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Wir sind überglücklich, dass der Toyota uns noch nicht ausspuckt und wir weiterrattern dürfen und schnattern dafür auch gerne noch ein wenig länger. Als wir zurückblicken und die beiden armen Dresdner im erbarmungslosen Tropenregen inmitten ihrer zahlreichen, neuen, roten Hartschalenkoffer stehen sehen, tun sie uns unendlich leid.
Ich müsste dringend noch mal Ulli zurückrufen. Der verwählte Anruf von ihm hat mir doch zu denken gegeben. Irgendwas scheint da zu passieren im Sauerland. Riesensauerei, hat er gesagt. Aber ich komme jetzt nicht an das Handy dran, weil Steffi mich leicht säuerlich anlächelt. Aber immerhin lächelt sie schon wieder und das sollte man nicht aufs Spiel setzen.
Der Toyota pflügt sich seinen Weg durch Wasserlachen, die in etwa die Größe unserer heimischen Talsperren haben, und man denkt bei jeder neuen Stauanlage, dass der Wagen unweigerlich darin versinken müsse.
Ein paarmal gibt Max ein fassungsloses „Boah!“ ab, dann zittert er wieder. Der heutige Regenguss ist wohl keineswegs der erste oder gar einzige der Wintersaison auf dieser schönen Insel. Regen scheint hier wohl eher typisch zu sein. Wo kommt das ganze Wasser her? Was haben dieses Land und seine Menschen verbrochen, um so bestraft zu werden?
Der Fahrer vermindert zwar freundlicherweise ein wenig die Geschwindigkeit, wenn die Hütten der Ko-Samuianer zu dicht an der Straße und den Stauseen stehen, aber als dann nur noch Hütten dicht an der Straße stehen, da lässt es sich einfach nicht mehr vermeiden, dass auch schon mal die eine oder andere Hütte samt zunächst noch freundlich lächelnder Bewohner mit einer gewaltigen Fontäne schmutzig-brauner Regensuppe eingenässt wird. Auch einheimische Moped- und Rollerfahrer, die die riesigen Seen umsichtigerweise mit angezogenen Beinen vorsichtig durchschiffen, haben gegen unseren Fahrer keine Chance und werden erbarmungslos fontänisiert.
Land ohne Gnade.
Die Familie mit dem ewig plärrenden Blag ist jetzt endlich auch raus, als wir vor einer weiteren, überaus schäbigen Absteige anhalten, die uns allen das blanke Entsetzen ins Gesicht treibt. Den dicken schwitzenden Kerl neben mir hat es auch erwischt. Er muss raus! Alle beten, dass der Fahrer jetzt bloß nicht ihren neuen thailändischen Namen aufruft, und auch wir flehen darum, weiter im herrlich kühlen Toyota schockgefroren zu werden.
Nein. Der Name „Nipsi“ fällt nicht. Wir dürfen also weiter auf eine angemessene Unterkunft hoffen. Die Bayern und die Lotzes-oder-so sind auch noch da. Sollte das Schicksal Leichenhalle, Lotze und Nipsi füreinander bestimmt haben?
„Papa, wie lange noch?“, stöhnt Max und Steffis schöne Augen blicken mich aus leeren Höhlen an. Mein Gott.
Der Bus rattert weiter und weiter, herrliche, braune Spritzwasserfontänen nach beiden Seiten steigen lassend, und wir haben fast eine ganze Inselumrundung hinter uns, als der Toyota in eine enge Gasse abbiegt, die an der hinteren Seite mehrerer Restaurants, zwielichtiger Bars und dunkler Kaschemmen vorbeiführt. Der Fahrer bahnt sich hupend und fluchend einen Weg durch Menschen, Müll und Ruinen.
Es gießt noch immer in Strömen, ein paar unfreundliche Hunde bellen uns an, ich blicke in finstere Hinterhöfe, sehe Steffi leicht irritiert an, versuche zwar genügend Gleichgültigkeit zu verbreiten, aber ich weiß, dass auch sie sich gerade fragt, ob das Ganze vielleicht eine Falle ist, in die man uns hinterhältig gelockt hat – und ob Frau Gantenbrink vielleicht hinter all dem steckt.
Dann wird der Urwald wieder dichter, wir haben die Gasse verlassen und es wird dunkel. Richtig dunkel. Nicht nur wegen der dichten Urwaldbeblätterung, sondern auch, weil die Sonne, die wir den ganzen Tag noch nicht gesehen haben, jetzt auch schon hinter den dichten nassen Wolken langsam untergeht. Es ist inzwischen siebzehn Uhr hier in Thailand, da verabschiedet sich die Sonne eben. So ist das im Paradies!
Wir sind jetzt fast neunundzwanzig Stunden unterwegs, fast ganz ohne Schlaf …
„Laaast Christmas, I gave you my heart … „ knödelt es aus dem Toyota-Radio und ich weiß schlagartig auch wieder warum.
Heute ist Heiligabend!
Jaaaa, heute ist ja der Tag der Tage oder der Abend der Abende. Heiligabend. Ach du Scheiße!
Millionen, nein Milliarden, ach was, ALLE Menschen sitzen jetzt mit ihren Lieben unter den festlich geschmückten, glitzernden, nadeligen Grüngewächsen im Warmen, haben Tränen der Rührung in den Augen und sie trinken Glühwein oder wenigstens Tee mit Rum.
Ja, heute ist Heiligabend, und wir haben es alle vergessen – außer mir natürlich wieder mal. Wann und wie sollen wir denn jetzt die unausweichliche Bescherung machen? Heiligabend ohne Bescherung geht doch gar nicht. Na, vielleicht gleich nach unserer Ankunft im „Paradise Rock Resort“. Da müsste es doch gehen, da werden wir es uns dann noch so richtig feierlich gestalten. Ganz sicher. Max hat zum Glück noch gar nicht bemerkt, welchen besonderen Tag wir da gerade in einem eisgekühlten Toyota Kleinbus am Ende der Welt vertrödeln.
Und dann bleibt der Wagen einfach stehen. Nein, jetzt noch nicht. Nein. Bitte weiterfahren. Nur noch eine Stunde vielleicht, oder so. Nicht hier!
Doch es gibt kein Weiter, hier muss es sein. Wir sind da.
„Pelledei Lock Lissoh“ sagt der Fahrer, und das muss es also sein. Eindeutig.
„Paradise Rock Resort“, er hat es ja gesagt. Dann sagt er auch noch „Nipsi“, „Lotze“ und „Leichenhalle“, und damit ist unser aller Schicksal besiegelt. Wir haben es geschafft, wir sind am Ziel unserer Träume und am Ende unserer Kräfte. Dankbar, aber einer unsicheren Zukunft entgegensehend, steigen wir also aus.
Ich drücke dem Fahrer kraftlos einen Schein des neuen Geldes in die Hand, von dem ich nicht genau weiß, wie viel er eigentlich wert ist, und er bedankt sich überschwänglich. Naja, die Thais sind eben sehr höfliche und dankbare Menschen. Sie freuen sich auch über Kleinigkeiten, das habe ich schon gemerkt.
Wir sehen uns an. Glücklich? Vielleicht. Auf jeden Fall erschöpft und ergeben in unser ungewisses Schicksal. Unser Leiden soll also vorerst ein Ende haben.
Der Bayer sagt „Pfüeti!“ zu unserem Fahrer, der auch die tonnenschweren bayerischen Koffer aus dem Toyota gewuchtet hat, und gibt ihm nichts von dem neuen Geld. Er will es lieber für sich behalten. Frau Leichenhalle nickt uns noch mal gehässig zu und dann verschwinden beide eilig mit ihren zwei rollenden Riesenkoffern in Richtung einer schwachen Lampe, die wohl den Eingang unserer Endstation Sehnsucht beleuchtet. Jedenfalls ist es das einzige Licht, das uns in dieser tropischen Dunkelheit etwas Hoffnung gibt. Das Ehepaar Lotze-oder-so folgt den beiden, nachdem der große Herr Lotze dem Fahrer nach langer Prüfung seines neuen ausländischen Geldbestandes einen eher rötlichen Schein heruntergereicht hat. Soso.
„Ja, dann woll’n we ma!“, sagt Herr Lotze und nickt uns noch mal freundlich zu. „Schön’ Urlaub, woll?“
Woll? Wo kommt der denn her?
Tja, da stehen wir also nun inmitten unserer Kofferberge triefend nass im warmen Regen und heulen fast.
„Sah in dem Prospekt aber ganz anders aus“, sagt Steffi schlecht gelaunt, schwer enttäuscht und am Ende ihrer Kräfte.
„Naja, man sieht ja fast nichts“, versuche ich den ersten Eindruck etwas aufzubessern.
Man sieht aber auch wirklich kaum etwas. Ich kann neben den Mülltonnen, aus denen eine magere Katze gerade etwas schleimig Gelbliches zieht und damit verschwindet, den Eingang zu einer Küche entdecken, in der offensichtlich irgendeine Art von menschlichem Leben auszumachen ist. Man hört Stimmen und das Klappern von Geschirr. Ich verschweige Steffi aber, dass ich auch sehe, wie da gerade ein haariges Tier, größer als eine Maus, kleiner als eine Katze aus der offenen Küchentür in die schwarze Dschungelnacht hinausflüchtet. Vielleicht habe ich gerade eine neue Tierart entdeckt.
Hinter uns lässt sich die Einfahrt zu einer Art Autowerkstatt oder auch Autofriedhof erkennen. Ein leichter Öl- und Dieselgeruch mischt sich mit dem schweren Aroma des Urwalds. Ein Hund bellt, aber sonst sieht man keine Menschenseele. Es scheint das wahre Ende der Welt zu sein, und so weit sind wir ja schließlich auch gefahren. Nur dass es dann da wirklich auch so aussieht, wie man sich das Ende der Welt immer vorstellt, das hätten wir nicht gedacht.
Der Urwald um uns herum fabriziert eine Menge exotischer und unheimlicher, nie gehörter Geräusche, und ein tropischer Vogel sitzt irgendwo über uns und macht: „Ts, ts, ts“, als wolle er uns einen Vorwurf machen.
Ja, wem soll man jetzt einen Vorwurf machen? Uns selbst, weil wir unbedingt und sofort Urlaub haben wollten und alles genommen hätten? Oder vielleicht Frau Gantenbrink vom Reisebüro Töffte, weil sie sicher wusste, wie gruselig es hier am Ende der Welt aussieht, und uns trotzdem hingeschickt hat?
Es hilft ja nichts, unsere Sachen werden nass, und da sich kein Schatten aus dem Dunkel schält, um uns irgendwas abzunehmen, ergreife ich voller Verzweiflung die Initiative und den ersten Koffer und schleppe ihn Richtung Glühbirne der Hoffnung. Steffi nimmt mutlos den zweiten und auch Max kann zwei der Taschen tragen, obwohl er vor Müdigkeit fast umkippt.
In der offenen, hölzernen Urwald-Empfangshalle des „Paradise Rock Resorts“ sehen wir die Bayern schon wässerige, gelbe Getränke schlürfen. Die Lotzes sitzen erschöpft auf ihren Koffern und das Ehepaar Leichenhalle redet auf einen einzelnen verunsicherten Eingeborenen hinter der Rezeptionstheke ein. Offensichtlich sind die beiden mit ihrem Zimmer nicht zufrieden, das sie noch gar nicht gesehen haben. Superior Double Deluxe Beachview Senator Suite, also SupDoubDelBeSeSui, hätten sie schließlich bestellt und keinen einfachen popeligen SupHiBung, also Superior Hillside Bungalow, ohne Senator und Deluxe und Suite und so weiter. Frau Leichenhalle macht einen Riesenaufstand deswegen. Ihr Mann wäre vielleicht sogar mit SupHiBung einverstanden. Dem ist heute alles egal.
Ich mische mich vorsichtig in das Gespräch ein und bedränge meinerseits den Eingeborenen mit der vorsichtigen Frage, ob denn noch mit jemandem zu rechnen sei, der sich auch um uns Gestrandete kümmern und uns zum Beispiel bei den Koffern helfen könne.
„Wann Minnit, pliess!“, sagt der thailändische junge Mann lächelnd zu mir und widmet sich erst mal wieder den aufständischen Bayern.
Steffi sieht mich an und knurrt böse. Tja, bevor die Koffer ganz durchgeweicht sind und wir auch die nächsten Tage keinen trockenen Faden am Leib haben, gehe ich also wieder hinaus in die tropische Katastrophe und rette so viele Koffer wie möglich, während Steffi sich um Max kümmert, der inzwischen fest eingeschlafen ist und zwischendurch ein paarmal heftig niest und, verdammt noch mal, immer noch Temperatur hat.
Ermattet sinke ich nach dem letzten Koffertransfer in einen der aufgestellten Korbsessel, stiere glasig in das Prasseln des gnadenlosen Regens hinaus, schütte den wässrigen Orangensaft, den eine plötzlich aus dem unheimlichen Nichts doch noch aufgetauchte, lächelnde thailändische Fee mir reicht, in mich hinein wie ein Verdurstender, sehe meine arme, kleine Familie traurig an, weil ich es so endlos bereue, sie in eine solch bedauernswerte Lage gebracht zu haben, und mache mich ergeben an das Ausfüllen der Anmeldeformulare.
Das Ehepaar Leichenhalle ist verschwunden. Die Lotzes auch.
Dann warten wir nur noch etwa fünfzehn Minuten auf das Ausstellen der „Bläckfäss-Kuhponns“, Breakfast Coupons, ohne die wir am nächsten Morgen zweifellos verhungern würden, wie man uns versichert, und als die freundliche Frau uns die Coupons mit den Worten „Wällkamm to Pelledei!“, Welcome to Paradise!, überreicht, haben wir es geschafft und sind dem Koma nahe.
Wir nehmen noch schemenhaft wahr, wie aus dem undurchdringlichen, lärmenden Grün eine hölzerne Hütte vor uns auftaucht, wie drei Betten vor uns erscheinen, ich registriere noch, wie ich automatisch in die Tasche greife, um dem Helferlein, das uns dann doch noch die Koffer hinterhergeschleift hat, einen weiteren grünen Schein in die Hand drücke, dessen Wert ich immer noch nicht kenne – und dann brechen wir kraftlos zusammen.
Es ist Heiligabend, die Matratzen sind bretthart und unser schönes Sauerland ist ganz weit weg. An den Rückruf bei Ulli habe ich auch nicht mehr gedacht.
25.12. Zweiter Tach: Well done
„Ts, ts, ts“, macht der Vorwurfsvogel. Er sitzt direkt vor meinem Fenster auf der Rückenlehne einer abgewetzten Sonnenliege und sieht mich frech und erwartungsvoll an. Ich weiß nicht, wie lange er mir schon Vorwürfe macht, bis ich endlich wach geworden bin, und ich weiß auch nicht warum, aber jetzt hat er es endlich geschafft, mich aus dem finsteren Totenreich der Langstreckenurlauber zurückzuholen. Ich sehe ihn ebenso interessiert an wie er mich. Er sieht prächtig aus, eigentlich besser als ich, ist recht groß, hat schwarzes Gefieder, das um die Beine herum weiß ist und an den Wangen fetzige, gelbe Streifen hat. Ich habe noch nicht einmal weißes Gefieder an den Beinen.
Um ihn besser zu sehen, muss ich gegen die Sonne anblinzeln. Ja, die Sonne. Es muss die Sonne sein, von der wir so lange geträumt haben. Die tropische, warme, glücklich machende Sonne. Sie blitzt durch das dichte, grüne Blätterwerk, das uns am Abend zuvor noch so unheimlich und abweisend vorkam, so als wollte der mächtige Urwald uns lästige, widerliche Eindringlinge wieder angeekelt ausspucken oder gar verschlingen. Diese Sonne entwickelt selbst durch die zerkratzten und ungeputzten Scheiben der kleinen Fenster unserer Hütte eine enorme Kraft.
Das Paradies? Haben wir es wirklich gefunden?
Max hustet im Schlaf. Er liegt in einem Bett, das quer zu unserem Doppelbett an der gegenüberliegenden Wand unserer Behausung steht. Es ist eng, winzig und schäbig hier.
Wo sind wir? Strafgefangenenlager oder tropisches Obdachlosenasyl? Der optimistische Reisekatalog hat diese Behausung als SupHiBung, Superior Hillside Bungalow, angepriesen. Hört sich doch weitaus besser an, als es aussieht.
Max’ Husten hört sich jetzt allerdings schon fast so an wie das Bellen eines Seehundes, und das ist gefährlich. Wir kennen diese bösartige Art von Husten nur zu gut von hunderten durchwachten Nächten mit heißen und kalten Umschlägen, Tröpfchen, Zäpfchen, Säftchen und Wärmfläschchen. Oh, nein, bitte nicht. Bitte, nicht jetzt, wo wir doch im Paradies sind. Dieser Husten gehört ins Sauerland.
Steffi sitzt augenblicklich aufrecht im Bett. Den frechlauten Vorwurfsvogel hat sie nicht gehört, aber ihr Kind kann sie hören, wenn es am anderen Ende der Welt hustet. Sie fühlt ihn husten. Das war schon immer so. Während ich meistens aufwendig geweckt werden musste, wenn Max in seiner früheren Kindheit solche Hustenanfälle bekam, und mir dafür oft schwere Vorhaltungen machen lassen musste, war Vogelmama Steffi immer sofort da, wenn ihr Junges sie brauchte. Er ist eben immer noch ein Teil von ihr, weil er ja mal in ihr drin war. Das Ei. Ein großes Wunder. Mein Anteil an diesem Wunder ist da wohl eher zu vernachlässigen.
Steffi springt auf und der Vorwurfsvogel verschwindet ärgerlich krächzend.
„Der arme Kerl“, sagt sie. „Jetzt kriegt er auch noch diese Pest. Ausgerechnet jetzt. Warum sag ich denn immer, er soll den obersten Knopf zumachen, wenn er rausgeht, warum sag ich denn immer, er soll mit nassen Haaren überhaupt nicht rausgehen, warum sag ich das denn alles, wenn mir sowieso keiner zuhört?“
„Ach, wird schon wieder“, sage ich, aber das ist nicht unbedingt das Richtige.
„Wird schon wieder, wird schon wieder! Was Besseres fällt dir dazu auch nie ein“, schimpft sie weiter, und ich weiß, dass ich jetzt besser erst mal eine Weile die Klappe halte. Wenn sie in diesem Zustand ist, sollte ich lieber gar keine eigene Meinung haben. Das könnte sehr gefährlich werden. Für mich, für uns, für alle. Das kann für einen Außenstehenden schon mal so aussehen, als sei der Weiterbestand der ganzen Familie Knippschild, jetzt Nipsi, in Gefahr, was natürlich niemals so ist.
Steffi wühlt auch schon wütend in ihrer mitgebrachten Apothekentasche, die allein schon fast einen der riesigen Schrankkoffer füllt, und sucht das geeignete Gegengift für diesen verdammten Urlaubsversauer.
„Mist, ich hab doch an alles gedacht, aber den hab ich doch glatt vergessen. Der dämliche Prospan-Saft steht bestimmt noch auf der Kommode im Bad. Wenn man nicht an alles denkt!“
Steffi müsste jetzt eigentlich noch sagen: „Und du denkst sowieso an nichts“, aber das sagt sie dann nicht.
Sie blickt aus dem Fenster und sieht die Sonne. Und da wird sie still und verwandelt sich augenblicklich in ein staunendes, hübsches, kleines Mädchen. Ach, ich liebe sie doch sehr. Sie sieht die Sonne, nach der wir uns schon so lange gesehnt haben, die den finsteren, alles verschlingenden Dschungel vor dem Fenster in einen prachtvollen, tropischen Garten verwandelt hat.
„Ja, schön, nä“, sage ich, während ich sie so beobachte und lächle zufrieden und ziemlich blödsinnig dahin.
„Ja, schöön.“
Max bellt wieder und wacht auf.
„Cool“, sagt er statt „Guten Morgen“, als er aus dem Fenster blickt und bellt gleich noch mal. Wir verziehen die Gesichter und zucken bei jedem Huster rhythmisch zusammen.
Max bekommt erst mal irgendeinen Saft und eine Pille, und dann sieht sich die Familie Nipsi erstmalig in ihrem neuen Asyl um, das sie ja gestern Nacht überhaupt nicht wahrgenommen hat. Und man muss schon voller Anerkennung sagen: Es sieht absolut erbärmlich aus. Klein, eng, windschief mit enormem Renovierungsstau, einem rostigen, gefährlich eiernden und ächzenden Ventilator unter der Decke und vielen, vielen Ritzen in den dünnen Bretter- und Bambuswänden, durch die man sogar ein wenig von der gewaltigen Dschungelpracht sehen kann.
Ein Gecko klebt unter der Decke und schüttelt seinen Kopf. Nein, ich glaube, es sieht nur so aus. In Wirklichkeit bewegt er sich überhaupt nicht und wartet auf Fliegen. Auf uns hat er sicher nicht gewartet.
„Sah im Prospekt auch ganz anders aus“, sagt Steffi wieder und ihre Enttäuschung ist unüberhörbar. Sie hat aber durchaus recht. So haben wir es uns nicht unbedingt vorgestellt, das „Paradise Rock Resort“ aus dem Katalog „Traumziele der Erde“ auf der Trauminsel Ko Samui. So nicht.
O-Kli, o-Minib, o-TV … kein „Comfort“, kein „Senator“, kein „Deluxe“ und kein „Suite“. Bloß ein „Superior“, nach dem wir aber später noch suchen wollen.
„Wie viele Sterne hat denn der Schuppen?“, frage ich meine liebe Frau, weil ich’s einfach nur mal so wissen will.
„Keine Sterne“, antwortet sie bedrückt.
„Wie, gar keine Sterne?“
Das kann doch nicht sein. Selbst die allerübelste Absteige hat in den Katalogen immerhin noch fünf bis sechs Sterne, allerdings in der Landeskategorie, wie es immer so schön heißt, damit auch hinterher keiner den schwarzen Peter bekommt, wenn jemand vergeblich die Sterne gesucht hat.
„Drei Töffte-Sonnen“, sagt Steffi ganz traurig, als fühle sie sich allein verantwortlich für dieses Fiasko.
„Drei Töffte-Sonnen, Donnerwetter! Das hört sich doch gut an“, versprühe ich gut gelaunt etwas Optimismus, der aber leider sofort versickert.
Aus dem Wasserhahn tropft eine braune Brühe, die kaum eine Viertelstunde braucht, um wenigstens so klar zu werden, dass man sich trauen kann, einen Finger oder – für ganz Waghalsige – sogar die ganze Hand drunterzuhalten. Rüdiger Nehberg, der große Survival-Guru, hätte sich sicher auch noch das Gesicht da-mit gewaschen, die Zähne geputzt und hinterher noch einen köstlichen Tee damit aufgesetzt. Wir tun es erst mal nicht. Wir sind noch nicht so weit.
Ich werde gleich mal an der Lobby so richtig Wind machen. Nicht mit uns, Leute! So nicht. Da muss ein anderer Bungalow her. Wir wollen einen SupZiDuTeKliMe. Mindestens. Wenn nicht gar „Senator“ oder „Deluxe“ mit Minibar, TVSat, mit ALLEM!
„NICHT auf die Zahnbürste!“, bremst Steffi im letzten Moment unseren kränklichen, schwächelnden Max aus, der sich ganz artig die Zähne putzen will.
„Nicht auf die Zahnbürste! Hier ist extra Mineralwasser dafür“, ruft sie und reicht ihm eine der Plastikflaschen, die wohl freundlicherweise eigens für diesen Zweck bereitstehen.
„Mmh.“ Missmutig und achselzuckend lässt Max es über seine Zahnbürste laufen und putzt nachlässig und ohne Kraft und rechten Eifer seine Zähne.
„Fröhliche Weihnachten!“, rufe ich effektvoll meinen Leuten zu, als sie gemeinsam aus dem Bad kommen, und weise geheimnisvoll mit den Armen rudernd und etwas albern winkend auf die Päckchen, die ich in Windeseile auf dem Bett ausgebreitet und einigermaßen weihnachtlich zu drapieren versucht habe.
„Bescheeerung!“
„Ach du Scheiße“, sagt Steffi. Das finde ich jetzt nicht sehr weihnachtlich und ich sehe sie dafür auch einigermaßen vorwurfsvoll an.
„Weihnachten. Hab ich total vergessen.“
„Geil“, sagt Max, der Weihnachten zwar auch vergessen hat, aber das wichtigste Geschenk schon längst an seiner Form ausgemacht und brutal aufgerissen hat.
„Geil, ein Advance SP!“
Damit meint er die neueste Version eines Game Boys, von der er schon lange sehr dringend schwärmt. Die anderen winzigen Päckchen enthalten vier dazu passende Editionen, wie man die Software dafür nennt, und er ist glücklich. Volltreffer.
„Und das ist für dich“, säusele ich und halte Steffi ein kleines, ehemals im fernen Leckede-Hintersten liebevoll eingepacktes, aber nach fast zehntausend Kilometern Transport hoffnungslos zerknittertes Päckchen hin.
„Ich hab nix für dich!“, empört sie sich, „ich will nix“, und weist mein Päckchen entschlossen zurück.
„Ach, Steffi, ist doch nur ’ne Kleinigkeit, mach doch kein Geschiss draus“, spiele ich die ganze Sache runter, obwohl ich es doch ein klein wenig genieße, diesmal ein Geschenk für sie zu haben, wo sie offenbar keins für mich hat, denn meistens ist es andersherum. Ich drücke ihr das Päckchen gönnerhaft in die Hand. Sie nimmt es peinlich lächelnd an und öffnet es ganz vorsichtig und umsichtig.
„Ooooch, schööön, Oooohrringe!“
„Ja, schön, nä.“
Sie gefallen ihr also. Na bitte. So einfach ist das. Kurz nachgedacht und – schwupp – das richtige Geschenk ausgewählt.
„Aber ich hab doch gar keine Löcher“, meint sie dann ganz schüchtern und auch ehrlich bedauernd, dass sie mir jetzt doch noch das tolle Geschenk vermasseln muss.
„KEINE LÖCHER?“
Ich kann es gar nicht glauben und sehe sofort erst mal nach. Stimmt. Sie hat keine Löcher in den Ohrläppchen. Ja, hat denn nicht jede Frau Löcher in den Ohren? Mmh, meine jedenfalls nicht, und ich kann mich jetzt auch sehr dunkel erinnern, dass sie mir mal erzählt hat, dass es zu Entzündungen gekommen sei und dass sie dann die Sache mit den Löchern lieber gelassen hat. Es gäbe ja schließlich auch hübsche Clips.
„Naja … aber sie gefallen dir, ja?“
„Ja, seeehr schööön“, sagt sie höflich, und dann ist das Thema Geschenke und Weihnachten erst mal durch. Ist mir auch ganz lieb so. Tja, Clips. Naja.
„Zehn vor zehn“, stoße ich dann erschrocken mit Blick auf meine Uhr hervor und wühle schon panisch in meinen Taschen auf der Suche nach den Bläckfäss-Kuhponns.
„Wo hab ich die verdammten Zettel nur hingesteckt?“
Unser Leben scheint nur noch von Zetteln bestimmt zu sein.
Und wir brauchen sie ja unbedingt, um heute, am ersten Morgen im Paradies, nicht zu verhungern. Das hatte man uns ja noch eingeschärft. Da, ich habe sie. Ganz unten in den tiefsten, bisher unerforschten Tiefen der Tausend-Taschen-Hose.
So nenne ich meine geliebte grünbraune Expeditionshose, die ich so gerne trage, weil alles reinpasst, was man braucht oder auch nicht unbedingt braucht, aber erst mal lieber noch aufheben will. Manchmal dauert es bis zu einem halben Jahr, bis verschiedene sorgfältig, ausgewählte, aufgehobene seltene und unwiederbringliche Erinnerungsstücke wie Tankquittungen, Strafzettel oder Notizzettel mit wichtigen Adressen und Telefonnummern als zusammengeklumpte Papiermasse wieder auftauchen, weil meine Steffi natürlich nie die Taschen durchforstet, bevor sie meine Sachen brutal in die Waschmaschine stopft. Ts, ts, ts.