
Flüchtig und dennoch mit unverhohlener Neugier ließ der Iatas seinen Blick weiter durch den Raum schweifen. Neben einem Kaufmann – man erkannte ihn an der für seine Zunft üblichen grünen Mütze, die ihn als neutralen Händler kennzeichnete und auch in Kriegszeiten freies Geleit versprach – saßen zwei Zwerge, sowie ein vornehm gekleideter Herr mit seinem Reisegefolge in der Stube. Wahrscheinlich hatte der Adlige nicht ohne Grund die am weitesten von den Nordmännern entfernten Tische in Beschlag genommen. Mit gerümpfter Nase saß er demonstrativ mit dem Rücken zu ihnen auf seinem Stuhl und starrte übertrieben konzentriert auf seinen Teller.
»Hier ist noch ein freier Platz, mein Herr«, sprach der Wirt dienstbeflissen und führte Skal zu einem Stuhl direkt am Tresen. Einen Moment später stellte ihm die Kellnerin die Reste von dem, was wohl mal ein Kaninchen gewesen war, in einem halbrunden Napf auf die zerkratze Holzvertäfelung.
»Darf ich mir die Frage erlauben, was ein hoher Iatas wie Ihr in meiner kleinen Schänke will?«, fragte der Wirt vorsichtig, während er einen schmutzigen Becher mit einem noch schmutzigeren Lappen zu säubern versuchte. »Nicht, dass es mich stören würde, aber die meisten Leute nutzen die Hauptstraße südlich von hier, um nach Lerm zu gelangen.«
»Ich ... hatte es nicht so eilig«, entgegnete Skal ausweichend und stocherte unzufrieden in seiner Mahlzeit, wobei er es tunlichst vermied, dem Mann in die trüben Augen zu sehen. Cedryks Tod machte ihm immer noch schwer zu schaffen, und es brannte ihm auf der Zunge, darüber zu reden, obwohl er wusste, dass es gefährlich für ihn war. Doch wem sollte der alte Wirt es denn schon weitererzählen? Skal musste sich einfach jemandem mitteilen, viel zu lange hatte er schon geschwiegen und den Kummer in sich hineingefressen.
»Weißt du, bis vor Kurzem erstrahlte die Welt für mich noch in einem wunderbaren Glanz, und man hat großes Vertrauen in meine Fähigkeiten gesteckt. Aber das Leben holt einen schlussendlich doch immer wieder ein.« Skal atmete schwer. »Ich habe versagt. Mein Schüler, Cedryk war sein Name, ist tot.
Wäre er doch bloß nicht so sturköpfig gewesen.« Die letzten Worte murmelte der alte Krieger unverständlich und an sich selbst gewandt in seinen ungepflegten Bart. »Nun hat man mich in den Hauptsitz meines Ordens berufen. Einen neuen Schüler werden sie mir wohl kaum noch einmal anvertrauen – würde ich an ihrer Stelle auch nicht. Außerdem bin ich dafür ohnehin schon viel zu alt. Gleichzeitig bin ich für den Stand eines Großmeisters im Hohen Rat aber noch zu jung. Vielleicht werde ich hingerichtet. Mir ist es ehrlich gesagt egal.«
Der Wirt staunte nicht schlecht und hielt betroffen mit dem Reinigen seines Bechers inne. »Das tut mir sehr leid. Darf ich fragen, wie Euer werter Schüler verstorben ist, mein Herr?«
»NEIN, verdammt! Das darfst du nicht. Und hör endlich auf, mich Mein Herr zu nennen, das bin ich nicht!«, schrie Skal, dem augenblicklich die Zornesröte ins Gesicht stieg. Sogleich drehten sich alle Köpfe im Raum nach ihm um.
»Das bin ich nicht«, flüsterte er jetzt nur noch, wobei ihm eine einzelne Träne über die Wange rollte.
Die Großen Brüder
»Los, Darius, beeil dich!«, tönte es leise, aber durchdringend aus dem dunklen Raum, hinter der sperrangelweit offen stehenden Eingangstür.
»Moment noch, ich komme gleich«, erwiderte eine andere Stimme zischend und deutlich aggressiver.
»Der Plan war: Rein und raus. Wir wollen hier nicht einziehen«, erhob Ryu, ein junger Mann, dem die Schweißperlen der Nervosität deutlich im Gesicht standen, wieder das Wort.
»Gut, ich hab alles. Lass uns verschwinden«, antwortete ihm sein Komplize. Ein großer, breitgebauter und ebenfalls noch sehr junger Krimineller, der einen halb vollen Sack mit Diebesgut in seinen Händen hielt.
Mit schnellen Schritten, jedoch nicht rennend, verließen die beiden das vornehme Herrenhaus, wobei sie sich von jeder Lichtquelle fernhielten und versuchten so gut wie möglich mit der Nacht zu verschmelzen. Obwohl sie inzwischen Routine darin hatten, die Häuser reicher Leute auszurauben, begleitete sie dennoch jedes Mal panisches Herzklopfen auf ihrer Flucht und die ständige Angst, dieses Mal erwischt zu werden. Beide hatten die Ohren gespitzt, um ja kein Geräusch in der sternenklaren Nacht zu überhören. Während sie liefen, ohne dass sie wagten, sich umzudrehen, erwarteten sie beinahe schon das Rufen der Stadtwachen und das Bellen der Jagdhunde. Aber beides blieb aus.
Nachdem die zwielichtigen Gestalten einen kurzen Fußmarsch hinter sich gebracht hatten, der sie teilweise über das Gebiet eines ausgedienten Steinbruchs führte, erreichten sie endlich den sicheren Waldrand und gönnten sich eine Rast, um ihre Habe zu betrachten.
»Hab schon mal eine bessere Ausbeute gesehen«, beschwerte sich Ryu grummelnd, als er in den Sack sah. Er war der ältere von beiden und versuchte durch seine Nörgelei zu überspielen, dass er eigentlich ziemlich zufrieden war.
»Wenn du mir ein bisschen mehr Zeit gegeben hättest, dann wär bestimmt auch noch mehr rein gewandert«, knurrte Darius ihn mit verengten Augen an.
»Bei dem Lärm, den du gemacht hast, wundert es mich, dass die Leute in der Bude nicht aufgewacht sind«, konterte Ryu ernst und ließ seinen geschulten Blick über die Beute schweifen, um den Wert zu bestimmen.
»Und wenn schon, mit denen wären wir zwei doch fertig geworden«, erwiderte Darius, nun wieder etwas versöhnlicher.
»Fang nicht an zu spinnen, die hätten rumgeplärrt wie am Spieß und die ganze Nachbarschaft aufgeweckt«, schimpfte Ryu, während er geistesabwesend einen Finger nach dem anderen ausstreckte, um besser zählen zu können. »Bei unserem Glück wäre die Stadtwache auch gleich zur Stelle gewesen und mit denen werden nicht einmal wir fertig. Nein, es war schon gut so, wie wir’s gemacht haben. Immerhin, gut dreihundert Basren müsste das ganze Zeug wert sein, das wird uns alle für ein paar Wochen satt machen. Hoffentlich«, fügte er etwas leiser hinzu, sodass sein Bruder ihn nicht hören konnte. Denn in letzter Zeit war das leider nicht mehr allzu selbstverständlich.
»Du hast ja recht, Ryu«, stimmte ihm Darius nickend zu. »Aber wer weiß, wie lange das noch gut geht. Manchmal wünsche ich mir eine richtige Arbeit. Du nicht auch?« Gedankenverloren starrte der Jüngling in die silbrig glimmenden Sterne. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Stell dir das doch mal vor, wir müssten nicht mehr Angst haben, dass uns eines Tages die Wachen schnappen und wenn wir irgendwo hinkommen, sagen die Leute nicht mehr: Dieb oder Gammler. Das wär doch was, oder?«
»Du hast dir deine Frage gerade eben selbst beantwortet, kleiner Bruder«, entgegnete Ryu weise. »Überall, wo wir hinkommen, haben die Leute bereits eine schlechte Meinung von uns, darum kommen wir aus diesem Dämonenkreis nicht mehr heraus. Einmal ein Dieb, immer ein Dieb. Und außerdem wäre das nichts für dich, du bist nicht der Typ, der morgens aufsteht, sein Feld bestellt und sich abends wieder schlafen legt. Der Schlag Menschen, zu dem wir gehören, braucht diesen Nervenkitzel und das Besondere.«
»Ist schon klar«, meinte Darius schulterzuckend. »Ich würde aber auch was Besseres machen, als ein blöder Viehbauer zu werden.«
»Ach ja?« Ryu schnaubte sarkastisch.
»Ja!«, zischte Darius zynisch. »Kopfgeldjäger zum Beispiel. Ein guter Fang und wir hätten auf einen Schlag ausgesorgt. Dann müsste keiner im Dorf mehr Hunger leiden.«
Ryu lächelte, entgegnete jedoch nichts und ließ seinen, noch etwas naiven, kleinen Bruder in seinem Glauben. »Leg dich jetzt besser schlafen, in ein paar Stunden wird es hell, dann wird man nach uns suchen und unser Vorsprung ist nicht sehr groß. Wir müssen ausgeruht sein, wenn wir noch eine falsche Fährte legen und zum Mittag wieder zuhause sein wollen. Miree macht falschen Hasen.«
»Der schmeckt mir fast noch besser als echter«, lachte Darius und legte sich hin. Ryu stimmte noch kurz in das Gelächter mit ein, bevor auch er sich niederlegte. Mit den Gedanken war er aber noch immer bei den Worten seines Bruders.
Darius und er waren keine leiblichen Brüder, ebenso wenig wie Miree ihre Schwester war. Eigentlich war kaum einer aus dem Dorf mit irgendeinem anderen verwand. Zumindest nicht, wenn man von der Blutlinie ausging. Dennoch waren sie alle eine große Familie. Aus diesem Grund nannten sie sich: Die Großen Brüder. Was heroisch klang, war jedoch in Wahrheit nichts anderes, als ein großes Waisenhaus und eine Räuberbande.
Ryu selbst war mit acht Jahren, als ältestes von sieben Kindern, zuhause rausgeworfen worden. Das Essen hatte nicht mehr gereicht und das bisschen Geld, was seine Mutter am Töpferstand verdiente, wurde von seinem Vater mit beiden Händen beim Kartenspielen zum Fenster hinausgeworfen. Zumindest wenn er es nicht schon vorher versoffen hatte. So kam Ryu, vor nunmehr sechzehn Jahren, fast zeitgleich mit Darius, in jenes abgelegene Dorf von kriminellen Kindern und jungen Erwachsenen. Darius war damals noch ein Säugling. Irgendjemand hatte ihn hier ausgesetzt, Ryu konnte sich nur noch schlecht daran erinnern. Was er jedoch noch sehr genau wusste, war, dass sich hier zum ersten Mal in ihrem Leben jemand richtig um sie gekümmert hatte. Gemeinsam war er mit Darius als seinem Bruder aufgewachsen. Und so fühlten sie sich auch. Im Geiste enger verbunden als Blut es jemals gekonnt hätte.
Seit ihr älterer Bruder von damals vor einigen Jahren bei einer Messerstecherei in der nahegelegenen Stadt Kafais ums Leben gekommen war, lag es nun an Ryu, sich um Darius zu kümmern. Das hatte auch seine guten Seiten. Seitdem er für Darius die Verantwortung trug, war er selbst in den gehobenen Stand eines Großen Bruders gelangt. Und so bekam er nun nicht nur größere Anteile an den erbeuteten Wertsachen, auch der Genuss von Alkohol und Rauschkrautblättern war ihm nun gestattet. Den Jüngeren im Dorf, also all jenen, die keinen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester aufzogen, war das verboten. Schließlich wollte man ja für eine anständige Erziehung der Kinder sorgen.
Was ihn jedoch am meisten freute, war, dass Darius, je älter er wurde, sich immer mehr zu einem würdigen Übungspartner entwickelt hatte. Es war egal, was die anderen im Dorf sagten, Darius hatte ihn schon vor langer Zeit an Kraft und Schnelligkeit überholt. Sie waren die besten Kämpfer in der ganzen Gegend, doch im Gegensatz zu ihm, der einfach nur gut war, war Darius nicht mehr normal. Inzwischen war sein Bruder sogar schon besser als ausgebildete Gardisten der Stadtwache. Genau aus diesem Grund schien seine Idee, Kopfgeldjäger zu werden, bei genauerer Überlegung gar nicht einmal so abwegig, wie sie sich im ersten Moment angehört hatte.
Darius hatte schon des Öfteren den Wunsch geäußert, Söldner oder etwas Ähnliches zu werden. Und auch er war der Meinung, dass aus ihm mal etwas Besseres werden sollte als ein Straßendieb oder Hehler. Ryu verfolgte diesen Gedanken noch eine ganze Weile, bis auch er einschlief.
Am nächsten Tag erwachten sie bereits in aller Frühe, mit Einsetzen der Dämmerung, noch bevor die ersten Strahlen der Sonne die obersten Baumwipfel geküsst hatten. Gemeinsam legten die zwei Brüder noch rasch eine falsche Spur, die etwaige Verfolger in einem Kreis wieder zurück zu dem Haus führen sollte, in welches sie in der vergangenen Nacht eingestiegen waren. Dann spazierten sie großspurig und noch in Sichtweite des stattlichen Herrenhauses die unebene Straße zur gezinkten Karte – dem hiesigen Wirtshaus – entlang, so als wären sie die Besitzer der beiden Gebäude.
In der Schenke angekommen, gaben sie eine Kleinigkeit von ihrem Verdienst für ein angemessenes Frühstück aus, dass sie sich, wie Ryu versicherte, nach einer so arbeitsreichen Nacht auch redlich verdient hatten. Anschließend lösten sie beim Schankmeister ihre Pferde aus, die sie am Abend zuvor im Stall gelassen hatten. Sollte in nächster Zeit jemand die halb verkommene Spelunke betreten, um sich über den Verbleib der beiden zu erkundigen, so würde sie der Wirt, aufgrund seines großzügigen Trinkgeldes, jedoch bereits wieder vergessen haben.
Als Ryu und Darius sich im mittäglichen Schein der bereits ausgesprochen warmen Frühlingssonne auf den Rücken ihrer gemächlich dahin trabenden Pferde immer weiter vom Ort ihres Verbrechens entfernten, löste sich damit auch zusehends ihre innere Anspannung.
»Was meinst du, Ryu, wie werden die anderen wohl auf unseren plötzlichen Reichtum reagieren?«, fragte Darius grinsend, während er zuversichtlich die beiden Satteltaschen seiner Stute tätschelte.
»Na wie schon? Ein heldenhafter Empfang für die beiden besten Geldverdiener wäre ja wohl das Mindeste«, entgegnete Ryu und gab sich dabei nicht weniger großtuerisch. Tatsache war jedoch, dass es mittlerweile gar nicht mehr so gut um ihre Lebensgemeinschaft stand. Sie brauchten das Geld – und zwar dringend.
Die Gesetzeshüter der umliegenden Städte wurden zunehmend aufdringlicher und verlangten immer mehr Schmiergeld, um bei der Suche nach Verantwortlichen über ihr kleines Dorf hinwegzusehen. Aufgrund der häufigen Beutezüge, die sie in letzter Zeit durchführten, konnte Ryu es ihnen noch nicht einmal verübeln. Die Ausgeraubten – Adlige, wie Handelsleute – verlangten nach Genugtuung und Wiedergutmachung. Und ihre Rufe wurden zunehmend lauter, sodass sich die Älteren im Dorf bereits sichtlich die Köpfe zerbrachen. Aber der Tag war viel zu schön, als dass er seinem kleinen Bruder jetzt damit in den Ohren liegen wollte. Denn trotz seiner Stärke und Erfahrung war er ja schließlich noch immer ein halbes Kind.
»Was ist?«, fragte Darius ihn leicht verunsichert, als er bemerkte, wie Ryu ihn anstarrte.
»Nichts«, antwortete dieser schnell und bemühte sich dabei so beiläufig wie möglich zu klingen. Einen Augenblick später gab er seinem Vollblüter hart die Sporen.
Als sie nur noch wenige Schritte von der Wohnsiedlung entfernt waren, die sie als ihre sichere Heimat kannten, merkten die beiden gleich, dass etwas nicht in Ordnung war. Dass zwei fremde Pferde auf der nahen Weide grasten, wäre für sich allein genommen noch nicht verwunderlich, aber die rufende, mit den Armen schwingende Miree, die eilig auf sie zugerannt kam, versetzte sie sogleich in Alarmbereitschaft.
»Ryu, Darius, ihr müsst verschwinden, sie dürfen euch nicht bemerken!«, rief sie, was aufgrund ihrer lauten Schreie bereits einen Widerspruch in sich selbst darstellte. Denn wer oder was auch immer im Dorf war, musste sie ja gehört und die beiden Heimkehrer allerspätestens jetzt bemerkt haben.
»Atme erst einmal tief durch, Miree und dann sag uns, was passiert ist«, versuchte Ryu die untersetzte junge Frau zu beruhigen, der vom schnellen Laufen einige Strähnen ihrer langen, schwarzen Haare ins Gesicht gerutscht waren.
»Es sind zwei Männer ins Dorf gekommen ...«
»Soldaten?«, unterbrach Darius sie, in der Befürchtung es mit der Vorhut einer größeren Wachtruppe zu tun zu bekommen.
»Lass sie doch erst mal ausreden«, meinte Ryu und stieg, genau wie Darius, von seinem Pferd. »Also jetzt noch mal von vorne, was wollen die hier?«
»Ich habe es nicht genau verstanden«, antwortete Miree nun etwas ruhiger, doch noch immer stoßweise atmend. »Sie haben sich mit Mokku unterhalten und es ging wohl irgendwie darum, dass ein Schamane oder ein Druide oder so etwas Ähnliches irgendwas vorausgesagt hat. Das Einzige, was ich genau verstanden habe, war, dass sie Darius mit sich nehmen wollen.«
Vielsagend sah sie zu dem jungen Dieb auf, doch der hörte schon gar nicht mehr richtig zu. Kaum, dass seine Schwester die ersten Worte ausgesprochen hatte, war ihm bereits das Herz in die Hose gerutscht. Jetzt war es also so weit. Darius hatte schon seit Jahren befürchtet, dass man sie eines Tages schnappen würde. Aber warum waren sie nur hinter ihm her und wieso kamen sie nur zu zweit? Denn so wie es sich anhörte, würden keine weiteren Soldaten mehr auftauchen.
Eine Vorhut hätte das Gebiet ausgekundschaftet, und würde erst auf Verstärkung warten, bevor sie das Dorf betraten. Auf keinen Fall jedoch hätten sie das offene Gespräch mit dem Häuptling gesucht. Vor allem nicht, wenn sie darauf aus waren, einen Kriminellen aus den Reihen seiner Leute zu reißen. Nein, es musste einen anderen Hintergrund geben.
»Mach dir keine Sorgen, Miree, wir gehen mal zu ihnen hin und sehen, was sie wollen. Wenn sie Ärger machen, schmeißen wir sie einfach raus«, meinte Ryu zuversichtlich und klopfte Darius auf die Schulter.
»Ihr versteht nicht, das sind Iatas«, entgegnete ihm die leicht rundliche Miree aufgebracht und Ryu wurde aschfahl, während seine Hand auf der Schulter seines Bruders zu versteinern schien.
»Was zum Henker sind Iatas?«, wollte Darius wissen und blickte seine Geschwister fragend an.
»Hau ab, Darius. Reite ... reite so schnell und so weit wie nur möglich«, keuchte Ryu entsetzt. Doch als er sich zu seinem Bruder umwandte, war es schon zu spät. Zwei Männer, ein großer älterer und ein kleiner, etwa in dem Alter von Ryu, hatten sich unbemerkt von hinten angeschlichen. Ihre braunen, erdfarbenen Umhänge ließen sie beinahe perfekt mit der Umgebung verschmelzen. Ryu und Darius hätten sie ohne Mirees erschreckten Aufschrei gar nicht bemerkt. Selbst ihr, die direkt in die Richtung der Fremden gesehen hatte, fielen die beiden erst jetzt auf, als sie aus dem Schatten eines nahestehenden Baumes traten und nur noch wenige Schritte entfernt waren.
»Was denn, nur die zwei?«, fragte Darius, halb belustigt, halb erstaunt über den sinnlosen Aufruhr.
»Du da, du wirst mit uns kommen«, sagte der Ältere der beiden ruhig und deutete auf ihn. Es war keine Bitte und kein Befehl, sondern lediglich eine Feststellung.
»Und was ist, wenn ich nicht will?«, spottete Darius und ließ demonstrativ die Faustknöchel knacken.
»Deine Meinung tut hier nichts zur Sache!«, blaffte ihn der Jüngere an. So langsam wurde Darius ärgerlich über die Dreistigkeit der Fremden.
»Entweder, ihr zwei schert euch jetzt weg, oder Ryu und ich schicken euch gleich hier und jetzt ohne Umwege zu Otairio. Nicht wahr, Ryu?« Weil sein Bruder ihm nicht antwortete, drehte Darius sich halb zu ihm um. Das Letzte, was er dann noch wahrnahm, war eine kurze, schnelle Bewegung aus dem Augenwinkel. Dann schwanden dem jungen Dieb mit einem Mal die Sinne. Kurz bevor er endgültig bewusstlos wurde, fragte er sich noch, wieso Ryu ihm nicht half.
Doch was Darius nicht wusste, war, dass sein Bruder in ebendiesem Augenblick eine Entscheidung getroffen hatte. Eine Entscheidung, die nicht nur sein Schicksal und das von Darius verändern sollte, sondern auch das der ganzen Welt.
Iatas
Das Erste, was Darius spürte als er wieder zu sich kam, war sein schmerzender Hinterkopf, der sich anfühlte, als würde jemand mit aller Kraft von hinten dagegen drücken. So musste man sich wohl fühlen, wenn man nach einer langen Nacht einen Schädel dran hatte. So nannten es zumindest die Älteren, wenn sie sich betranken, so wie sie es meistens nach Einbrüchen ins nahe gelegene Weingut taten.
Darius war nicht zum ersten Mal bewusstlos geschlagen worden und so wusste sein Körper beinahe schon instinktiv, was ihn die nächsten Momente erwarten würde. Doch das Schwindelgefühl und der aufsteigende Brechreiz, auf den er sich innerlich schon unbewusst vorbereitet hatte, blieben zu seiner Verwunderung aus.
Benommen öffnete er die Augen und musste blinzeln. Obwohl das Sonnenlicht durch die langen grauen Vorhänge nur gedämpft zu ihm hindurchdrang, schmerzten die Strahlen im ersten Moment dennoch ein wenig in den Augen. Orientierungslos erhob er seinen Oberkörper von der erstaunlich weichen Liege, auf die man ihn gebettet hatte, und rieb sich den brummenden Schädel. Lange konnte er noch nicht weggetreten sein, denn als er sich mit zusammengekniffenen Augen zu einem weiteren Blick in Richtung der großen Fenster zwang, stellte Darius fest, dass die Sonne noch nicht einmal hinter den nahe gelegenen Baumwipfeln versunken war.
»Wo bin ich hier?«, kam es ihm unbewusst über die trockenen Lippen, während er sich umständlich einmal um die eigene Achse drehte. Zu seiner großen Überraschung musste Darius feststellen, dass er sich vollkommen allein in dem gut möblierten Zimmer befand, welches ihm auf eine noch undefinierbare Art und Weise seltsam bekannt vorkam. Der großflächige Raum, dessen Fußboden mit langen, mattbraunen Holzdielen verkleidet war, stand voll mit allen möglichen funkelnden Gegenständen, die zwar schön aussahen, jedoch zu nichts nutze waren. Wo hatte er den markanten Boden und diese teure Einrichtung nur schon einmal gesehen?
Einige schwere, versilberte Kerzenständer, welche die flachen Bretter eines kleinen Regales gefährlich weit nach unten bogen, sprangen dem jungen Dieb sogleich ins Auge. Dazu eine kostbar verzierte Porzellanschüssel, die von einer dünnen Staubschicht überdeckt war und in der mehrere goldene Ringe lagen. Alles Gegenstände, die sein Herz im Normalfall freudig erregt höher schlagen ließen.
Doch gerade als Darius sich gewohnheitsmäßig bedienen wollte, fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen. »Ich bin in Mokkus Haus!« Es war mehr eine Frage, die ihm flüsternd über die Lippen kam, obschon er sich der Tatsache mit einem Mal sehr sicher war. Natürlich erhielt er wieder keine Antwort. Dafür durchzuckte den Jüngling, während sich die letzten nebligen Schleier der Ohnmacht von seinem gerade wieder erwachten Geist lösten, unvermittelt eine weitere Erkenntnis.





