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»Dir ist aber vermutlich auch bekannt, dass es früher noch eine vierte Rasse gab, die sich zu den Zivilisierten Völkern zählte«, fuhr Skal in seinem Vortrag fort und Darius, der nie eine Schule besucht hatte und sich auch für Geschichte nicht begeistern konnte, verneinte. »Nun, dann will ich es dir erklären. Bis vor zweihundert Jahren gab es noch ein weiteres Volk. Die Alben. Sie waren den Elfen von ihrer Gestalt her sehr ähnlich und nicht wenige Gelehrte vermuteten sogar eine gemeinsame Abstammung. Die Alben waren im Schnitt gut einen Kopf größer als ein Mensch, hatten spitz zulaufende Ohren und zählten, wie auch die Elfen und Zwerge, zu den langlebigen Geschöpfen von Epsor. Das heißt, dass sie nicht an Altersschwäche oder Krankheit sterben können. Der einzige Unterschied zu den Elfen war – zumindest rein äußerlich – die Farbe ihrer Augen. Den diese waren komplett schwarz und galten als der Spiegel ihrer finsteren Seele.«
Darius erinnerte sich, dass Aaron ihm gegenüber am ersten Abend ihrer Reise etwas von Alben erwähnt hatte. Er schwieg jedoch, um Skal in seiner Rede nicht zu unterbrechen.
»Als grausames, wenn auch zugegebenermaßen zivilisiertes und untereinander gerechtes Kriegervolk, lebten sie mit den Menschen, Elfen und Zwergen in einer mehr oder weniger harmonischen Gemeinschaft. Aufgrund ihrer kämpferischen Natur und des militärischen Drills waren sie vor langer Zeit wertvolle Verbündete im Kampf gegen die dunklen Bewohner unserer Welt – die früher noch zahlreicher und vielfältiger waren als heute. Dieses Bündnis sorgte tausende Jahre lang für den Ausgleich zwischen Gut und Böse, doch eines Tages war das den Alben nicht mehr genug. Sie beschlossen, sich zur alleinigen Herrenrasse aufzuschwingen und alle anderen Völker zu unterjochen. Beinahe hätten sie es auch geschafft, doch in einer letzten gemeinsamen Schlacht gelang es einem Bündnis aus Menschen, Elfen, Zwergen und Orks die Bedrohung zu niederzuschlagen.
Es war das einzige Mal, das uns die Geschichte überliefert hat, dass wir gemeinsam mit den Orks Seite an Seite gekämpft haben. Nachdem die Schlacht geschlagen war, wurde mit den verbliebenen Alben ein Friedensvertrag ausgehandelt. Doch die Orks, welche nichts vom geschriebenen Wort, geschweige denn vom Frieden hielten, haben ihn ignoriert. Sie griffen die letzten überlebenden Alben an und löschten sie aus. Man weiß heute nicht mehr, ob sie es aus Angst vor einer Neuerstarkung des Feindes getan haben, oder weil ihnen das Töten einfach Freude bereitet hat. Vermutlich war es etwas von beidem.
Die wenigen Alben, die, so sagt zumindest die Legende, das Gemetzel nach der Schlacht überlebt hatten, flohen damals in den nahe gelegenen Nachtwald und schworen ewig währende Rache. Das ist nun mittlerweile genau zweihundert Jahre her und das Volk der Alben gilt als ausgestorben. Auch wenn Wanderer und Handelsleute immer wieder von Angriffen durch Elfen mit tiefschwarzen Augen berichten. Ganz besonders in diesem Wald. Daher trägt er inzwischen auch den Namen Albewald. Beweisen konnte diese Behauptung bis heute zwar niemand, allerdings ist es eine Tatsache, dass gerade dort sehr häufig Leute verschwinden.«
Darius, der die ganze Zeit über schweigend zugehört hatte, musste die Neuigkeiten erst mal verdauen. Die Tatsache, zu einem Wald aufzubrechen, in dem offenbar, mit fast regelmäßiger Häufigkeit, Leute verschwanden, behagte ihm nicht besonders. Andererseits machte er sich Mut damit, dass es doch ziemlich feige war, sich vor einem Ort zu fürchten, nur weil dort Wesen leben könnten, die andere überfielen – denn dann hätte er sich auch genauso gut vor der eigenen Heimat ängstigen können. Davon abgesehen war er im Begriff, ein Iatas zu werden und da durfte man nicht allzu empfindlich sein.
Wie sagte Ryu immer: »Wenn du vor etwas Angst hast, dann tu es erst recht.« Eine andere Frage interessierte ihn jedoch weitaus brennender und ließ ihn die schwarzäugigen Wesen vergessen.
»Waren bei dieser Schlacht damals auch Iatas dabei?«
»Ja«, antwortete Skal knapp. »Unsere Leute waren maßgeblich an diesem Sieg beteiligt. Von den Verlusten, die wir damals erlitten haben, konnte sich unser Orden jedoch bis heute nicht mehr gänzlich erholen. Zumal wir natürlich auch all unsere Kameraden albischer Abstammung bekämpfen mussten, da sie sich im entscheidenden Moment gegen uns gestellt hatten.« Skal wirkte bedrückt und schwieg für die Dauer einiger Atemzüge, bis Darius ihm erneut eine Frage aufdrängte.
»Was werden wir eigentlich tun, sobald wir in diesem Albewald angekommen sind?«
»Nun, das habe ich noch nicht genau entschieden«, entgegnete ihm Skal, woraufhin sich seine Züge schlagartig aufhellten und ein schelmisches Lächeln seine Lippen umspielte. »Denn auch wenn es keine Alben mehr geben sollte, woran ich persönlich ehrlich gesagt zweifele, so ist der Albewald dennoch ein äußerst gefährlicher Ort.« Mit diesen mysteriösen Worten nahm Skal seinen Rucksack auf und wandte sich von ihm ab. Darius, der erst gar nicht verstanden hatte, wieso er das tat, sah sich um und bemerkte plötzlich, dass sie soeben das Festland erreicht hatten. Die Geschichte hatte ihn so gefesselt, dass er nicht bemerkt hatte, wie sie dem Pier immer näher gekommen waren.
Mit gemischten Gefühlen griff er nach dem Beutel mit seinen Sachen und erhob sich von der rauen Holzbank.
Die Reise durch das unscheinbare Flachland unterschied sich von der, welche er gemeinsam mit Aaron und Ramir unternommen hatte, nur dahin gehend, dass sie sie zu Fuß bewältigen mussten. Skal war der strikten Auffassung, dass Darius bei ihm in Ausbildung stehe, und nicht sein Pferd.
»Wenn du ein wahrer Iatas werden willst, musst du aufhören, dich andauernd zu beschweren und anfangen, die Zähne zusammenzubeißen. Dein Halunkendasein ist ein für alle Mal vorbei und damit auch jeder Müßiggang«, hatte er gepredigt, als sie an der Stelle vorbeigekommen waren, an der Darius erst kurze Zeit zuvor seine alte Stute festgebunden hatte.
Der Blick des jungen Mannes musste die Sehnsucht nach dem Tier deutlich widergespiegelt haben. Doch von dem Pferd gab es – genau wie von Aarons und Ramirs Tieren – inzwischen keiner Spur mehr. Auf Darius’ Nachfrage hin erklärte Skal ihm beiläufig, dass alles, was einst ihm gehört hatte und was er nicht unbedingt zum Leben brauchen würde, von nun an Eigentum des Iatas-Ordens sei.
Obwohl im ersten Moment sichtlich vor den Kopf gestoßen, störte Darius sich bei genauer Überlegung nicht allzu sehr daran. Was hatte er denn schon großartig besessen? Das Pferd zumindest war, soweit er wusste, ohnehin nur Plündergut eines früheren Raubzuges gewesen. Und er wollte sich ja schließlich bessern ...
Als Entschädigung für seine schmerzenden Füße gelang es Skal zumindest, trotz der hin und wieder aufkommenden Langeweile, Darius mit seinen Anekdoten über Land und Leute gut bei Laune zu halten. Mit seinem umfangreichen Wissen, an dem er ihn nur allzu gerne teilhaben ließ, brachte er seinem neuen Schüler die Umgebung und deren Geschichte mit jedem Tag etwas näher. Darius, der sich zuvor nur selten weiter als einen Tagesmarsch von seinem Dorf entfernt hatte, war erstaunt, was die Welt für ihn, außer Stehlen und Unruhestiften, sonst noch alles bereithielt.
Es war der frühe Nachmittag vom vierten Tage ihrer Reise und die Sonne stand als feurig greller Ball am wolkenlosen Himmel, als sie auf einen Trupp bewaffneter Zwerge trafen. Die acht kleinen Männer liefen eng nebeneinander und dennoch diszipliniert ausgerichtet in einer symmetrischen Fächerformation um eine vergitterte, mit eisernen Nieten beschlagene Kutsche, die von zwei Eseln gezogen wurde.
Erst als sie bis auf wenige Schritte heran waren, erkannte Darius, dass das, was er von Weitem fälschlicherweise für einen Schweinekarren gehalten hatte, in Wirklichkeit ein Gefangenentransport war. Auch wenn die Insassen tatsächlich wie Schweine stanken und ihnen selbst bei näherer Betrachtung etwas ähnlich sahen, so handelte es sich doch tatsächlich um Orks. Dem jungen Iatas-Anwärter, der noch nie eines dieser widerlich stinkenden Wesen gesehen hatte, sondern sie nur aus Erzählungen kannte, wurde bei ihrem grässlichem Anblick ein wenig übel.
Als Skal den kleinwüchsigen Soldaten im Vorbeigehen einen Gruß zusandte, sah Darius einem der grüngeschuppten Gefangenen, denen allesamt die unteren Eckzähne in gewölbter Form aus dem Maule ragten, direkt in die Augen. Stumpf und Hilfe suchend blickten sie ihm aus tiefen Höhlen entgegen. Nicht Mordlust und Blutgier war in ihnen zu lesen, sondern der verzweifelte Wunsch nach Freiheit. Sowie die Erkenntnis, dieses naturgegebene Recht für immer verloren zu haben. Die Kreatur, die ihn aufgrund ihrer Hässlichkeit und des Gestankes vor einem Augenblick noch beinahe das Mittagessen hatte hervorwürgen lassen, tat ihm nun auf einmal leid.
Als die Kolonne vorbei gezogen war, fragte er Skal über deren Sinn. Und die Antwort, welche dieser ihm gab, war gleichermaßen logisch wie niederschmetternd.
»Die gefangenen Orks werden zum Sklavenmarkt gebracht. Die Zwerge haben sie anscheinend bei einer ihrer Patrouillen aufgegriffen. Nun werden sie bis an ihr Lebensende für denjenigen arbeiten, der bereit ist, am meisten für sie zu zahlen. Das mag grausam klingen«, fügte er hinzu, als er Darius’ erschrockenes Gesicht sah. »Es ist aber genau das, was die Zivilisierten Völker mit ihren besiegten Feinden zu tun pflegen. Vielleicht sollte noch einmal jemand über die Bezeichnung nachdenken, mit der wir uns schmücken ...«
Darius fand an diesem Abend keine Ruhe, er musste an die Kreaturen denken, die in ihren eigenen Exkrementen lagen und darauf warteten, verkauft zu werden. Einerseits taten sie ihm leid, andererseits konnte man sie auch nicht einfach freilassen, da sie eine Bedrohung für die umliegenden Dörfer waren. Das bedeutete: Entweder mussten sie getötet werden oder man tat mit ihrer Versklavung das Richtige. Oder gab es vielleicht noch einen anderen Weg? Einen Weg, bei dem niemand leiden musste?
Diese Frage beschäftigte ihn auch noch am nächsten Morgen, doch er ahnte nichts davon, dass er sich in Kürze mit weit Wichtigerem als der Moral zur Bestrafung von Orks zu befassen hatte. Denn als die beiden gegen Mittag auf dem höchsten Punkt eines kleinen Hügels angekommen waren, konnte er ihn zum ersten Mal sehen. Dunkel, mächtig und irgendwie Furcht einflößend lag der Albewald vor ihm. Er war so groß, dass man selbst von ihrem erhöhten Standpunkt aus das Ende noch nicht erahnen konnte.
»Das ist der Albewald«, sagte Skal überflüssigerweise. »Hier wird deine Ausbildung fortgesetzt.«
»Und wie?«, fragte Darius, der auf einmal eine leichte Beklemmung beim Anblick des Forstes verspürte.
»Nun, zuerst einmal wirst du eine kleine Wanderung unternehmen ... und zwar ohne das hier«, damit griff Skal nach Darius’ Schwert. Da dieser jedoch auch ohne durchaus in der Lage war, sich zu verteidigen – wobei sich das Talent, mit dem er in Baknakaï noch hatte aufwarten können, bei ihren allmorgendlichen Kampfeinheiten beharrlich missen ließ – störte ihn das weniger.
»Ich werde dich noch bis zum Waldrand begleiten und dann wirst du erst einmal bis morgen früh allein, unbewaffnet und ohne Proviant auf dich gestellt bleiben. Angst?«, fragte er lauernd.
Aber Darius, der sich schon weit Schlimmeres ausgemalt hatte, verneinte. Das Fehlen seines Schwertes würde ihn nicht stören und sein Essen hätte er sich auch nicht zum ersten Mal selber gejagt. Sogar von hieraus konnte er schon die schmackhaften Schmarotzerbeeren sehen, die sich an einigen Bäumen emporrankten. Doch so weit kam es nicht, denn gerade als sie den sanften Hügel hinabgehen wollten, konnten die beiden aus der Ferne hörten, wie sich zwei Frauen stritten.
Als sie ihnen näher kamen, schien Skal sogar eine von ihnen zu erkennen, denn urplötzlich rief er erstaunt: »Irys, bist du das?« Daraufhin wandte sich eine der beiden, eine große, mittelalte Frau mit langen, schwarzen Haaren, nach ihm um. Auch sie schien ihn zu erkennen, denn auf einmal hellte sich ihr Gesicht auf und sie trat auf ihn zu.
»Skal? Mit dir hätte ich hier am wenigsten gerechnet. Und das muss Cedryk sein.« Sie deutete auf Darius.
»Nein«, entgegnete Skal betrübt, als er ihr die Hand reichte. »Es schmerzt mich, dir mitteilen zu müssen, dass mein einstiger Schüler verstorben ist. Jedoch war der Hohe Rat so gnädig, mir noch einmal eine Chance zu geben und einen neuen Schüler anzuvertrauen. In den ich übrigens großes Vertrauen setze. Sein Name ist Darius. Darius, das ist eine sehr gute Freundin von mir, die ebenfalls unserem Orden angehört. Ihr Name ist Irys.«
»Ich wusste gar nicht, dass es auch weibliche Iatas gibt«, entgegnete Darius, der sich gleich darauf für diese Bemerkung hätte ohrfeigen können. Denn in diesem Moment trat die zweite Frau, noch ein halbes Mädchen, näher.
»Natürlich gibt es auch weibliche Iatas! Was dachtest du denn?«, erwiderte sie und musterte Darius abschätzig von oben bis unten.
»Skal, darf ich dir meine Schülerin vorstellen? Das ist Therry«, sprach Irys stolz und deutete auf ihre Begleiterin.
»Sehr erfreut«, sagte Skal, während er die Hand der etwas kleineren Frau schüttelte. »Du hattest offensichtlich dieselbe Idee, wie ich«, fuhr er an Irys gewandt fort. Während er Therry prüfend ansah, die ihre Hände ungeduldig in die Seite gestemmt hatte. Sie wäre ein ziemlich hübsches Mädchen gewesen, hätte sie nicht noch immer ein so mürrisches Gesicht gezogen. »Auch ich wollte Darius gerade mit dem Albewald vertraut machen. Er sollte ein oder zwei Nächte darin verbringen, um ein paar Erfahrungen zu sammeln.«
»Jetzt sind es schon zwei Nächte«, murmelte Darius, der sich seltsam fehl am Platz fühlte.
»Nein, Skal«, entgegnete Irys ihm mit ernstem Gesichtsausdruck. »Genau genommen habe ich das Gegenteil vor. Ich selbst will in den Albewald gehen, aber Therry weigert sich, hier auf mich zu warten.«
»Das sehe ich auch gar nicht ein!«, fuhr ihr das Mädchen grob über den Mund. »Als meine Meisterin solltest du mir etwas beibringen und wie soll ich je was lernen, wenn ich hier ganz alleine auf dich warten soll?«
»Die Frage ist berechtigt«, meinte Skal mir gerunzelter Stirn. Und nach einigen Augenblicken fügte er etwas leiser hinzu: »Was hast du im Albewald zu tun, dass du deine Schülerin nicht mitnehmen kannst?«
»Ich ... ich erledige etwas für den Hohen Rat«, entgegnete Irys flüsternd und warf Skal einen vielsagenden Blick zu. Mit einem Kopfnicken in Richtung der beiden Schüler, bei dem Darius sich nicht unerwünschter hätte fühlen können als wenn sie mit einer Mistgabel nach ihm gestoßen hätte, zeigte die Iatas auf eine kleine Baumgruppe zu ihrer Rechten.
Als sie sich gemeinsam mit Skal ein wenig entfernt hatte und mit ernsten Miene auf ihn einsprach, versuchte Darius angestrengt noch einige Wortfetzen mitzubekommen. Was ihm jedoch ungleich schwerer fiel, da Therry ihn die ganze Zeit über unentwegt anstarrte. Sie war etwa in seinem Alter und musterte ihn mit kritischem Blick.
»Alles klar?«, versuchte er ein Gespräch aufzubauen, als sich die beiden Meister noch ein wenig weiter entfernten und mit ihnen jede Hoffnung daruf, noch ein paar Worte aufzuschnappen.
»Du machst also auch eine Ausbildung zum Iatas?«, fragte sie und Darius entging der hochnäsige Unterton in ihrer Stimme nicht.
»Ja, ich habe aber erst vor einigen Tagen damit begonnen«, antwortete er kleinlaut.
»Vor einigen Tagen?« Sie musterte ihn weiterhin eingehend. »Wie alt bist du eigentlich? Achtzehn?«
»Ich weiß nicht genau«, entgegnete Darius, dem die freche Göre mit jedem Wort unsympathischer wurde. »Meine Eltern habe ich nie kennengelernt, aber laut meinem Bruder müsste ich ungefähr sechzehn sein. Wieso interessiert dich das?«
»Na ja, sechzehn geht noch, ich hätte dich älter eingeschätzt. Man sagt, wer seine Iatas-Ausbildung nach seinem sechzehnten Lebensjahr beginnt, schafft sie nicht mehr.«
»Was hat denn das mit dem Alter zu tun?«, fragte Darius, der sich nicht erklären konnte, wie jemand so neunmalklug sein konnte.
»Weiß nicht«, entgegnete Therry schulterzuckend. »Aber meine Meisterin hat das gesagt.«
»Und wie alt bist du?«, wollte Darius wissen und hoffte, sie damit in die Defensive zu bringen.
»Da geht es mir wie dir, ich kenne meine Eltern auch nicht. Aber laut den Leuten, bei denen ich aufgewachsen bin, müsste ich ebenfalls sechzehn sein. Allerdings habe ich meine Ausbildung schon vor zwei Jahren angefangen.« In diesem Moment kehrten die beiden Meister zu Darius’ Erleichterung zurück.
»Es gibt eine kleine Planänderung«, sagte Skal, dessen Miene sich verfinstert hatte. »Ihr zwei werdet hier warten. Irys und ich gehen in den Albewald.«
»Aber warum?«, wollte Darius entrüstet fragen. Doch Skal unterbrach ihn.
»Das ist keine Bitte. Irys’ Auftrag hat höchste Dringlichkeit und ich werde sie begleiten. Für euch zwei wäre es zu gefährlich und ihr würdet uns nur im Weg stehen.«
»Ich sehe ja ein, dass der da hier bleiben muss, aber ich kann euch doch helfen«, meinte Therry und deutete abschätzig auf Darius. Der wollte das natürlich nicht auf sich sitzen lassen und setzte schon zu einer Erwiderung an. Doch Irys ging dazwischen.
»Wir haben keine Zeit, um mit euch zu diskutieren. Ihr bleibt beide hier! Wir werden morgen früh, spätestens morgen Nachmittag, zurück sein. Und jetzt will ich nichts mehr hören.«
Darius, der eben noch seine Einwände kundtun wollte, ließ es dann, überrascht von der Strenge, die gar nicht zu dem hübschen Äußeren von Irys passte, doch bleiben und nickte nur. Therry hingegen schien ihren Sturkopf weiterhin durchsetzen zu wollen.
»Ich werde nicht zurückbleiben, während ihr die ganzen Abenteuer erlebt!«, schimpfte sie. Doch nach einigen tadelnden Worten ihrer Meisterin schien auch sie sich mit der Situation abzufinden. Währenddessen nahm Skal seinen Schüler zur Seite und blickte ihm tief in die Augen.
»Hör zu, Darius, ihr dürft uns auf keinen Fall folgen. Sollten wir bis zum Sonnenuntergang des nächsten Tages nicht zurück sein, kehrt ihr auf schnellstem Wege nach Baknakaï zurück. Dort verlangt ihr dann nach einem Mitglied des Hohen Rates und sagt ihm, der Auftrag von Irys sei fehlgeschlagen. Hast du das verstanden?«
»Ja, aber was ...?«, wollte Darius noch fragen.
Doch Skal unterbrach ihn. »Hast du das verstanden? Darius, ich muss mich auf dich verlassen können!«
»Ja, ich habe verstanden«, antwortete Darius, der die Worte seines Meisters zwar zur Kenntnis genommen hatte, doch nicht ihren Sinn begriff. Zu gerne hätte er den Inhalt ihres Gespräches gewusst und was sie jetzt im Albewald vorhatten. Sorgen machte er sich kaum, denn obwohl Skal sehr aufgeregt schien, konnte Darius sich nicht vorstellen, dass es etwas gab, was sein Meister nicht bewältigen konnte. Zumal er dabei Unterstützung von einer weiteren Iatas-Meisterin hatte.
Auch Therry schien sich nach den barschen Worten ihrer Mentorin inzwischen mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben, denn kaum dass Irys und Skal ihnen den Rücken gekehrt hatten und schon nach wenigen Schritten in dem undurchdringlich scheinenden Meer aus Bäumen verschwunden waren, trat sie zu ihm herüber.
»Du sammelst am besten erst mal trockenes Holz für ein Feuer, dann kannst du ...«
»Wie kommst du darauf, mir Befehle zu erteilen?«, unterbrach sie Darius, der Therry mit jedem Wort weniger leiden konnte.
»Ganz einfach«, entgegnete sie und zog eine Augenbraue hoch. »Ich bin schon länger in Ausbildung als du, deshalb hast du zu tun, was ich dir sage.«
»So ein Unsinn«, blaffte Darius sie an. »Wir sind gleichgestellt. Das heißt, wenn du mitten am Tag ein Lagerfeuer entzünden willst, musst du dir das Holz schon selber suchen.«
»Dir ist vielleicht entgangen, dass wir hier direkt am Rande des Albewaldes sind«, sagte Therry hochnäsig. »Hier hausen die schrecklichsten Kreaturen, die du dir vorstellen kannst und wenn du sie fernhalten willst, musst du nun mal ein Feuer entzünden, egal ob die Sonne scheint oder nicht.«
»Und dir ist vielleicht entgangen«, erwiderte Darius nicht weniger herablassend, »dass diese schrecklichen Kreaturen Alben heißen und sie gehörten früher einmal, genauso wie wir, zu den Zivilisierten Völkern von Epsor. Deshalb glaube ich nicht, dass sie sich von einem Feuer abschrecken lassen.« Darius sprach bewusst mit genau demselben überheblichen Unterton wie Therry und versuchte auch gleich noch, sie mit seinem Wissen über die Alben zu beeindrucken. Nur ging das leider nach hinten los.
»Du glaubst doch wohl nicht etwa an diesen Blödsinn?«, gluckste die junge Frau und sah ihn belustigt an. »Die letzten Alben sind vor zweihundert Jahren gestorben. Nur kleine Kinder und Schwachköpfe glauben daran, dass es sie immer noch gibt.«
»Mein Meister glaubt das«, meinte Darius trotzig. »Und ich übrigens auch, wenn du’s wissen willst. Warum heißt es wohl Albewald und nicht Nachtwald?«
»Es heißt Albewald, weil die letzten überlebenden Alben des Großen Krieges vor zweihundert Jahren hierher geflüchtet sind«, erklärte Therry, so als würde sie mit einem kleinen Kind reden. »Aber seitdem gibt es keinerlei glaubhafte Beweise für ihre Existenz. Sie sind ausgestorben, und wenn dein Meister etwas anderes behauptet, ist er ein Narr, genauso wie du.«
Darius war empört und hätte ihr gern noch einige Sachen an den Kopf geworfen. Doch ihm war klar, dass ein Streit mit der besserwisserischen Therry keinen Erfolg hatte. Zum einen besaß sie die besseren Argumente und zum anderen nahm sie keine seiner Begründungen ernst, sondern wiegelte sie als lächerlich ab. Abgesehen davon, so sagte er sich, konnte es ihm ohnehin gleichgültig sein, was sie dachte. Morgen käme Skal zurück und dann würde er seine Ausbildung fortsetzen. Er konnte Therry auch genauso gut recht geben und die Sache auf sich beruhen lassen. Denn nach dem morgigen Tag würde er sie vermutlich nie wiedersehen.
Nächtliche Gefahren
Seinem guten Vorsatz folgend, entschied sich Darius nicht weiter mit Therry zu streiten und sammelte das Feuerholz. Als er sich missmutig daran machte, mit seinen Feuersteinen eine Glut zu entfachen, kehrte sie bereits mit je einem toten Kaninchen in der Hand aus dem Gebüsch des Waldrandes zurück. Die Tiere waren zwar noch jung und unter ihrem braunen Fell war nur wenig Fleisch, doch es war besser als nichts. Offenbar konnte Therry nicht nur große Reden schwingen, sondern auch Taten folgen lassen.
Da es langsam spät wurde und sie auch sonst nichts Besseres zu tun hatten, legten sich die beiden nach dem Essen zum Schlafen ans Feuer, nicht ohne vorher noch untereinander die Wachschichten aufzuteilen. Sie sprachen nicht viel mehr miteinander als unbedingt nötig, aber es war das erste Mal, dass Darius mit ihr übereinstimmte, denn ob es nun Alben gab oder nicht, es war gewiss eine gefährliche Gegend. Und so einigten sie sich, dass Darius Wache halten würde, bis der gerade aufgehende Mond im Zenit stand, dann würden sie sich abwechseln.
Die Nacht war noch relativ kühl und spätestens jetzt sah Darius die Sinnhaftigkeit des Feuers ein, das nicht nur gut gegen die Kälte war, sondern tatsächlich auch die Tiere des Waldes fernhielt, welche nach Sonnenuntergang ein solches Spektakel veranstalteten, dass einem angst und bange werden konnte. Neben dem Geschrei der Schwarzaffen und dem Fauchen von Kanimas, das an sich schon zu Recht gefährlich klang, waren auch andere Geräusche von Tieren zu hören, die Darius noch gar nicht kannte. So vernahm er ab und an einen Ton, ähnlich dem Zirpen einer Grille, nur sehr viel höher, vermischt mit dem Geräusch, das die Flügel einer Fliege machten, wenn sie einem zu nahe ans Ohr flog.
Therry hingegen schien das alles nicht fremd zu sein, denn bereits kurze Zeit nachdem sie sich auf ihrem Lager niedergelassen hatte, wurde ihr Atem langsam und gleichmäßig. Sie schien mit den Gefahren das nahe gelegenen Waldes wesentlich besser zurechtzukommen als er. Deshalb war Darius auch froh, als der Mond – den er in dieser bewölkten Nacht die meiste Zeit über nur am Himmel vermuten konnte – direkt über ihm stand. Nun konnte er Therry die Bürde des Wachehaltens übertragen und schlief nach einer Weile, in der er sich unzufrieden in seinem Schlafsack herumwälzte, tatsächlich ein.
Darius war, als hätte er sich eben erst hingelegt, als ihn etwas unsanft von der Seite her anstieß. Schlaftrunken blickte er sich nach dem Ruhestörer um, als sich plötzlich eine Hand um seinen Mund legte und ihn zuhielt. Mit einem Mal war er hellwach und wollte sich dem Angreifer stellen, der ihn so feige in der Nacht attackierte. Doch in dem Moment, da er nach der Hand greifen wollte, erkannte er, dass es Therry war, die ihn festhielt. Obwohl sie kein Wort sagte, schien sie sehr aufgeregt. Nachdem sie sich den Zeigefinger ihrer anderen Hand auf die Lippen gelegt und ihm damit deutlich gemacht hatte, dass er leise sein sollte, ließ sie ihn los. Schweigend deutete sie nach links. Erst jetzt fiel Darius auf, dass das Feuer nicht mehr brannte, sondern nur noch eine schwache Glut zwischen den Zweigen glomm. Anscheinend hatte sie in aller Eile Erde darauf geworfen.






