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Gehen wir nun zurück nach Ruanda und der Situation dort, bevor eine Haltung zur Vergangenheit entwickelt wurde: Im Juli 1994 war das Land von der Armée Patriotique Rwandaise (APR), dem militärischen Arm der Rebellenorganisation Front Patriotique Rwandais (FPR), erobert worden, der Völkermord war beendet. Am 4. Juli waren APR-Kämpfer in die Hauptstadt Kigali einmarschiert, am 17. des Monats hatten sie die letzte größere Stadt, Gisenyi, im Nordwesten des Landes an der Grenze zu Zaire, besetzt. Zwei Tage später hatte die FPR infolge des vollständigen Sieges beschlossen, ihre Kampfaktivitäten einzustellen.50 Kurz zuvor war bereits Pasteur Bizimungu, ein Hutu aus dem für seine fanatische Hutu-Ideologie berüchtigten Norden, der sich der Tutsi-dominierten FPR angeschlossen hatte, zum Staatspräsidenten des neuen, post-genozidalen Ruanda bestimmt worden. Und Faustin Twagiramungu, ein Hutu aus dem Süden, der auch in Opposition zum alten Regime gestanden hatte, sollte Premierminister werden. Das Amt des Vizepräsidenten und zugleich auch die Positionen des Verteidigungsministers und Generalstabschefs waren Paul Kagame zugedacht worden, dem Chef der FPR und Sieger des Krieges.51 Was in dem Friedensvertrag von Arusha im August 1993, also noch Monate vor dem Völkermord, vereinbart worden war, die Machtteilung zwischen Hutu und Tutsi in einer Übergangsregierung,52 war damit bekräftigt worden. Die Zeichen standen, soweit erkennbar, auf Kooperation und Verständigung. Es sollte ein Staat geschaffen werden, gegründet auf den Prinzipien der Gewaltenteilung und des Rechts und unter Beteiligung aller Kräfte und politischer Parteien, die nicht in Völkermord und Massakern verwickelt waren. Aufbau, Versöhnung und Einheit waren die Ziele, denen sich alle verpflichtet fühlten. Eine der ersten Maßnahmen der neuen Regierung war es darum, in den Ausweisdokumenten den Hinweis auf die ethnische Zugehörigkeit, während des Völkermords von buchstäblich lebensentscheidender Bedeutung, zu streichen.53
Der Arusha-Vertrag hatte auch von der Einsetzung einer internationalen Kommission gesprochen, die die während des Krieges begangenen Menschenrechtsverletzungen untersuchen sollte.54 Jetzt, nach dem Völkermord, spricht niemand mehr von einzelnen Akten der Menschenrechtsverletzung. Jetzt handelt es sich um hunderttausendfachen Mord, um Folter und andere Grausamkeiten, die die menschliche Fantasie sich auszudenken fähig ist. Und es geht darum, ein weiteres Verharren des Landes in der Apokalypse zu verhindern. »Wir mussten versuchen, dass die Überlebenden, die Opfer mit den Tätern zusammenleben konnten, und das in einem großen Durcheinander, denn wir wussten nicht, wer wofür verantwortlich war – wer ist Opfer, wer nicht und warum, wer ist verantwortlich für das, was geschehen ist und warum – und entdeckten dabei, dass wir nirgendwo anknüpfen konnten. Wir mussten den Anfangspunkt selbst bestimmen.«55
3,2 Millionen Menschen, fast die Hälfte der Einwohner Ruandas, waren vor der vorrückenden APR in die Nachbarstaaten Burundi, Tansania und Zaire geflüchtet, oft nach Gemeinden (communes) geordnet56 und unter Mitnahme öffentlicher Gelder, administrativer Unterlagen und Waffen. Hinter sich gelassen hatten sie ein Land im Schockzustand, ein Land, in dem bapfuye bahagazi, vom Tod gezeichnete Menschen, umherirrten und Ansammlungen von Geiern und Hunden auf die unzähligen Leichenfelder früherer Massaker hinwiesen.57 Der Staat Ruanda und mit ihm ein Großteil seiner Bewohner waren verschwunden. Ihn wieder herzustellen und bescheiden funktionsfähig zu halten, würde einen Einsatz von Menschen, Kapital und Material erfordern, der 1994 nicht zur Verfügung stand. Um ein nahe liegendes Beispiel zu wählen: Von den vormals 758 Richtern gab es im November 1994 noch 244, von den 70 Staatsanwälten noch 12 und von den 631 Mitarbeitern in Justizbehörden noch 137.58 Richter und Staatsanwälte waren überdies in der belgischen Tradition des kontinentaleuropäischen Rechtssystems ausgebildet und sprachen Französisch, was auf den Argwohn der, zumindest auf Leitungsebene, nahezu ausschließlich anglophonen FPR stieß. Diese hatte schon während des Völkermords gefordert, und die Forderung durch etliche Festnahmen untermauert, dass die für den Völkermord Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden müssten – »to end impunity«, wie der Slogan in Anspielung auf die Straflosigkeit ethnisch motivierter Straftaten in der ruandischen Vergangenheit lautete – und waren darin von allen Parteien der Übergangsregierung und des Übergangsparlaments unterstützt worden.59 Alle, Hutu wie Tutsi, wollten keinen Zweifel daran lassen, dass das künftige Ruanda nicht mit der Hypothek ungesühnter Verbrechen belastet werden dürfe.
Mit diesem Vorsatz standen beide Bevölkerungsgruppen nicht allein. Die internationale Gemeinschaft, über deren Versagen zur Verhütung und Bekämpfung des Völkermords schon viel geschrieben worden ist,60 richtete im November 1994 einen Strafgerichtshof ein, dessen Aufgabe es war, Völkermordverbrechen und »systematische, weitverbreitete und flagrante Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht«, die zwischen dem 1. Januar und dem 31. Dezember 1994 begangen worden waren bzw. noch begangen werden sollten, zu ahnden.61 Nach dem Willen des UN-Sicherheitsrats sollte sich der Gerichtshof, dem Beispiel des im Mai 1993 geschaffenen Jugoslawien-Tribunals folgend (mit dem es im Übrigen organisatorisch eng verzahnt war), auf ehemals hochrangige, einflussreiche Täter konzentrieren, um durch deren Bestrafung »zur nationalen Aussöhnung wie auch zur Wiederherstellung und Wahrung des Friedens« beizutragen.62
Dass Ruanda, das 1994 nichtständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats war, als einziges Mitglied dieses Gremiums gegen die Einsetzung des Ruanda-Tribunals stimmte, mutet vor dem Hintergrund dieser Zielsetzung und etlicher inhaltsgleicher Erklärungen ruandischer Politiker in den Monaten zuvor befremdlich an. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Die Gegenstimme markierte jedenfalls einen deutlichen Missklang, der sich bis heute, mal mehr, mal weniger klar vernehmbar, durch das Verhältnis zwischen dem »Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda« und Ruanda selbst zieht. Das Tribunal sei nicht effizient genug, blind für die ruandische Geschichte und Kultur und unsensibel gegenüber den Überlebenden, lauten die Vorwürfe. Auch darauf wird noch zurückzukommen sein.
Ende August 1996 wurde vom ruandischen Übergangsparlament das erste Gesetz verabschiedet, das eine strafrechtliche Ahndung von Völkermordverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ermöglichen sollte.63 In den gut zwei Jahren, die seit dem Völkermord vergangen waren, war mit Hochdruck an dem Wiederaufbau der Justiz gearbeitet, waren Staatsanwälte und Richter ausgebildet worden und hatten in Kigali Konferenzen stattgefunden, die internationales Wissen über den Umgang mit Massenverbrechen vermitteln wollten.64 Das Gesetz wies die Verfahren noch zu bildenden Sonderkammern bei den ordentlichen Gerichten und den Militärgerichten zu (Artikel 19). Die Tatverdächtigen wurden je nach Tatschwere in vier Kategorien eingeteilt, vom Organisator des Völkermords und Massenmörder über den einfachen Mörder und Schläger bis hinunter zum Plünderer (Artikel 2). Die Höchststrafe konnte auf Tod lauten, doch bestand generell die Möglichkeit, das Strafmaß durch ein frühes Geständnis erheblich zu mildern (Artikel 15 und 16), im günstigsten Fall sollte z. B. ein Mörder nur eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren erhalten. »Durch ein System, das geringere Strafen für geständige Verdächtige vorsah, sollte dazu beigetragen werden, die Wahrheit über das, was zwischen 1990 und 1994 geschehen war, herauszufinden«, meinte dazu Martin Ngoga, von Juli 2006 bis Oktober 2013 Generalstaatsanwalt von Ruanda, und im Hinblick auf die Kategorisierung der Täter fügte er hinzu »sie berücksichtigte den Umstand, dass zwar die Beteiligung der Bevölkerung am Völkermord sehr hoch gewesen war, doch nur eine kleine Zahl von Führern den Völkermord geplant und dazu aufgerufen hatte. Die Kategorisierung der Verdächtigen entsprach dem Grad ihrer Verantwortlichkeit für begangene Verbrechen.«65
Unumstritten war der justizielle Weg nicht, trotz regelmäßiger Bekenntnisse zur einheits- und friedensbildenden Kraft der Justiz. Besonders die Strafmilderungen wurden von Überlebenden und Abgeordneten als viel zu großzügig, als nur notdürftig kaschierte Form der Amnestie kritisiert. Sie forderten höhere Strafen vor allem für Völkermordverbrechen, da diese nicht mit den aus anderen Gründen als der ethnischen Vernichtung begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleichgestellt werden dürften.66 Wie um diese Stimmen zu besänftigen, boten die ruandischen Justizbehörden der Öffentlichkeit am 24. April 1998 ein besonderes Schauspiel: 21 Männer und eine Frau wurden auf Plätzen oder in Stadien im Norden, Süden, Osten und Westen des Landes erschossen. Sie waren von den Sonderkammern in Gerichtsverfahren, die in aller Kürze eine vorher feststehende Schuld bestätigten, zum Tode verurteilt worden.67 »Die Verabreichung einer schmerzhaften Medizin war nötig, um unsere kranke Gesellschaft zu heilen; es war eine Demonstration für alle, dass die Tage der Straflosigkeit vorüber waren und jeder sich seiner Verbrechen stellen musste«, lautete der entsprechende Kommentar in einer Zeitung,68 und schmerzhaft, wenn auch nicht in durchweg lebensverkürzender Finalität, war die Medizin allemal. Für die Hälfte der etwa 1200 Personen, die sich zwischen Dezember 1996 und Dezember 1998 vor Gericht zu verantworten hatten, lautete das Urteil auf Tod (18,21 %) oder lebenslange Inhaftierung (32,1 %). Fast ein Fünftel der Angeklagten (17,97 %) war immerhin freigesprochen worden,69 was als Beleg dafür angeführt wurde, dass die ruandische Justiz keinesfalls, wie von exilruandischen Kreisen in Europa und Nordamerika behauptet,70 eine Rachejustiz sei. Sie habe beachtliche Fortschritte gemacht und die Verfahren entsprächen internationalen Standards, hieß es in einem UN-Bericht.71
Damit war das Thema abgeschlossen, zunächst zumindest, und das Augenmerk konnte auf ein anderes Problem gerichtet werden, das täglich größer wurde. Nach Ruanda zurückkehrende Hutu-Flüchtlinge, die der Teilnahme am Völkermord beschuldigt wurden, ließen die Zahl der Gefängnisinsassen rasant steigen. Über 120 000 waren es um die Jahrtausendwende, zehnmal mehr, als Haftraum in den ohnehin desolaten ruandischen Gefängnissen vorhanden war.72 Weiterhin ausschließlich auf die Tätigkeit der Sonderkammern zu setzen, wäre einem Todesurteil für die allermeisten Häftlinge gleichgekommen. Selbst wenn die durchschnittliche Zahl von jährlich tatsächlich nur rund 600 Verfahren um ein Mehrfaches erhöht worden wäre, hätte es leicht länger als ein Menschenleben gedauert, bis alle Verfahren eröffnet worden wären. Eine Lösung für diese menschenunwürdige Situation musste gefunden werden und sie wurde in der ruandischen Geschichte gefunden. »Gacaca« lautete das Zauberwort, das nicht nur die schnelle Schaffung vieler tausend Gerichte garantieren, sondern auch den Prozess der Einigung und Versöhnung unter den Ruandern beschleunigen und zugleich festigen sollte. »Die Wahrheit über all das herauszufinden, was in Ruanda geschehen ist: wer 1994 in welcher Zelle73 lebte, wer dort nicht mehr lebt, wer getötet worden ist, wer getötet hat, was zerstört worden ist, usw.«, das sei, gefolgt von der Bestrafung der Hauptverantwortlichen und der Beschleunigung der Prozesse, das oberste Ziel der zu reaktivierenden Gacaca-Justiz, wie ein Minister Ende 1999 erklärte.74 Inhaltlich orientierte sich das Gacaca-Gesetz vom 26. Januar 2001 an den Kompetenzen der Sonderkammern, das heißt, wie diese sollten die Gacaca-Gerichte die mutmaßlichen Täter von Völkermordverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit kategorisieren, bestrafen und dabei die Einsicht in das begangene Unrecht mit weitreichenden Strafnachlässen belohnen. Zwei gewichtige Unterschiede gab es allerdings: Die Richter und – erstmals in der Geschichte der Gacaca-Justiz – Richterinnen waren keine Berufs-, sondern Laienrichter, und einen Staatsanwalt bzw. Verteidiger gab es nicht. Die lokale Bevölkerung, mit Tat und Tatort vertraut, sollte be- oder entlastende Informationen liefern, die von ihr gewählten Richterinnen und Richter sollten das Urteil sprechen.75
Die Haltung zur Vergangenheit, die sich bis zum Jahr 2002 in Ruanda entwickelt hatte, stellte sich damit wie folgt dar: Nachdem Krieg und Völkermord beendet und das alte Regime besiegt worden waren, fiel bald die Entscheidung, die Vergangenheit strafrechtlich aufzuarbeiten, und zwar auf internationaler und nationaler Ebene. Art und Dimension der Verbrechen erheischten eine einmütige Verurteilung, sie gaben die Wahrheit vor, die konsensuell benannt und solidarisch unter Rechtsnormen subsumiert werden sollte. Begriffe wie »Sieger« oder »Besiegte« waren diesem Vorgang fremd, Gegensätzliches musste, wie es schien, nicht in einen Ausgleich gebracht werden. Zum spanischen Modell der Vergangenheitsaufarbeitung könnte der Unterschied größer nicht sein, obwohl wie dort Täter und Opfer in einem Land zusammenleben mussten. Im Vergleich zu Frankreich fällt wegen der 22 öffentlichen Exekutionen allenfalls die Parallele zum Säuberungsfuror der Post-Kollaboration auf. In Südafrika, wo die Verbrechen der Vergangenheit auch öffentlich verhandelt wurden, hatte die Wahrheits- und Versöhnungskommission keine Bestrafungskompetenz. Außerdem waren es die Verbrechen beider Seiten, die dort zur Verhandlung standen. Und mit Deutschland hatte Ruanda zwar die Verbrechensbezeichnung gemein und auch der jeweiligen Einsetzung einer internationalen Strafinstanz können ähnliche Hoffnungen und Ziele unterstellt werden, ansonsten aber war die Ausgangslage völlig verschieden, vor allem darum, weil in Ruanda Täter und Opfer weiterhin zusammenleben mussten.
Kurzum, trotz einiger Übereinstimmungen mit historischen Vorläufern war und ist der ruandische Weg der Vergangenheitsaufarbeitung in weiten Teilen neu und originär. Die Überzeugungsfestigkeit, ja Inbrunst, mit der er präsentiert und vertreten wurde (und bis heute vertreten wird), ließen auch die Wahrheit über das vergangene Geschehen als klar und zwingend erscheinen.
2. Die Gacaca-Pilotverfahren und ihre Wahrnehmung in Ruanda
Gerichtsverhandlungen, die sich mit Völkermordverbrechen befassten, waren in Ruanda grundsätzlich öffentlich. Verfahren vor den Sonderkammern konnten auch ausländische Prozessbeobachter, soweit sie keine journalistische Akkreditierung benötigten, ohne Erlaubnis besuchen. Dennoch war das Interesse gering. Kinyarwanda, die Sprache Ruandas und auch die Gerichtssprache, verstanden die wenigsten. Dolmetschen in den meist kleinen Gerichtsräumen wirkte störend, zumal wenn mehrere Beobachter dem Prozess folgen wollten. Diese Gefahr bestand bei Gacaca nicht. Wie das Wort, das dem deutschen »Gras« oder »Rasen« entspricht, nahe legt, fanden die Prozesse im Freien statt, an zentraler Stelle eines Dorfes oder Stadtteils. Selbst ein halbes Dutzend oder mehr Beobachter konnten sich jetzt mit ihren Dolmetschern einfinden, ohne dass daraus für das Gericht und die Öffentlichkeit eine Störung entstanden wäre. Und das Interesse war groß nach dem 18. Juni 2002, als offiziell der Beginn der neuen Gacaca-Justiz verkündet worden war und in allen zwölf Provinzen des Landes die Durchführung von Pilotverfahren zur Informationssammlung einsetzte. Dass ein Volk über sich selbst zu Gericht sitzt, sich einem Läuterungsprozess unterzieht, schien ein einzigartiges Experiment zu sein, das zudem durch die zu erwartenden Einblicke in die Abgründe menschlichen Verhaltens noch an Attraktivität gewann. Doch anders als bei den Verfahren vor den Sonderkammern musste für die Beobachtung von Gacaca-Prozessen von allen Nicht-Ruandern ausnahmslos eine Erlaubnis beantragt werden. Der Antrag war zu richten an den Obersten Gerichtshof (Cour Suprême), der die Gacaca-Aktivitäten beaufsichtigte und koordinierte, und sollte eine Begründung enthalten. In meinem Fall ergab sich die Begründung aus einem Schreiben des Justizministers Mucyo, in dem ich, nach einem Besuch in dessen Büro und einem langen Gespräch über den Holocaust, Deutschlands Verantwortung und Aufarbeitungsversuche, ausdrücklich dazu ermuntert wurde, »wahrheitsgetreu von allen Bemühungen zu berichten, die unternommen würden, um der Folgen des in Ruanda begangenen Verbrechen des Völkermords und der dort ebenfalls begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit Herr zu werden«.
Die Erlaubnis, die ich daraufhin erhielt, gestattete mir, Gacaca-Verhandlungen im ganzen Land zu besuchen. Versehen war sie mit der Maßgabe, mich getreu den ruandischen Gesetzen zu verhalten, die ruandischen Sitten und Gebräuche und das ruandische Volk im Allgemeinen zu achten und strikte Neutralität zu wahren. Besonders hervorgehoben wurde noch, dass es mir untersagt war, Fotoaufnahmen oder Tonaufzeichnungen von den Verhandlungen zu machen.
Man tat gut daran, sich an diese Ge- und Verbote zu halten. Die Hautfarbe sorgte bereits für Aufmerksamkeit, der Sitzplatz – auf einer Bank im Schatten, während die Dorfbevölkerung, oft nicht einmal durch einen Sonnenschirm geschützt, auf dem Boden hockte – ebenfalls. Und die dauernd anwesenden Sicherheitsbeamten, sogenannte Local Defence Forces, waren ohnehin sehr kontrollfreudig. Allerdings wurde das Fotografieren auch manchmal erlaubt, je nach Laune, so hatte es den Anschein, der oder des Vorsitzenden des Gacaca-Gerichts. In der Region um die südruandische Stadt Butare jedenfalls schien sie oft so zu sein, dass Fotos nicht als Sicherheitsbedrohung eingeschätzt wurden. Auch 2002 lief die Zeit dort offensichtlich noch anders als in anderen Teilen des Landes.
1994 rettete die Verzögerung von fast zwei Wochen, mit der der Völkermord die Stadt Butare und die gleichnamige Präfektur erreicht hatte, vielen Menschen das Leben. Die rettende Grenze zu Burundi war nicht weit und die relative Ruhe in der Präfektur zu einer Zeit, als in Kigali die Toten schon nach Zehntausenden gezählt wurden, verschaffte vielen die Möglichkeit zur Flucht. Doch ab dem 20. April ergoss sich der Strom der Gewalt auch über Butare. Der einzige Tutsi-Präfekt des Landes, Jean-Baptiste Habyalimana, war bereits einen Tag vorher zusammen mit anderen, die Ruhe und Frieden bewahren wollten, beseitigt worden. Danach begannen die Massaker an den Tutsi. Kein Dorf, in dem sie nicht umgebracht wurden, durchweg in großer Zahl, denn in der Präfektur Butare lebten mit zirka 130 000 weit mehr Tutsi als in den anderen Präfekturen Ruandas.76
Ermordet wurden sie auch in Gishamvu, der Heimatgemeinde Jean Kambandas, des Premierministers während des Völkermords. Dort treffe ich acht Jahre später, im November 2002, zwei Richter des örtlichen Gacaca-Gerichts. Wie ihre Kolleginnen und Kollegen der anderen Gacaca-Gerichte waren sie von der Bevölkerung gewählt worden, zwei von über 250 000, die nach Abschluss der Pilotphase in den dann mehr als 11 000 Gacaca-Gerichten urteilen sollten. Dem Beispiel ihrer historischen Vorbilder folgend nannten sie sich Inyangamugayo, Menschen, die dem Bösen fern stehen, als weise und moralisch integer gelten und daraus ihre Autorität beziehen. Dass sie nicht am Völkermord beteiligt sein durften, verstand sich von selbst, auch dass Hutu ebenso wie Tutsi Inyangamugayo sein konnten. Entscheidend war die individuelle Vorgeschichte, ansonsten galt die Devise »Wir sind alle Ruander«.
Meine beiden Gesprächspartner sind Hutu, in Gishamvu geboren, und wissen genau, was in den 1990er Jahren bis hin zum Völkermord in ihrer Gemeinde geschehen war. Jetzt stehen sie am Rande des Dorfplatzes und warten darauf, dass die Bevölkerung zur ersten Gacaca-Verhandlung eintrifft. Die ruandische Nationalflagge, in der Mitte des Platzes an einem Mast hochgezogen, kündigt davon, dass hier bald ein hoheitlicher Akt vollzogen wird. »Ich bin sicher, dass Gacaca die richtige Lösung ist«, meint Amadou H. »Die Menschen hier haben alles gesehen, sie wissen, wer was gemacht hat. Es liegt jetzt an ihnen, darüber zu sprechen. Sie waren vorher keine Monster und sind es jetzt auch nicht. Sie sind beeinflusst worden von denen, die den Völkermord wollten.« Sein Richterkollege Johani B. fügt hinzu: »Ja, diejenigen, die den Völkermord geplant haben, sind die wirklich Verantwortlichen, die andern waren ihre Instrumente. Doch auch als Instrumente haben sie schlimme Dinge getan und das müssen sie gestehen. Dann entscheiden wir, wie wir sie verurteilen werden. Die Strafe muss nicht unbedingt eine Gefängnisstrafe sein, viel wichtiger ist, dass wir zusammensitzen und eine Lösung finden, die von allen als gerecht empfunden wird.«77
Bevor sie Gacaca-Richter werden konnten, mussten Amadou H. und Johani B. in einem einwöchigen Schnellkurs lernen, wie ein Gacaca-Prozess strukturiert ist, was bei der Verhandlungsführung zu beachten ist, wie ein Urteil abgefasst sein muss und natürlich: welche Strafen überhaupt verhängt werden durften und wann am besten auf eine Bestrafung verzichtet werden sollte. Der Schnellkurs für die Gacaca-Richter stand am Ende eines Programms, das zunächst die justizielle Spitze des Landes in den verschiedenen Aspekten der neuen Gacaca-Justiz unterwies, diese dann als Lehrer für Juristen niederer Instanzen und Jura-Studenten in den Abschlusssemestern einsetzte, die ihrerseits die späteren Gacaca-Richter und -Richterinnen unterrichteten. Was Gacaca war, welches Ziel es verfolgte und wie es umgesetzt werden sollte, war auf diesem Weg allen ruandischen Juristen bekannt. Denen, die es konkret anwenden sollten, waren der Inhalt einzelner Verfahrensschritte und die Erwartung, die sie an die Kooperationswilligkeit der lokalen Bevölkerung stellen durften, noch durch Zeichnungen veranschaulicht worden.78
»Ja, wir wissen Bescheid«, erklären denn auch unisono Amadou H. und Johani B., »und die Menschen hier sind sich auch darüber im Klaren, was von ihnen erwartet wird«, sagen sie noch, bevor sie sich auf eine Bank hinter einem Tisch setzen, an dem mittlerweile schon ihre Richterkollegen Platz genommen haben. Ihnen gegenüber, in einem Abstand von etwa fünf Metern, sitzt die erste Reihe der Dorfbevölkerung, halblinks hocken die Angeklagten, drei Männer in rosafarbener Gefängniskleidung, zwischen 30 und 40 Jahren alt. Sie hatten bereits eine »Présentation« durchlaufen, öffentlich ihre Taten gestanden und haben somit auch eine Akte. Neben ihnen sitzt noch eine Frau, ebenfalls mittleren Alters, allerdings in normaler Kleidung.
Um 11.30 Uhr beginnt die Verhandlung. Alle Anwesenden erheben sich und gedenken in einer Schweigeminute der Toten des Völkermords. Der Vorsitzende des Gacaca-Gerichts teilt mit, was Inhalt der Verhandlung sein wird, nämlich die Tatvorwürfe gegen die anwesenden Angeklagten und die Feststellung möglicher weiterer Verbrechen, die während des Völkermords im Dorfgebiet begangen wurden. Er fordert Disziplinwahrung für die Dauer der Verhandlung. Sprechen dürfe nur, wer sich vorher gemeldet habe, und das auch nur zur Sache. Ausuferndes Gerede werde er nicht akzeptieren. Im Übrigen weise er darauf hin, dass niemand die Gacaca-Verhandlung vor ihrem Ende verlassen dürfe.
Mit einer Handbewegung erteilt er sodann dem Gerichtssekretär das Wort, der in sehr gedrängter Form die bisher bekannten Anklagen verliest: Damscène R. soll im April 1994, mit einem Gewehr bewaffnet, viele Tutsi erschossen haben. Die Tutsi waren in die Kirche von Nyumba geflüchtet, wo sie sicher zu sein glaubten. Zusammen mit anderen Tätern ist Damscène R. zur Kirche gefahren und hat das Feuer auf die Flüchtlinge eröffnet. Anasthase N. hat ein junges Mädchen geschlagen und gezwungen, ihm das Versteck seiner Familie zu zeigen. Danach hat er das Mädchen getötet. Emmanuel B. ist angeklagt, mehrere Tutsi ermordet zu haben, unter ihnen zwei Kinder, deren Leichen er in eine Latrine warf.
Alle Anklagen werden bestätigt. Eine Frau erhebt sich – sie ist, da aus Gishamvu und am Leben, aller Wahrscheinlichkeit nach Hutu – und erzählt, wie sie Damascène N. vor der Kirche gesehen hat. Sie könne sich noch genau erinnern, wie er eine Frau erschossen habe, denn die Kugel sei haarscharf an ihrem eigenen Kopf vorbeigeflogen. Wieder eine andere Zeugin, auch sie Hutu, berichtet, dass das junge Mädchen, das Anasthase N. umgebracht habe, von diesem vor dessen Tod so geschlagen worden sei, dass es vier Zähne verloren habe. Anasthase N. sei in einer Gruppe gewesen, die Jagd auf Tutsi gemacht habe. Das bekräftigt auch eine andere Zeugin, die ihn mehrfach bei Mordaktionen gesehen haben will. Zum Beweis zeigt sie ihr stark vernarbtes rechtes Knie. »Hier hat er mich mit einer Machete verletzt. Außerdem hat er mir noch mein Geld gestohlen.« Dann melden sich noch Zeugen, die beobachtet haben, wie der dritte Angeklagte, Emmanuel B., mit den Kindern verschwunden sei. Auch er sei nicht allein gewesen. Zwei andere Männer, Jean-Pierre M. und Claude K., hätten ihn begleitet, und sie, die Zeugen, wüssten auch, dass die drei zusammen noch mehr Morde begangen hätten, an Kindern und an Erwachsenen.