Der ungeliebte Amadeus und andere Kriminalgeschichten

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Sie trafen sich von da an mehrmals in der Woche gleich vormittags nach dem Agenturbesuch. Und zwar bei ihr zu Hause. Wenn sie schon keine Arbeit hatten, wollten sie wenigstens Spaß haben. Darin waren sich beide einig.
Frank hatte immer das ungute Gefühl, er könnte sich mit seinem häufigen Fernbleiben zu Hause verdächtig machen. Tatsächlich hatte Werner schon die eine oder andere Spitze losgelassen, wenn Frank vormittags das Haus verließ. „Brav Schwiegersohn. Wer sucht, der findet auch. Muss ja nicht unbedingt Arbeit sein …“ Oder: „Helga, der Streber rennt schon wieder zur Agentur. Wenn der mal nicht Agent werden will. Fränk Null-Null-Null, das klingt doch mächtig gewaltig, hahaha!“
Die Sticheleien nervten Frank. „Ach Melanie“, seufzte er, „warum ist nicht alles so herrlich easy wie mit dir?“
„Feierabend!“ Frank war unbemerkt an den Spieltisch getreten. „Morgen ist Freitag. Eileen, Rosalie, ihr müsst früh raus zur Schule! Etwa vergessen?“ Beide schauten entsetzt auf die Uhr, es ging tatsächlich bereits auf Mitternacht zu. Eileen sprintete ins Bad.
Frank packte seine Frau derb am Oberarm: „Los, ab ins Bett!“ Rosalie ließ die Karten fallen und ließ sich willig in Richtung Wohnung schieben. Kurz bevor sie hinter der Tür verschwand, kniff sie ihrem Mann in den Po.
Werner schüttelte den Kopf. „Was die bloß an dem findet, möcht ich wissen. Haste ihre Augen leuchten sehn, Mutter? Und gleich geht das Geschreie, Gejammere und Gestöhne wieder los. Und wetten? Morgen früh hat sie überall blaue Flecke. Ich kapier das nicht, sonst durch und durch autoritär, aber im Bett ’ne gefügige Sklavin. Wo hat Rosalie das bloß her?“
Helga sagte nichts. Sie hatte gerade die Punkte auf dem Notizblock addiert und grämte sich, die Verliererin des Abends zu sein. Wäre sie doch bloß zum Handarbeitszirkel gegangen.
Das Telefon hörte nicht auf zu bimmeln.
„Bist du taub, Helga? Geh endlich ran, ist doch sowieso für dich!“, brüllte Werner in Richtung Flur, ohne das Blättern in seinen alten Fachzeitschriften zu unterbrechen. Es war nicht zu fassen, schon zum dritten Mal durchforstete er die Inhaltsverzeichnisse, konnte aber nicht finden, wonach er suchte. Irgendwo musste doch dieser … dämliche Artikel … sein!
Das Telefon verstummte. Werner atmete auf, grinste breit und trällerte vor sich hin: „Nix-Ge-duld, sel-ber-schuld! Nix-Ge-duld …“
Schließlich warf er die Zeitschrift wütend auf den Tisch. Bei diesem Dauergebimmel war ihm nun auch die Geduld vergangen. Und dass er bei dem herrlichen Wetter draußen hier drinnen Fachliteratur wälzen musste, daran war er sogar noch selbst schuld. Warum hatte er sich beim letzten Skatabend mit den Exkollegen bloß breitschlagen lassen, ein Seminar zur Verbrechensverhütung abzuhalten. Dazu noch für Senioren. Er als Ruheständler? Wie blöd muss man eigentlich sein! Wahrscheinlich hatte er schon ein Bier zu viel intus, als er seinem ehemaligen Chef großspurig zusagte. Und nun hatte er den Salat, musste suchen und konnte nicht finden.
Das Telefon bimmelte wieder.
„Helll-gaaa!“, schrie Werner durchs Haus, aber nichts rührte sich. Jetzt erst merkte er, dass außer ihm niemand daheim war. Er schlug sich die flache Hand vor die Stirn: Mensch, stimmte ja, Helga hatte einen Termin beim Zahnarzt, Rosalie und die Kinder waren in der Lernfabrik und sein Schwiegersohn, dieser Arbeits-Loser, machte sich mal wieder einen schönen Tag auf der Jobagentur.
„Jajajaaa, ich komm ja schon!“ Werner hatte sich aufgerappelt und schleppte sich in Richtung Flur.
„Ich höre!“, knurrte er unwirsch in die Sprechmuschel und lauschte, während er langsam ins Wohnzimmer zurückschlurfte.
„Oh, hello, ich sprechen wiss Mister Wörnör Gät-te-männ in Dschörmännie?“
„Nein, Sie sprechen mit Wer-ner Gat-ter-mann. Ünd wör sünd Sü?“
„Oh, säts wanderfull. Aim so häppi. Pließ raten mal, wer hier sprechen?“
Werner runzelte die Stirn. Sollte das etwa eine Telefonverarsche werden? Hoffentlich keine vom regionalen Rundfunksender! Das hätte ihm gerade noch gefehlt, dass morgen die halbe Stadt über ihn lachte.
„Hör’n Sie, ich habe keine Lust auf Ratespiele. Und falls das ein Trick sein sollte, alte Leute umfragewillig zu quatschen, sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Werner Gattermann lässt sich nicht aushorchen! Und Wein will er auch nicht kaufen und Finanzberatung braucht er keine, schon gar nicht aus‘m Ausland. Nehmen Sie’s nicht persönlich, baibai!“
„Stopp, stopp, nicht auflegen. Hier spricht deine Enkelin …“
„Eileeen? Was soll der Quatsch! Lernt man neuerdings in der Penne, seinen Großvater zu verarschen, oder was ist los?“
„No, no, nooo! Aim not Eileen, hier is Austrälia … hello Grändfaaser, no, no, wie sagt man in dschörmän, oh jess: hallo Opa!”
Werner schluckte, kratzte sich den Kopf und räusperte sich.
Australien? Enkelin? Dann müsste das ja … theoretisch … eine Tochter von … Anke …
„Hör’n Sie! Machen Sie mit einem alten Mann nicht solche Scherze. Woher wissen Sie überhaupt, dass ich Verwandte in Australi…“ Er räusperte sich. „Die haben noch nie angerufen, warum …“
„Ach Ooopa, mai dier, dier dschörmän Opi, hier is …, na … na? Hu is hier?“
Werner wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das konnte nicht wahr sein, ein erster Kontakt nach so vielen Jahren?
„Ähm, … Marie?“
„No, no, nooo, aim not Märrie?“
„Dann bist du Kathrin?”
„No, no, nooo, aim not Kaaathrin!“
Werner runzelte die Stirn. Weder Marie noch Kathrin? Wer dann? Er hatte nur die zwei Enkeltöchter in Australien. Also doch eine Verarsche! Oder Schlimmeres? Aber wer weiß, vielleicht hatte Anke inzwischen noch eine Toch…
„Hör’n Sie, wenn Sie nicht Marie heißen und nicht Kathrin, können Sie auch nicht meine Enkeltochter sein. Wir machen am besten Schluss, das wird mir jetzt zu dämlich mit Ihnen.“
„Opi, Opi, dier Opi, hier is Käss-riiihn. Kaaathrin is in Austrälia der Näm Kässrihn. Aim sooo häppi, zu sprechen wiss meine liebe Opi in Deutscheland.“
Werner wischte sich über die Augen, schluckte und räusperte sich.
„Hallo Kathrin, äh, Kässrihn“, sagte er leise, „bist du’s wirklich? Ankes älteste Tochter? Ich kann‘s nicht … fassen. Sekunde bitte, muss mal kurz … die Nase …“ Er schnäuzte sich lange und laut. „Kässrihn? Ähm, du musst schon entschuldigen, ich bin so gerührt …“, er schluckte und räusperte sich kräftig, „ähm, das kommt so überraschend, weißt du. Aber warum habt ihr denn nie mal … ähm, ach unwichtig … sag mal, wie alt bist du eigentlich jetzt? Das letzte Mal, als wir uns gesehen haben, warst du noch ein kleiner Wildfang und wolltest immerzu ‚Hoppereiter‘ mit dem Opi machen …“
Es kam keine Antwort.
„Kathrin?“, fragte Werner nach. „Hallooo! Kässrihn, bist du noch dran?“
Am anderen Ende der Leitung knackte es ein paar Mal, aber seine Enkelin antwortete nicht.
Mein Gott, die wird meine Frage nicht verstanden haben, dachte Werner, die spricht doch in Australien Englisch und ich Blödmann laber sie mit Deutsch voll.
„Äääh, Kässrihn? Du andaständ mi?“, versuchte es Werner auf Englisch. „Hau ohld ju nau, mai dier?“ Es war ihm sehr peinlich, derart radebrechen zu müssen. Er konnte vieles gut bis sehr gut, manches sogar perfekt, Fremdsprachen gehörten leider nicht dazu.
Werner glaubte, am anderen Ende der Leitung ein leises Kichern zu hören. Wenn ihn seine Enkelin für sein sprachliches Entgegenkommen auslachte, würde er ab sofort wieder ausschließlich Deutsch mit ihr sprechen.
„Hello Opi, aim twentie und eins Jahre alt. Du vergessen?“ Werner hatte seine australischen Nachkommen natürlich nicht vergessen, war aber derart aufgeregt und im Vokabelwirrwarr verstrickt, dass er Kathrins Alter nicht so schnell errechnen konnte.
Eine Stunde nach Ende des Gesprächs saß Werner noch immer auf der Couch, das Telefon in der zitternden Hand. Seine Enkelin Kathrin hatte angerufen! Dass er dieses Glück noch erleben durfte. Und Anke ging es gut, hatte er erfahren, und Marie natürlich auch. Vielleicht würde sich nun doch alles zum Guten wenden! Er wünschte sich das jedenfalls sehnlichst. Kathrin hatte ihm verraten, dass sie nach Deutschland übersiedeln wolle, in den nächsten Tagen sogar schon, und dass sie vorhabe, sich ein Modedesignstudio in Berlin einzurichten. Ja, der Opi könne wirklich stolz sein auf seinen groß gewordenen „Waildfäng“. Sie würde ihn natürlich bald besuchen kommen, versprochen. Und „männi dier grietings from Mom änd Märrie“ solle sie ausrichten. Ja, auch die hätten den Opi „wärri, wärri“ lieb.
Helga kam mit einer dicken Backe nach Hause, der Zahnarzt hatte ihr zwei Zähne gezogen. Die Wirkung der Betäubungsspritze ließ allmählich nach, die Schmerzen nahmen dafür stetig zu. Deshalb war sie übel gelaunt. Werner hätte schon Bedenken gehabt, seiner Frau die Neuigkeiten mitzuteilen, wenn sie bei bester Laune gewesen wäre. In ihrem jetzigen Zustand jedoch durfte er ihr auf keinen Fall mit Nachrichten von Anke und den Kindern kommen, selbst wenn sie noch so gut waren.
Werner verzog sich stillschweigend in den Garten, legte sich auf die Hollywoodschaukel und grübelte.
Frank und Melanie lagen nackt auf dem Bett und schütteten sich aus vor Lachen.
„Ich hab dich auch ‚wärri, wärri lieb, mai dier‘“, sagte Frank und tätschelte seiner Liebsten den Hintern. „Hätt auch schiefgehen können, was? War noch nie gut im Kopfrechnen. Ich hab mich wirklich super vorbereitet, aber dass der misstrauische Exbulle so’n Scheiß fragt, konnte doch keiner ahnen.“ Frank streichelte Melanie den Rücken. „Aber du warst einfach Spitze als ‚Kässrihn from Austrälia‘. Und der ‚dier Opi from Dschörmännie‘, dieser alte Teufel, wurde bei deinen himmlischen Nachrichten fromm und frömmer. Ich glaub, ihm lief nicht nur der Rotz, der hat richtig geheult vor Rührung. Da wär ich zu gern dabei gewesen, ich hätt mich eingepisst vor Lachen.“
„Ja, es war irre lustig, allerdings auch ganz schön anstrengend, so lange die Stimme zu verstellen. Aber ein bisschen gemein ist es schon, finde ich. Du bist so ein guter Mensch, Frank, hast du es nötig, Gleiches mit Gleichem zu vergelten?“ Melanie küsste ihn auf die eine Wange und streichelte die andere.
„Ach was, Werner Gattermann hat einen Denkzettel mehr als verdient! Hab ich dir doch erklärt. Mach dir mal keinen Schädel. Wenn du tust, was wir besprochen haben, kann nichts schiefgehen.“ Frank schaute Melanie tief in die blauen Augen, um ihre Bedenken zu zerstreuen. „Glaub mir, es ist wirklich nur ein Streich innerhalb der Familie, mehr nicht. Wenn auch ein ziemlich böser, na und! Er soll sich ruhig bis auf die Knochen blamieren, wenn er als Kriminalhauptkommissar a. D. schon derart außer Diensten ist, dass er sogar auf den primitiven Enkeltrick reinfällt. Und das, meine Liebe, ist nicht strafbar. Und keine Sorge, die Kohle kriegt er natürlich wieder. So, Mellaschatz, eh ich wieder losmuss, lass uns doch noch mal schnell …“ Frank versuchte, Melanie auf sich zu ziehen, doch sie wollte jetzt lieber unten liegen. Das war was ganz Neues. Egal, Frank liebte es auch, missionarisch zu lieben.
Werner war wieder allein zu Haus. Rosalie und Kinder quälten sich in der höheren Bildungsanstalt, der arbeitsscheue Schwiegersohn lümmelte wahrscheinlich in der Jobagentur herum und Helga hatte einen Friseurtermin. Färben und Dauerwelle, das konnte dauern. Je länger, je lieber, wünschte sich Werner. Er plagte sich mit der Vorbereitung des Präventionsseminars. Zwar hatte er die gesuchten Fachartikel irgendwann gefunden, gründlich studiert und sich Notizen gemacht, kam aber mit dem Entwurf eines eigenen Vortrags nicht richtig voran. Er konnte sich einfach nicht konzentrieren. Schuld war seine australische Enkeltochter Kässrihn, die sich wieder Kathrin nannte, seitdem sie nach Berlin übergesiedelt war.
Gestern hatte sie zum zweiten Mal angerufen. Ach, „Dschörmännie“ sei ja so toll, schwärmte sie ihrem „dier Opi“ dabei in einem Mix aus englischen und deutschen Brocken vor. Und „Börlinn“ habe es ihr ganz besonders angetan. Die „Piepels sein so lawli“, der „Tellewischntauer“ so „bigg“ und das „Brändenbörg Gäit“ so „gräit“. Und der Opi könne sich nicht vorstellen, wie „fanni änd sexi“ hier das „Schopping“ sei, vor allem im „KeyDieDabbeljuh“. Werner konnte das tatsächlich nicht. Kathrin ließ ihm auch keine Zeit zum Nachdenken, denn sie schnatterte ohne Luft zu holen. Das Studio sei „sooo bjutifull“, erfuhr er weiter, und „wärri“ günstig gelegen, ganz in der Nähe vom „Ännimälgaaden“, und die Miete sei nicht so „hai“, dass sie diese nicht erwirtschaften könne. Aber leider, leider sei doch nicht alles „wärri gud“. Der „bäd“ Immobilienmakler habe von heute auf morgen die „Prowischn“ verdoppelt und das sei so gemein, weil sie damit doch nicht rechnen konnte. Sie habe bereits die Mama angerufen und die würde das Geld sofort überweisen, wenn Kathrin schon ein Girokonto besäße, sie habe aber noch keine Zeit gehabt, sich eines einzurichten und würde das auch nicht mehr bis morgen schaffen, leider, aber morgen müsse sie schon die „Prowischn“ bezahlen und wenn nicht, dann hätte der Makler noch „ä lott ow“ anderer Interessenten und dann wäre es aus mit ihrem „Drihm“ vom eigenen „Fäschnstjudio“.
„Was soll ich bloß machen, Opi?“, schluchzte es am anderen Ende der Leitung. „Ich bin ‚so wärri‘ traurig und ‚häff so männi tihrs inse Eihs‘.“ Das Schluchzen ging nahtlos in lautes Heulen über.
„Bitte nicht, nicht weinen, mein Engelchen!“, versuchte Werner zu trösten, „vielleicht kann dir der Opa aus der Patsche helfen. Wozu sind denn Opis da, nicht wahr? Hahaha! Na sag schon, wie viel brauchst du?“
„Zwanzig, zwanzigtausend, Opi. Besser wären fünfundzwanzigtausend. Mama hätte mir sogar dreißigtausend überwiesen, aber für die Maklerprovision würden mir zwanzig… äh, fünfundzwanzigtausend erst einmal reichen.“ Kathrin begann erneut herzzerreißend zu schluchzen: Nein, nein, nein, nicht einmal vom besten Opi der Welt könne sie so einen großen Liebesdienst annehmen, und er hätte ja auch nur seine bescheidene Rente … Ach, am besten wäre es, sie ginge wieder zurück nach „Austrälia“. Huhhuhhuh!
Einen Moment hatte sich Werner darüber gewundert, wie perfekt seine Enkelin bereits nach so kurzer Zeit die deutschen Zahlwörter beherrschte und sogar akzentfrei aussprach. Wenn Kathrin Zahlen so am Herzen liegen, freute er sich, wird sie bestimmt mal eine großartige Geschäftsfrau. Und deshalb sagte er ihr die Fünfundzwanzigtausend zu. Er bekomme ja Pension und damit sei eine solche Hilfsaktion innerhalb der Familie schon mal für kurze Zeit zu verkraften. Kathrin überhäufte ihn mit Dankes- und Lobeshymnen und Werner sonnte sich darin.
Ach sooo, fiel ihr plötzlich ein, eine Überweisung sei ja leider noch gar nicht möglich und sie könne das Geld dummerweise auch nicht persönlich von ihm abholen, sie müsse doch in „Börlinn“ bleiben, um zu verhindern, dass der gierige Makler die Räume an andere vermiete. Aber zum Glück habe sie bereits eine deutsche Freundin gefunden, der sie blind vertrauen könne. Die würde sich morgen Vormittag mit ihm in Verbindung setzen und das Geld abholen.
„Ach Opi, ai law ju sooo!“, hatte sie zum Schluss ins Telefon gehaucht, noch drei Küsse hinterhergeschmatzt und aufgelegt, ehe er ihr sagen konnte, dass er sie für etwas leichtsinnig halte.
Werner schmiss den Kugelschreiber hin, zerknüllte sein Manuskript und schaute zum x-ten Mal nervös auf die Uhr. Schon halb elf, warum meldete sich die dämliche Tussi nicht? Würde die erst anrufen, wenn Helga oder Frank zu Hause wären, käme er in arge Erklärungsnot. Verdammt, wenn er doch bloß Kathrins Telefonnummer hätte, dann könnte er schnell mal nachfragen. Aber vielleicht …
Das Telefon bimmelte. Werner bekam einen derartigen Schreck, dass ihm das Gerät beinahe aus der Hand gefallen wäre. Kathrins Freundin war am Apparat und entschuldigte sich für den verspäteten Anruf, aber sie sei wegen eines blöden Staus auf der Autobahn gerade erst in der Stadt angekommen. Sie wolle nur schnell eine Kleinigkeit essen und warte in einer halben Stunde vor der Sparkasse auf Herrn Gattermann. An der Motorradkleidung und an den langen blonden Haaren könne er sie erkennen. Er möge sich aber bitte, bitte beeilen, sie müsse doch pünktlich zur Übergabe der Provision wieder bei ihrer Freundin Kathrin in Berlin sein. Es käme auf jede Minute an. Bis gleich. Knack, tut, tut, tut …
Werner Gattermann verließ die Sparkasse mit einem prall gefüllten Kuvert in der Brusttasche und mit einem mulmigen Gefühl im Bauch. So viel Bargeld hatte er noch nie mit sich herumgeschleppt. Ihm war bewusst, wie unvernünftig er sich verhielt. Und das nicht nur, weil er sich vor zwei Stunden mit dem Thema „Senioren und ihr liebes Geld“ befasst hatte. Auch unabhängig davon war es für ihn selbstverständlich, als alter Mensch größere Beträge niemals ohne Begleitung abzuheben. Aber wen hätte er mitnehmen sollen? Helga? Unmöglich! Die war erstens noch nicht eingeweiht und saß zweitens beim Friseur. Oder Frank? Um Gottes Willen! Dieses arbeitsscheue Element durfte auf keinen Fall Wind von der Höhe seiner Ersparnisse kriegen. Der würde doch glatt die Jobsuche aufgeben und ihn in Zukunft nur noch anschnorren.
Damit das Abheben des Geldes schnell und möglichst unauffällig vonstattengehen konnte, hatte Werner gestern noch die Überweisung der Summe vom Sparkonto aufs Girokonto veranlasst. Und glücklicherweise war er heute der einzige Kunde im Schalterraum gewesen, sodass er nicht befürchten musste, von Betrügern beobachtet zu werden. Er klopfte zweimal auf die Stelle, wo der Geldumschlag an seinem Herzen ruhte, und sah sich misstrauisch nach allen Seiten um. Aber auch hier drohte keine Gefahr, der Platz vor der Sparkasse war menschenleer. Nur eine junge Frau in Motorradkleidung stand etwas abseits und rauchte. Ihre langen blonden Haare strahlten förmlich im Sonnenlicht. Das musste Kathrins Freundin sein.
„Herr Gattermann?“, fragte sie, als er zwei Schritte vor ihr stand, und trat die Zigarette aus.
„Der bin ich“, nickte er. „Und Sie sind …?“
„Julia Bienert, die Freundin Ihrer Enkelin Kathrin. Kathrin hat mir schon so viel von Ihnen erzählt. Ehrlich gesagt, hab ich Sie mir älter vorgestellt und nicht so rüstig und flott.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Haben Sie das Geld?“
Er ergriff ihre Hand. „Guten Tag erst mal. Danke, man tut, was man kann. Und wie geht‘s Kathrin?“
„Oh, soweit ganz gut.“ Julia sah ihn an. „Aber richtig super wird es ihr erst gehen, wenn sie den blöden Makler bezahlen und das Modestudio eröffnen kann.“ Sie schaute auf die Uhr und zog die Stirn in Falten. „Ich würde ja gern noch einen Kaffee mit Ihnen trinken und ein bisschen plaudern, aber ich muss jetzt wirklich los. Noch so einen Stau wie vorhin und Kathrins Träume sind ausgeträumt.“
„Um Gottes willen, bloß das nicht!“ Werner holte eilig das Kuvert aus der Brusttasche, reichte es Julia und sah ihr dabei prüfend in die Augen. „Ich kann mich doch hundertprozentig auf Sie verlassen, oder? Mit so viel Geld unterwegs zu sein, ist nicht ganz ohne. Bis Berlin ist es schließlich kein Katzensprung.“
„Keine Angst, ich pass‘ schon auf mich auf. Und auf das Geld natürlich auch!“ Julia öffnete den Reißverschluss ihrer Motorradkluft und stopfte sich den Umschlag unters T-Shirt ins Dekolleté. „Hier ist es vor unbefugtem Zugriff absolut sicher“, sagte sie und lächelte ihn an.
Strammes Mädel, dachte Werner. Sehr hübsch. Und dieses Lächeln, einfach bezaubernd. Es wird schon alles gutgehen. Er folgte ihr zum Motorrad, das seinem Wagen fast gegenüber geparkt war.
„Na dann“, sagte Werner und reichte ihr die Hand, „kommen Sie pünktlich und heil in Berlin an. Und grüßen Sie Kathrin von mir.“
„Ach, Herr Gattermann“, rief Julia, während sie den Motorradhelm wieder abnahm, den sie sich gerade erst übergestülpt hatte. Sie schüttelte die blonde Mähne und schlug sich die flache Hand vor die Stirn: „Jetzt hätte ich es doch beinahe vergessen. Ich soll Ihnen natürlich von Kathrin vielen herzlichen Dank sagen. Sobald sie Zeit hat, will sie ihren lieben Opi besuchen und ihn persönlich drücken und küssen. Für heute müssen Sie mit mir vorliebnehmen.“ Sie legte den Arm um Werners Hals, drückte ihn fest an sich, sodass er nicht nur ihre Brüste, sondern auch das Geldbündel spüren konnte und küsste ihn schmatzend auf beide Wangen.
Puuuh, dachte Werner, als er zu seinem Wagen ging, ist zwar sympathisch und sieht klasse aus, stinkt jedoch mächtig nach Zigarettenqualm. Genau wie mein vermaledeiter Schwiegersohn.
Plötzlich drehte er sich noch einmal um und rief Julia zu: „Kathrin soll mich anrufen, wenn alles geklappt hat!“ In dem Moment streifte sein Blick ihr Nummernschild. Aber … wieso hatte das … ein ortstypisches und kein … Berliner Kennzeichen? Julia wohnte doch in Berlin und nicht in diesem Kaff hier. Wie hätte sie sonst Kathrin kennenlernen sollen? Hier war doch was faul! Werner lief zu Julia zurück, die bereits auf dem Motorrad saß und es gerade startete.
„Ist noch was?“, rief sie, als er neben ihr stand.
„Nur eine Kleinigkeit: Würden Sie bitte noch mal absteigen und mir Ihren Ausweis oder Führerschein zeigen?“
„Hab ich etwa falsch geparkt?“ Julia wurde blass, dann lachte sie: „Aaah, verstehe: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! Na ja, bei so viel Geld auch logisch. Warten Sie …“ Doch anstatt abzusteigen und ihre Papiere zu zücken, gab sie Gas und brauste davon.
Werner eilte außer sich vor Entsetzen zu seinem Wagen, warf sich hinters Steuer und ließ den Motor an. Instinktiv tastete er nach dem Blaulicht, griff jedoch ins Leere. Zum Teufel, er war doch längst „a. D.“ und saß nicht im Polizeiauto! Egal, er musste die flüchtige Julia einholen. Werner schaltete in kurzen Intervallen höher und jagte ihr schließlich im vierten Gang hinterher. Plötzlich bog sie nach links in eine Fußgängergasse ein, in die Werner ihr mit dem Auto nicht folgen konnte.
„Na warte, du blonde Hexe, du trickst Werner Gattermann nicht aus! Der weiß, wo diese Gasse mündet, und da wird er dich kriegen“, schrie er, während er mit 90 Stundenkilometern durch die Stadt raste. Passanten sprangen zur Seite. Werner behielt den Fuß auf dem Gaspedal. Bei Gelb über die Kreuzung. Kein Problem. Mazda überholt, Mercedes überholt. Jetzt noch den Kleinbus …
Als die Motorradfahrerin aus der Gasse herauskam, war sie nicht mehr allein auf der Maschine. Auf dem Rücksitz saß ein Mann, der ebenfalls einen Helm aufhatte, aber keine Motorradkluft, sondern normale Straßenkleidung trug. Sie bog jedoch in die entgegengesetzte Richtung ein und rollte somit direkt auf Werner zu. Als sie aneinander vorbeirauschten, erkannte ihn Julia und gab sofort Gas. Werner bremste scharf, schleuderte wie in einem billigen Actionkrimi den Wagen herum, wobei er fast ein Müllauto rammte, und jagte dem Motorrad hinterher. Der Abstand war inzwischen schon ziemlich groß geworden. Werner fluchte. Zirka hundert Meter vor ihm musste Julia an einer roten Ampel halten.
„Gleich hab‘ ich dich, du Schlampe“, schrie er.
Noch knappe dreißig Meter … Plötzlich sprang der Mann vom Motorrad und rannte in eine Querstraße hinein. Julia startete sofort durch, obwohl die Ampel noch Rot anzeigte. Werner preschte ihr hinterher. Noch zwanzig Meter … Er sah, wie Julia auf einmal den Kopf drehte und nach hinten schaute.
„Ich bin noch daaa“, schrie er ihr zu, „und du wirst mich auch nicht mehr looos! Aber kuck lieber nach vorn, dämliche Kuh, sonst …“
Zu spät. Das Motorrad krachte in einen Radfahrer mit knallroten Kopfhörern auf den Ohren, der, ohne auf den Verkehr zu achten, die Straße kreuzte. Samt Fahrrad wurde er in die Luft geschleudert, knallte zu Boden und schlitterte über den Asphalt, bevor er reglos liegenblieb. Julia war mit der Maschine beim Aufprall auf die Seite gefallen und rutschte ebenfalls über die Straße. Fünf, acht Meter weit.
Werner riss entsetzt die Augen auf. Bremsen quietschten. Seine Bremsen. Er sprang aus dem Auto und rannte, so schnell er konnte, zur Unfallstelle.
Julia lag auf dem Rücken, der Kopf war zur Seite gedreht, das rechte Bein unter der Maschine eingeklemmt. Ein Passant sprang hinzu, hob das Motorrad von Julias Bein und schob es an den Straßenrand. Werner kniete sich neben Julia hin, rief ihren Namen, klopfte aufs Helmvisier, tastete an ihrem Hals nach dem Puls. Einmal, und noch einmal – er spürte nichts. Verdammte Scheiße, dachte er, die ist … tot. Aber die hat doch mein Geld! Und Kathrin hat keins …





