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So einen schlimmen Oktober hatten wir doch noch nie. Was ist denn jetzt auch noch mit dem Wetter los?
Heute ist ein ganz normaler Drecksmontag und ich kehre erschöpft von meiner sinnlosen Schreibertätigkeit nach Hause zurück. Immer noch regnet es aus Eimern. Ich hinterlasse eine große Pfütze im Flur und stelle meine nassen Schuhe gedemütigt an der Garderobe ab.
Scheißlaune. Das Leben ist nicht schön.
Doch Steffi empfängt mich mit einem seltsamen Glänzen in den Augen. Sie ist nicht beim Friseur gewesen und schwanger scheint sie auch nicht zu sein. Es muss etwas Größeres, etwas Bedeutenderes sein, das sie mir zu eröffnen hat.
„Koshamui“, stößt sie dann atemlos hervor und wiederholt es gleich noch mal. „Koshamui!“ Dann ist sie auch schon am Ende ihrer Kräfte und sinkt erschöpft aufs Sofa.
Asiatisch, denke ich. Ein neues Gericht beim Schnellchinesen? Ein Kampfkunstausruf?
„Die Gantenbrink hat angerufen“, stößt sie mit allerletzter Kraft hervor. „Sie hat was für uns. Setz dich! Los, setz dich, Alex!“
Also, Frau Gantenbrink hat tatsächlich angerufen und ihr mitgeteilt, dass sich da in allerallerletzter Minute etwas ergeben hätte. Kunden hätten storniert. Schlimmer Verkehrsunfall. Die fünfundachtzigjährige Großmutter der Familie wäre leider dabei draufgegangen. Noch auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben, aber die wollte auch sowieso nicht mit. Ts, ts, ts. Dennoch: Tragisch, tragisch. Die Eltern hätten komplizierte Arm- und Beinbrüche, Knochensplitterungen, Entstellungen. Das Kind bloß Schürfwunden und Blutergüsse am ganzen Körper … na, und die Omma eben tot.
Super! Was für ein verdammtes Glück! Vier Flüge frei. Und wir brauchen nur drei!
Einen Tag vor Weihnachten könnten wir also nun an Stelle dieser gebeutelten und leicht dezimierten Familie in ein Flugzeug steigen und hätten für zwei Wochen Sonne, Strand, Palmen auf der Trauminsel Ko Samui in Thailand. Steffi hat es nur falsch ausgesprochen.
Sie musste sich dann auch auf die Schnelle für ein Hotel entscheiden, was sie auch spontan gemacht hat. Na, sie wird sicherlich das richtige ausgesucht haben.
Jetzt haben wir es also tatsächlich geschafft. Nur noch ein paar Wochen in stiller Vorfreude die Schnauze halten und ab und zu mal einen bunten Reiseführer durchblättern.
Und wenn ich dann die Augen schließe und mich ganz doll konzentriere, was ich in der letzten Zeit öfter mal tue, dann höre auch ich die sanft heranrauschenden Wellen mit dem warmen Wasser des Mittelmeeres, des Pazifiks, der Südsee … ich weiß gar nicht genau. Ein paar giftige Tiere lauern auch auf mich, aber naja … kann man vernachlässigen.
Und den Strand sehe ich ganz deutlich vor mir. Ja. Endlos weit und weiß, Palmen, Hütten, freundliche Eingeborene, die uns leckere Früchte und Kokosnüsse anbieten, ohne allzu viel Geld dafür haben zu wollen. Fröhliche Fischer, die ihren bunt schillernden Fang frisch und zappelnd an die Strandrestaurants verkaufen. Gleich werden wir in einem dieser Restaurants sitzen und eine dieser herrlichen Kostbarkeiten verspeisen, während unser Junge friedlich im Sand spielt und Muscheln nach Größe und Farbe sortiert.
Naja, vielleicht hat er aber auch seinen Game Boy vor der Nase und sitzt irgendwo im Schatten, weil es ihm viel zu heiß ist. Egal, es ist so schön …
Wir werden also Urlaub machen!
24.12. Ko Samui - erster Tach: Pelledei Lock Lissoh
(Paradise Rock Resort)
„WÄLLKAMM TO THAILÄNN! WÄLLKAMM TO THAILÄNN!“
Da. Ich kann sie sehen! Mitten im stürmischen Meer der hilflos herumtreibenden Touristen und anderer Gestrandeter, die alle wie wir aus der Ankunftshalle des fernen Flughafens im Paradies geschwemmt werden, entdecke ich sie als Erster. Die thailändische Außendienstmitarbeiterin von Töffte Reisen. Sie ist ganz klein und man sieht sie nur, weil sie die leuchtend rote Pappe mit der typischen, markanten Aufschrift „Töffte Reisen“ ganz hochhält. Und die kleine Frau selbst kann man nur sehen, weil sie ab und zu einen lustigen Hüpfer macht, um ihrerseits auch mal über das wogende Meer der erschöpften Touris gucken zu können. Wie eine rote, auf den Wellen hüpfende Rettungsboje in ganz schwerer See.
Aber sie ist da. Nur für uns. Wir sind angekommen.
Es ist unerträglich heiß für uns arme Menschen, die direkt aus dem deutschen Winter kommen – und es regnet in Strömen. Wie zu Hause.
Nein, falsch. Völlig falsch. Es regnet nicht, sondern ein tropischer Wasserfall ergießt sich aus einer Milliarde Himmelseimern prasselnd auf das Dach des offenen, im lockeren rustikalen Urwaldstil erbauten Ankunftsgebäudes und macht die Verständigung schwierig.
„DA!“, brülle ich meinen Leuten durch das Unwetter zu.
„WAAAS?“, Steffi ist nach dem langen Flug etwas gereizt.
„ACH, EINFACH MITKOMMEN!“ Ich bin auch nicht mehr derselbe. Ja, ja, der Urlaub macht sich schon bemerkbar.
Ganz unauffällig und in der Hoffnung, dass vor allem Steffi es nicht bemerkt, ziehe ich kurz mein Handy aus der Hosentasche und schalte es an. Es dauert eine Weile, aber dann meldet sich das kleine Wunderwerk mit voller Beleuchtung und fünf Ladebalken. Oh, ich muss sparsam sein. Und als ich es direkt wieder ausschalten will, da klingelt es doch tatsächlich. „Tätäätätäätätäätätää!“ Erschrocken drehe ich mich nach Steffi um, aber sie hat in dem allgemeinen Lärm nichts gehört. Also gehe ich eben dran. Es ist Ulli. Mein lieber Kollege aus der Redaktion unserer Zeitung im fernen Sauerland.
„Ja?“
„Hömma, Don Camillo, … pchch … halt dich fest …“, quäkt das Handy mit Ulli drin schon los.
„Ich bin nicht …“
„Ja, halt ma die Klappe, Don … pchch …, ich muss dir wat … pchch … erzählen, … pchch … glaubsses nich’.“
Schlimme Störungen.
Tja, da hat der Ulli sich wohl verwählt und denkt, ich sei Don Camillo. Don Camillo, müssen Sie wissen, ist mein Partner und der Herr der Finanzen unserer kleinen Zeitung. Heinz-Josef Camillo Montebello heißt er mit ganzem Namen. Sein Vater war Italiener. Bei uns heißt er natürlich nur Don Camillo. Bietet sich ja an.
“Der Blömecke“, krächzt das Handy weiter … pchch … Großkotz Schlüter … pchch … Riesensauerei … pch … pch …“
„Ulli, ich bin’s, Alex, was ist da los?“
„Alex?“, fragt das Handy erschrocken. „Scheiße!“
Und dann ist die Verbindung tot. Was wollte er denn da so Wichtiges an Don Camillo berichten. Blömecke, Schlüter, Riesensauerei? Ich muss ihn unbedingt sofort noch mal zurückrufen.
Aber da steht Steffi schon direkt neben mir und hat diesen Blick drauf, der Telefongespräche momentan nicht duldet.
„Abschalten! Urlaub!“, sagt sie nur und das reicht dann auch schon. Ich schalte es also schnell wieder aus und lasse es mit unschuldigen Gesicht wieder in die Tasche flutschen. Später.
Jetzt nähern wir uns erst mal voller Hoffnung und völlig erschöpft dieser so sympathisch lächelnden, hübschen, kleinen Person mit all unseren Habseligkeiten, die wir mit viel Fantasie und Mühe auf zwei quietschenden Gepäckkarren untergebracht haben, und sehen sie leer und kraftlos an.
Hilf uns! Erbarme dich unser!
„Ah ju Missa änn Missi Leichenhalle?“, fragt sie uns mit einer recht hohen, leicht kieksigen Stimme, die sich an einem sehr gewagten Englisch versucht.
Leichenhalle? Nein. Das sind wir nicht. Das ist ja gruselig.
„Ah JU Missa änn Missi Leichenhalle?“, versucht die kleine rote Bojenfrau es weiter und wendet sich jetzt an ein älteres, etwas verkrampft und irgendwie unzufrieden wirkendes Paar. Bayern, wie wir schon vorher an ihrem niedlichen Dialekt eindeutig erkannt haben.
„Schorsch, jetzt moch holt! Du Hirsch, du dammischer!“
Die Reise hat auch bei ihnen ihre Spuren hinterlassen, und sie scheinen jetzt schon alles zu bereuen. Beim Aussteigen haben sie ein gehöriges Tempo vorgelegt, das ich den beiden in ihrem Alter gar nicht mehr zugetraut hätte. Sie wollen wohl auf jeden Fall die ersten sein, die hier in die trügerische Freiheit des Flughafens von Ko Samui entlassen werden, haben es aber leider nicht ganz geschafft, obwohl die stämmige Frau ihren Gatten durch kasernenhofähnliche Anfeuerungen immer wieder zu Höchstleistungen angetrieben hat.
Aber unsere Koffer waren einfach schneller. Sie waren nur Zweite. Ätsch. Die Bayern müssen nicht immer gewinnen. Und jetzt steht dieser unzufriedene, gebeutelte, bayrische Mann mit seiner noch unzufriedeneren Gattin direkt neben uns, und sie klammern sich, schon sichtlich geschwächt, an die rettende Boje, um nicht doch noch in letzter Minute abzusaufen.
„Jetzt sog halt wos!“, sagt sie.
Und er sagt dann artig: „Na. Des san mir a net! Mir hoaß’n Reichenhaller!“, mit der letzten verbliebenen Würde.
„Yes, Leichenhalle“, sagte die freundliche, mandeläugige Boje und zeigt auf ihre zerknitterten Papiere, die sie fröhlich in der linken Hand schwenkt. „Here look, Lei-chen-hal-le, two Pörssen.“
Der wuchtige Bayernmann wirkt zunächst verwirrt und wischt sich den strömenden Schweiß von der breiten Stirn, aber nach so einer Tortur von Flug scheint er mit jedem Namen einverstanden. Also nimmt er den neuen Namen, nach kurzer, demütigender Rücksprache mit seiner Gattin, an und die beiden setzen sich erschöpft und dankbar in die Richtung in Bewegung, in die die freundliche Rettungsboje zeigt. Frau Leichenhalle allerdings nicht, ohne sich noch mal demonstrativ nach uns umzudrehen und dann mit triumphierenden Blicken zum wartenden Bus zu schippern. Die Bayern sind wieder vorne.
Doch wo sind wir?
Wir haben schließlich auch einen Namen und einen Anspruch darauf, jetzt endlich erlöst zu werden aus der Hölle unserer vor über zwanzig Stunden begonnenen Traumreise, alle Zwischenstopps und Verspätungen mitgerechnet. Der angekündigte Abflug in Düsseldorf sollte zwar erst um die sehr moderate Zeit von elf Uhr fünfundvierzig stattfinden, aber wir mussten natürlich trotzdem schon in unmenschlicher Frühe aufstehen, um den fernen Flughafen zu erreichen, weil das Sauerland ja schließlich nicht direkt zu Düsseldorf gehört. Außerdem mussten wir noch mal und noch mal überprüfen, ob wir denn auch wirklich alles dabei haben.
Unser Tag begann praktisch gegen sechs Uhr heute Morgen, nein, das war ja schon gestern. Wir haben ja Zeit und Raum über-wunden, sämtliche physikalischen Gesetze außer Kraft gesetzt und sind ja gewissermaßen in die Zukunft geflogen. Wir erleben ja jetzt hier, weit im Osten, eine Zeit, die in unserem alten, kalten, nassen Deutschland erst in sechs Stunden stattfinden soll. Da blickt man kaum noch durch.
Ich denke kurz an meine Kollegen in der Redaktion, wo es gestern sicher noch eine kleine Weihnachtsfeier gegeben hat. Vielleicht ist die Feier ja auch noch gar nicht vorbei. Im sauerländischen Leckede-Hintersten ist es ja jetzt erst sechs Uhr morgens, und vielleicht hat man ohne den ätzenden Chef einfach mal etwas länger und ausgiebiger gefeiert. Gut möglich.
Ich habe vor dem Abflug noch mal in der Redaktion angerufen und mit Don Camillo gesprochen, um ihm zu sagen, dass es eben jetzt mal zwei Wochen ohne mich gehen müsse.
„Ja, ja“, hat er nur gesagt, „dat geht schon.“ Und weil er im Sauerland geboren ist, sagt er noch: „Getz ärholsse dich ärsma, wo.“ ‚Wo‘, ganz kurz gesprochen, ist eine der durchaus gebräuchlichen Sonderformen von ‚woll‘. Ich kann mir vorstellen, dass er dabei vor den Kollegen eine alberne Fratze gezogen hat. Die sind so froh, dass sie mich endlich für eine ganze Weile los sind.
Don Camillo und ich verstehen uns prima, aber auch er hat mir dringend zum Urlaub geraten.
Naja. Jetzt bin ich ja weg.
Und wir sind dann heute … also gestern, ach egal, alle ganz früh wach gewesen und haben uns in den Zug nach Düsseldorf gesetzt. Das Auto sollte zu Hause bleiben. Ganz stressfrei dieses Mal. Und im Zug haben wir dann sogar noch ein wenig schlafen können.
Wir sind dann in das Taxi gestiegen, das uns zum Flughafen bringen sollte und konnten immer noch nicht recht glauben, dass wir wirklich in den Urlaub fuhren. Noch waren wir ja auch in Düsseldorf. Und als wir dann noch mal unser Gepäck ansahen, das wir da soeben hinten im Kofferraum des beigen Mercedesbusses verstaut hatten, konnten wir auch nicht glauben, dass das wirklich alles war. Es kann eigentlich nicht sein, dass man mit vier Schrankkoffern und sechs großen Taschen und Beuteln als Handgepäck vierzehn Tage im Paradies überleben kann. Wir mussten was vergessen haben.
„Abgeschlossen?“, eröffnete meine liebe Steffi dann im Taxi ein spannendes Match, und ich konterte gelassen per Rückhand mit „Jou!“
Die nächste Ballangabe hieß dann „Gas aus?“
Ich parierte wieder locker mit „Jou!“
„Heizung runter?“
„Jou!“
„Pässe?“
„Jou!“
„Kreditkarten?“
„Jou?“
„Sonnenbrille?“
„Jou!“
„Badehose?“
„Jou!“
Dann ging es immer weiter ins Detail und verlor sich irgendwann im Unwichtigen wie zum Beispiel „Schwarze Socken?“. Darauf antwortete ich dann gar nicht mehr, während der Taxifahrer schon seit einigen Minuten auf den Befehl „Umdrehen!“ zu warten schien und mich unsicher von der Seite anschielte.
Dafür dachte ich mir dann aber selbst eine Frage aus dem „Checked-Roger-Over-Peep-Pilotenspiel“ aus, die heute Morgen (oder eben gestern) „BÜGELEISEN?“ lautete.
Damit hatte ich sie. Ha! Spiel, Satz und Sieg.
Meine liebe Steffi hatte nämlich am Morgen, also eigentlich ja mitten in der Nacht – sie ist dafür schon um halb vier aufgestanden, weil sie sowieso nicht schlafen konnte – noch ihr kleines Schwarzes gebügelt, weil sie angeblich davon geträumt hat, mit mir auf einer besonders schicken Party im Paradies zu sein mit lauter berühmten und bekannten Leuten. Und als Sky Dumont sie dann fragte, ob er ihr einen scharfen Sex-on-the-Beach anbieten oder auch nur einen gewöhnlichen Banana-Cocktail von der Bar mitbringen dürfe, da bemerkte sie, dass sie nichts anhatte. Nichts. Sie war nackt. SIE HATTE EBEN NICHTS AN-ZU-ZIE-HEN!, wie sie ja auch selbst immer sagte. Auch wenn ich immer sagte: „Wozu willst du das denn mitnehmen, das brauchst du doch nie!“. Aber da haben wir den Beweis: Für diese schicke Party mit Sky Dumont hatte sie eben nichts. Gar nichts.
Also bügelte sie mitten in der Nacht.
Ich hatte sie! Mit „Bügeleisen?“ hatte sie nicht gerechnet. Ohrenbetäubende minutenlange Stille aus dem Halbdunkel des dem Flughafen entgegenrasenden Mercedes-Rücksitzes. Entsetztes, endloses Schweigen, schockgeweitete Augen. Der Taxifahrer verminderte dann auch schon mal prophylaktisch die Geschwindigkeit, wir fuhren plötzlich fast nur noch Schritttempo, und immer wieder schaute er lauernd und abwartend zu mir herüber.
„Bü-gel-ei-sen“, quälte meine arme Steffi sich hinter mir. „Bü-gel-ei-sen … verdammt.“
Natürlich war das Bügeleisen aus. Ich hatte es extra noch mal überprüft, weil es ihr schon einmal, ein einziges, dummes Mal passiert war, es nicht auszuschalten. Zum Glück fuhren wir da nicht gerade ans andere Ende der Welt in den Urlaub, sondern nur zu Tante Hedi ins Bergische, und konnten also locker umdrehen und die Katastrophe verhindern.
Ich ließ meine Steffi aber boshafterweise noch ein wenig zappeln. Das war fies. Ja. Vielleicht lag es an der allgemeinen Erregung, am so genannten Reisefieber … ich will es auch nie wieder tun.
Der Taxifahrer wurde noch langsamer und einige Fahrzeuge rasten böse hupend an uns vorbei … nein, ich konnte nicht riskieren, dass wir deswegen zu spät zum Flughafen kamen, also sagte ich schließlich: „Bügeleisen ist aus, mein Schatz. Ich hab selbst nachgesehn.“
„Oh, du mieser Kerl, und es WAR auch aus. Ich HATTE es ausgeschaltet. Das WEIß ich doch!“ Steffi war echt sauer.
„Nein, du weißt es eben NICHT, sonst hättest du jetzt ja nicht so lange überlegt, OB es aus ist. Du warst dir nicht sicher.“
Das hätte ich wohl besser nicht sagen sollen, ich alter Klugscheißer, denn jetzt war sie auch noch beleidigt, aber ich kann es ja auch nicht lassen. Sie drehte sich demonstrativ zur Seite und kümmerte sich dann intensivst um Max, der seit gestern Abend etwas Temperatur hatte. Ausgerechnet. Um mich kümmerte die liebe Steffi sich erst mal gar nicht mehr. So, das hatte ich davon.
„Weiter!“, sagte ich kurz ab zum Taxifahrer, und der gab achselzuckend wieder richtig Gas Richtung Flughafen. Ich meine auch, ein leichtes Kopfschütteln bemerkt zu haben. Unverschämter Kerl.
Und da fiel es mir ein.
Ich hatte gestern noch lange danach gesucht, aber dann hatte ich es aufgegeben und irgendwie auch vergessen. ICH habe etwas vergessen. Ich habe kein Ladegerät für mein Handy! Verdammt. Das ist schlimm! Zwei Wochen ohne Verbindung mit der richtigen Welt? Zwei Wochen, ohne mit der Redaktion zu telefonieren? Das geht ja gar nicht. Naja, die werden sicher im Hotel ein passendes Ladekabel für mich haben. Sicher. Ist ja schließlich ’n Traumhotel!
„Wott jo nehm?“, fragt mich jetzt die kleine, rote, rettende Boje auf dem Ko-Samui-Flughafen und sieht uns sehr freundlich lächelnd dabei an.
Wott jo nehm? Man muss sich erst mal an diese extravagante und selbstbewusste Art gewöhnen, so locker mit der englischen Sprache umzugehen. „Wott jo nehm?“ kann eigentlich nur heißen „What’s your name?“, kombiniere ich messerscharf, während wir uns zum wiederholten Male den Schweiß abwischen und die am Leib klebenden Kleider lösen, um wenigstens etwas von der zwar heißen, aber immerhin ventilatorisch gequirlten Luft an die nach Kühlung schreiende, schwitzende, schon Blasen werfende Haut kommen zu lassen.
„Our name is Knippschild“, sage ich freundlich, sehr deutlich und überaus bestimmt zu der netten Boje und denke, dass damit endlich Fahrt in die verfahrene Angelegenheit kommen müsste, wir erkannt und gescannt werden vom allmächtigen Urlaubsmoloch und wieder wie richtige Urlauber überhaupt existieren.
Doch damit liege ich leider falsch. Die kleine freundliche Boje findet unseren Namen leider nicht auf ihrer zerknitterten Liste, sieht uns aber trotzdem weiter freundlich an. Wahrscheinlich wird sie uns gleich mit demselben freundlichen Gesicht wieder zurück nach Deutschland schicken.
„Missa and Missi Lotze?“, fragt die kleine freundliche Frau stattdessen und blickt geduldig abwartend in die Runde. Lotze? Wenn ich die bis jetzt gelernten thailändischen Eigenarten bei der Aussprache auf diesen Namen anwende, dann ist ein deutsches ’R’ so was wie ein thailändisches ’L’, und das gesuchte Ehepaar hieße dann also … Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Vielleicht hießen sie ja doch Lotze. Hoffentlich.
„Missa and Missi Lotze?“ wiederholt sie, und der ganz sympathisch wirkende baumlange Mann von Reihe vierzehn nähert sich jetzt etwas unsicher und zögerlich der winzigen Bojenfrau. Sie blickt nach ganz oben zu ihm auf und ruft ihm noch mal versuchsweise ein freundliches „Lotze?“ zu.
Ich lächele dem Großen aufmunternd, aber auch etwas neidisch zu. Scheinbar ist er schon dran.
Er murmelt irgendwas, reicht der kleinen thailändischen Töffte-Frau einen Zettel runter, sie liest ihn, vergleicht, und reicht ihn dann nach oben zurück. Und dann nickt der lange Mann. Er scheint mit seinem Namen einverstanden zu sein, winkt seiner eigenen netten, normalwüchsigen Frau, und die beiden ziehen überglücklich, aber erschöpft Richtung Bus. Die haben’s schon mal geschafft.
Steffi sieht mich vorwurfsvoll an, als ob es jetzt an mir läge, dass hier nichts passiert, weil ich die Lage nicht im Griff habe, weil ich nicht mal einer kleinen, freundlichen thailändischen Frau, die uns offensichtlich nichts Böses will, klarmachen kann, wer wir sind und dass wir ein verdammtes Recht auf diesen Urlaub haben, den wir uns so schwer verdient haben.
„Papa, jetzt mach mal!“, ruft da auch noch der schwerkranke Max von seinem Kofferthron herunter, auf dem er seit einiger Zeit sitzt und heftig schwitzt.
Bitte, liebe Trägerin des roten Sonnen-Abzeichens von Töffte-Reisen, schick uns nicht wieder weg. Vertreibe uns nicht aus dem Paradies, in dem wir ja gerade erst angekommen sind. Lass uns hier im gelobten Land unseren verdienten Urlaub machen, bitte. Nur zwei Wochen! Tu es für mich und meine Familie.
Inzwischen wanken mehr und mehr Mitreisende mit neuen fantastischen Namen ermattet, aber glücklich an uns vorbei, immer in die Richtung, in die die Boje sie schickt.
Alle haben jetzt einen Namen, alle haben bald ein Zuhause für die nächsten zwei Wochen. Sie können jetzt Urlaub machen, sie sind alle erfasst von der unbestechlichen Urlaubsmaschinerie. Sie sind endlich eingerastet ins Räderwerk des allmächtigen Pauschaltourismus. Die Glücklichen.
Ich probiere es also noch mal mit leicht veränderter, versuchsweise frei ans Thailändische angepasster Aussprache unseres Namens und sage: „Knippssild“.
Nein, auch „Knippssild“ kommt in der Liste unserer freundlichen Betreuerin nicht vor.
„K-anippessilll!“ Zweiter Versuch.
Nein. Freundliches Kopfschütteln.
Was kann man noch machen? „Kniiipp…“. Nein. Mir fällt nichts mehr ein, aber die freundliche Frau findet keine Gnade. Es gibt uns einfach nicht.
„Zeig ihr endlich unsere Zettel!“, ruft Steffi mir zu. Sie sitzt inzwischen zusammengesunken und ohne Hoffnung auf unserem gigantischen Kofferensemble und macht einen erbärmlichen Eindruck. Max ist eingeschlafen.
Die Zettel! Ja, warum eigentlich nicht. Manchmal haben Frauen ja ganz gute, bestechend einfache und praktische Ideen. Ich wühle also in der kleinen, schwarzen Tasche herum, die ich mir als Dokumentenmappe auserkoren habe, und die auch nur ich tragen darf, der ich darüber wache, dass auch alles zusammenbleibt. Ich finde endlich unsere Zettel, die Urlaubsberechtigungsscheine, unter Kennern auch „Wautschers“ genannt, und zeige sie der kleinen, roten Frau. Hier ist ja schließlich unser Name klar und deutlich in Druckschrift zu lesen. Hier kann man sehen, wer wir sind, was wir eigentlich hier wollen, wohin, wie lange und warum, und so.
Sie sieht die Wautschers interessiert an, blättert wichtig darin herum und löst dann das Rätsel um unseren Namen ganz einfach und in Sekundenschnelle mit einem freundlichen „NIPSI!“
Na, bitte, es geht doch.
Von mir aus!
Wir sind jetzt die Familie Nipsi aus Germany und freuen uns mächtig über unseren neuen Namen. Wir haben es geschafft. Wir sind durch! Endlich, endlich gilt jetzt auch für uns die befreiende Handbewegung zum Haltepunkt des Busses und ich trommele fröhlich, aber erschöpft meine kleine Familie Nipsi zusammen.
Die gesamte Mannschaft der anderen Getriebenen ist schon längst vollständig in einem silbernen Toyota-Kleinbus älteren Baujahrs versammelt, und vorwurfsvolle Blicke treffen die Familie Nipsi, die noch nicht mal ihren richtigen Namen kennt und damit den Beginn des ganzen Urlaubsvergnügens unfairerweise erheblich verzögert. Nur Herr Lotze-oder-so lächelt uns verständnisvoll an. Kann ja passieren. Er muss ein wenig seinen Kopf einziehen, denn der Bus ist nicht für mitteleuropäische Scheinriesen ausgelegt.
Ich lächele achselzuckend zurück und dann verteilen wir uns mit auf die restlichen engen Sitze. Ich komme neben einem schwitzenden, ganz dicken Menschen zu sitzen, der schon kaltlächelnd die Oberherrschaft über die Mittellehne gewonnen hat und auch nicht bereit ist, diese Macht zu teilen. Und ich bin zu schwach, um darum zu kämpfen.
Und so rattern wir in diesem stark klimatisierten, das heißt eigentlich kühlschrankmäßig tiefgefrosteten Toyota-Bus dahin. Alle zittern, Max niest, und wir alle hoffen, dass diese Tour nur sehr kurz sein wird.
Das wird sie aber nicht.
Die ersten beiden Aussteiger haben es richtig gut. Jedenfalls denken wir das zuerst, denn schon nach etwa fünf Minuten Fahrt wirft man das Pärchen aus Dresden an ihrem Hotel raus. „Lägünä Lötsch“, davon haben sie schon die ganze Zeit geschwärmt und sich kindlich darauf gefreut.
Es ist ein fünfstöckiger, furchterregender gelber Kasten direkt an der belebten Hauptstraße und in der Einflugschneise des Flughafens. Also sehr verkehrsgünstig gelegen, wie die bunten Urlaubsprospekte so was ja immer gerne anpreisen. Ich frage mich ängstlich, wer sich diesen verheißungsvollen Namen für den grauenhaften Siebziger-Jahre-Bunker ausdenken durfte – und wie er damit auch noch durchgekommen ist. Laguna Lodge. Sagenhaft.