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Die Bläckfäss-Kuhponns sind jedenfalls noch nicht zerfasert oder irgendwie beschädigt, nur leicht zerknittert, und das ist auch gut so, denn schließlich sind sie überlebenswichtig. Rüdiger Nehberg hat sicher keine.
Nur bis „tännäclock ey ämm“ gäbe es Frühstück. Auch das hat man uns gestern Abend noch eindringlich ins Koma geflüstert und außerdem steht es auch auf den Coupons drauf.
Jaja, Urlaub ist nicht einfach so rumhängen. Es gibt feste und eindeutige, ernsthafte Spielregeln, an die man sich auch halten muss. Wer mogelt, fliegt raus! Schließlich sind wir nicht zum Vergnügen hier. Der reibungslose Ablauf des durchorganisierten Urlaubsvergnügens muss einwandfrei gewährleistet sein, und wie ich das Räderwerk des Pauschalurlaubs kennengelernt habe, könnte ich mir durchaus vorstellen, dass man auch hier im Paradies keine Gnade kennt.
Also hüllen wir uns, soweit noch nicht geschehen, in weitere sommerliche Kleidungsstücke wie kurze Hose, T-Shirt und leichte Bluse.
Ach, ist das schön, endlich mal die Jacken, Unterhemden, Schals, Pullover, Wollmützen, Mäntel, Thermojacken, Moonboots … also praktisch die gesamte Antarktis-Ausrüstung und vor allem die Schirme und Gummistiefel weglassen zu können! Und so eilen wir befreit aus der knarzenden Tür unserer Armenhütte in die sonnige, tropische Freiheit.
Ist das schön hier! Alles grün und dazwischen niedliche, halb zusammengebrochene Hütten wie unsere, aus denen sich wieder ganz andere Menschen aus ganz anderen Teilen der Welt quälen und ebenfalls ohne braunes Wasser im Gesicht den Tag begrüßen wollen und offensichtlich in Richtung Frühstücks-Arena hasten. Wahrscheinlich habe ich recht und das Frühstückszeitfenster schließt exakt um zehn Uhr. Ey ämm.
„Morng!“, ruft uns jemand aus der Nachbarhütte zu. Wir drehen uns erschrocken um und sehen Herrn Lotze-oder-so freundlich übers ganze Gesicht grinsen. In der rechten Hand eine dicke qualmende Zigarre.
„Na, wie isses? Chut cheschlaf’n? Schön hoite, woll?“
Etwas irritiert antworte ich: „Morgen! Gut. Ja … und ja.“
„Iss dat nich häärlich hia? Äntlich aus’m usseligen Doitschland raus, woll?“, sagt unser Nachbar und nuckelt an seiner dicken Zigarre.
‚Woll‘, sagt der? Ich wette, er kommt ungefähr da her, wo wir
auch herkommen.
„Un so schön waam, woll!“
Noch mal ‚woll‘. Ich winke irritiert, aber einigermaßen freundlich zurück.
„Pädder, getz mach den scheiß Stumpen aus! Wir müssen los!“, höre ich da noch hinten aus der Lotze-Baracke.
„Wo sind meine Schuhe?“, fragt Max und bellt noch mal, dass wir wieder rhythmisch mitzucken. Es tut uns jedes Mal selber weh und wir sehen uns mitleidend, aber auch genervt an. Zum einen natürlich wegen des verdammten Hustens, zum anderen aber wegen der Frage. Max weiß wirklich nie, wo seine Sachen liegen, und es scheint ihm auch egal zu sein. Seine Mutter wird ihm schon alles bringen. Ich sei angeblich genauso, er hätte das von mir. Aber das ist nur Steffis unverbindliche Meinung.
„Geh ohne Schuhe“, antworte ich ihm fröhlich und aufmunternd und fühle mich schon wie der ausgemachte Naturbursche, der entschlossen ist, endlich zum wahren, einfachen Leben zurückzufinden.
„Einfach so!“
Rüdiger Nehberg.
„Baarfuuß?“, fragt er mit blankem Entsetzen in den Augen.
„Ja, das geht hier. Barfuß. Natur, verstehst du? Wie Robin Kruse. Schon mal gehört?“
Ich weiß, dass er eigentlich Crusoe und Robinson heißt, aber Kruse hießen mal unsere Nachbarn, und die haben ihren Sohn Robin genannt. Das fand ich mutig.
Wir schaffen es nur bis etwa hundert Meter vor das Frühstücksgebiet – man kann es schon sehen – als Max in einen Nagel tritt, der im Paradies eigentlich gar nicht vorkommen sollte.
„Aua, aua“, jammert er, hüpft auf einem Bein und hält den vernagelten Fuß mit schmerzverzerrtem Gesicht. „Au, verdammt, tut das weh, tut das weh.“
Ich bin kurz davor ’Stell dich nicht so an!’ zu sagen, aber ein Blick von Steffi genügt, diesen Ratschlag noch mal gründlich zu überdenken. Also wird im Handumdrehen daraus ein mürrisches „Lass mal sehen!“
Ich sehe mir fachkundig die Bescherung an und komme zu der halbwegs fundierten Meinung, dass es nur halb so schlimm sei. Der Nagel steckt ja noch nicht mal im Fuß drin. Er hat ja nur eine kleine, rote Delle hinterlassen, die in der Mitte einen winzigen Blutstropfen bildet. Wirklich winzig. Ich doziere aber trotzdem wissenschaftlich-pseudomedizinisch und absolut klugscheißerisch wie immer, dass man aber erst mal abwarten müsse, ob sich daraus eventuell eine Blutvergiftung ergeben würde. Ich kann’s eben nicht lassen. Das sähe man ja ganz einfach, indem die Vene (oder ist es die Ader?), die zum Herzen führt, nach einer Weile rot wird. Dann wäre es immer noch Zeit, etwas zu unternehmen.
„Blutvergiftung?“ – Steffi ist außer sich. Ich hätte dieses böse Wort einfach nicht benutzen sollen, es könnte mich um das heutige Frühstück gebracht haben. „‚Blutvergiftung‘, sagst du? Weißt du, was das heißt? Der Junge stirbt!“
„Jaaa, sicher … also, nein! Nein! … Es ist ja keine Blutvergiftung, es blutet ja noch nicht einmal“, versuche ich, das Unheil abzuwenden und das Frühstück zu retten. „Es ist auf jeden Fall KEINE BLUTVERGIFTUNG, Steffi, bitte, glaub mir.“
„Ach was, aber du hast ja gerade selbst gesagt, das kann man erst sehen, wenn die Vene zum Herzen rot wird. Willst du etwa so lange warten und Brötchen essen?“, schnauzt Steffi mich an und ist jetzt richtig wütend geworden. Ich bezweifle außerdem, dass es hier Brötchen geben wird, sage darüber aber erst mal nichts.
„Wir gehen jetzt zurück zu unserem Bungalow und ich wasche das auf jeden Fall aus, bevor ich in mein Brötchen beiße“, sagt sie mit einer Bestimmtheit, der man lieber nicht widersprechen sollte. Und dass sie unsere verfallene Baracke jetzt schon offiziell Bungalow nennt, finde ich richtig süß. Superior Hillside Bungalow, um genau zu sein.
„Nimm aber das Mineralwasser dafür“, gebe ich ihr noch als gut gemeinten Tipp mit auf den Weg, bin aber jetzt natürlich in einen ausgewachsenen Gewissenskonflikt geraten. Einfach und egoistisch den Weg zum nahen Frühstücksgelände antreten und meine Familie dem Schicksal überlassen, das kann ich ja nun auch nicht bringen. Was mache ich?
„Ach, es tut schon nicht mehr weh“, sagt da glücklicherweise der hungrige Max und steht auch schon wieder vorsichtig auf bei-den Füßen. „Lass uns lieber frühstücken gehn. Is schon wieder gut, ehrlich“
Steffi sieht ihn kritisch und zweifelnd an, aber vielleicht ist es auch bei ihr der Hunger, der sie magenknurrend einlenken lässt, nicht aber, ohne zu sagen: „Gut, dann machen wir’s eben am Tisch MIT MINERALWASSER!“
Und dann stiefeln wir los. Max humpelt ein wenig.
Es ist fünf Minuten nach zehn. Wir sind wohl die Letzten. Alle sind schon da, alle Tische besetzt, und die Bayern lächeln uns in Siegerpose zu. Erster! Sie haben sich den schönsten Platz auf dem hölzernen Deck gesucht, ganz vorne neben einer krummen Palme mit Blick auf das Meer.
Das Meer! Wir können es sehen und riechen. Oh, ist das schön. Herrlich blau und weit liegt es vor und etwas unter uns und noch etwa zwei-, dreihundert Meter entfernt. Aber es ist da und glitzert in der tropischen Sonne Ko Samuis, unseres Paradieses für die nächsten zwei Wochen. Die dicke schwarze Regenwolke, die sich von hinten energisch und bedrohlich ins Bild schiebt, ignorieren wir erst mal einfach. Die ist ja noch so weit weg.
„Melli Klissmä! Hau ah ju, Sir Missa Nipsi. Gutt molning, Madam Missi Nipsi. Hello Boy, wott jo nehm? Jo Bläckfäss-Kuhponns, pliess“, schiebt sich einer der Bediensteten sprechend und von rechts in das traumhafte Bild. Ich stutze noch einen kleinen Moment über „Melli Klissmä“, aber dann ist es mir auch schon klar, wir haben ja heute Weihnachten.
„Merry Christmas!“, antworte ich also fröhlich und reiche ihm lächelnd, aber etwas nervös, da wir die Zeit um fünf Minuten verpasst haben, den Coupon. Wenn das mal keinen Ärger gibt!
Aber er weist uns nur noch mal höflich darauf hin, dass es nur bis „tännäclock ey ämm Bläckfäss“ gäbe, dann gibt er uns den letzten noch freien Tisch – direkt neben der Toilette – ohne Sicht, ohne Palme, ohne Hoffnung. Verlierer.
Die Bayern grinsen hämisch. Na, wartet, denke ich. Morgen sind wir früher da. Die Sauerländer kommen noch!
Steffi sieht sich die fast tödliche Verletzung von Max jetzt genauestens an, gibt dann aber zögerlich Ruhe, weil wirklich nichts mehr zu sehen ist. Und von einer roten Spur des Todes bis zum Herzen schon gar nicht. Sie prüft das aber alle zwei bis drei Minuten mit einem sorgfältigen Blick auf den Fuß nach.
„Wott ju wont, Sir“, verneigt sich der nette, junge thailändische Mann, der eine Art folkloristische, landesübliche Tracht zu tragen scheint, die aber schon leicht zerschlissen, farb- und freudlos und teilweise auch in Fetzen an ihm herunterhängt und ihre besten Tage schon lange hinter sich hat. Er ist sehr freundlich und reicht mir bedenkenlos eine zerfledderte, laminierte Speisekarte, die sicher schon Generationen von Touris nachdenklich und interessiert auf der Suche nach der richtigen Essensentscheidung in ihren sonnenölverschmierten Händen gewendet, geknetet und bearbeitet haben müssen und deren Preise alle mit kleinen Schildchen überklebt und sicherlich speziell für uns saftig erhöht worden sind. Aber wir sind ja Pauschalis
Bläckfäss inkluussiff.
„Wott ju häv?“, frage ich zurück, schon recht gewandt, wie ich meine, mit der neuen Thai-Englisch-Sprache umgehend.
„Koffie, tii, tooss, sklämbel ägg, boil ägg, flei ägg, orän dschuu.“
Das hört sich doch nach einer gewaltigen Auswahl an, und ich nicke ihm wohlwollend und anerkennend zu. Meine liebe Steffi frage ich allerdings etwas nörgelig: „Gibt’s kein Buffet hier?“ Steffi zuckt mit den Achseln. Dann frage ich eben den freundlichen, jungen Mann: „No buffet?“
„No baffej“, bestätigt er mir freundlich lächelnd, schüttelt eifrig den Kopf und wartet höflich und weiterhin lächelnd auf unsere Entscheidungen betreffs der etwas eierspeisenlastigen Frühstückskarte. Ich entscheide mich spontan und locker für „flei ägg“, also Fried Eggs, jaja, ich habe schon verstanden, „Koffie“ und „Orän Dschuu“. Steffi nimmt fatalistisch ergeben das gleiche plus Mineralwasser und Max nur Tooss und Marmelade.
„Mmh, kein Buffet, schade, kein Käse, keine Wurst und leider auch keine typischen thailändischen kleinen Schweinereien“, bemerke ich nur so nebenbei, und das ist auch wirklich schon alles.
Aber Steffi fühlt sich durch diese so dahingesagten, nichts Böses wollenden Worte dermaßen angegriffen, dass sie aufgebracht kontert: „Ach, und dafür willst du MICH jetzt wohl verantwortlich machen? Weil ICH den Prospekt nicht sorgfältig genug studiert habe, was DU natürlich gemacht hättest. Das willst du doch damit sagen, oder etwa nicht?“
„Aber Steffi, ich meine doch nur ‚schade‘. Mehr nicht. Ist doch egal. Das Beste ist doch: Wir haben uns und sind gesund.“
Das sagen wir immer, wenn was wirklich Schlimmes passiert ist und man froh sein darf, überhaupt noch am Leben zu sein.
Ist also eher falsch.
Steffi ist den Tränen nahe und schluckt schwer. Max holt seinen neuen Game Boy Advance SP heraus und vertieft sich in ein unglaubliches Hundespiel, bei dem man junge Hunde aufziehen, füttern und trainieren muss. Es ist so realistisch, dass sie sogar auf Teppiche pinkeln oder auf den Rasen kacken. Sagenhaft.
„Wir hätten alles ganz anders machen müssen, ich weiß“, schluchzt sie, „aber es musste ja alles so schnell gehen und da hab ich gedacht …“
„Ist doch alles gut, Steffi, ich find’s prima hier, wir haben doch alles, was wir brauchen, man gibt uns zu essen und ist freundlich zu uns und besonders teuer ist es auch nicht, obwohl wir uns etwas mehr schon hätten leisten können. Zum Beispiel ein tolles Frühstücksbuffet.“
Das war’s.
Sie bricht regelrecht zusammen, schluchzt laut los und ist nicht mehr aufzuhalten. Das Ehepaar Leichenhalle sieht interessiert zu uns herüber und steckt die Köpfe zusammen, und auch die anderen Gäste scheinen eine aufregende, abwechslungsreiche Szene zu erwarten. Ehestreit im Urlaub ist ein besonders beliebtes Betätigungsfeld für gerade angekommene Neu-Touris, und wird von allen immer wieder gern als willkommene Abwechslung im langweiligen Urlaubsalltag angenommen. Der Stress der Anreise steckt noch in allen Knochen und das unerwartete Freizeitloch, das sich plötzlich vor einem auftut, ist so groß und tief, dass es einem Angst macht, und da öffnen sich schon mal die Ventile.
Es ist augenblicklich still und sogar die Wiener Caféhausmusik, die die ganze Szenerie bisher geradezu gespenstisch untermalt hat, verstummt. Die folkloristischen Bedienungen halten erschrocken inne mit dem freundlichen Ausschank von Koffie oder Tii und dem Ausliefern der drei verschiedenen Zubereitungsarten von Ägg.
Steffi verschwindet in der Toilette, von daher ist unser Platz strategisch durchaus günstig gewählt, und ich lächle den Leuten freundlich zu und warte sehnsüchtig auf Steffis Rückkehr und meine Flei Ägg.
Eins ist jetzt schon klar: Wir sind in einer ganz üblen Absteige gelandet. Darüber kann auch die Freundlichkeit des bemühten Folklore-Personals nicht hinwegtäuschen. Das „Paradise Rock Resort“ liegt in den letzten Zügen und man nimmt noch mit, was so an bekloppten Touristen angespült wird.
Was soll’s, wir sind jetzt hier und machen Urlaub. Jetzt erst recht!
Das Frühstücksareal selbst ist eine gefährlich wippende, knarrende, nach drei Seiten offene Holzebene, die dem Deck eines abgewrackten Bananenfrachters gleicht. Es ist alles zerschunden und zerrieben von Millionen von Touristen, die hier schon seit Jahrhunderten durchgeschleust worden sind und sich auf diesen Brettern von Koffie, Flei Ägg und Orän Dschuu ernährt haben, beziehungsweise knapp dem Hungertod entgangen sind, denn wirklich genießen kann man weder den Koffie noch die Flei Ägg. Der Kaffee ist eine üble, braunschwarze Brühe, die dem Aussehen nach eher dem ähnelt, was aus unserem Wasserhahn kommt. Es gibt nur eine vage Erinnerung an das aromatische Heißgetränk aus Südamerika, wenn man vorsichtig daran riecht. Den Rest überdeckt, wenigstens auf unserem Platz, der Gestank aus der Toilette. Die Flei Ägg sind unten verbrannt und das Gelbe ist hart. Schlimmer kann man Spiegeleier nicht versauen. Und der Toast ist eben einfach Toast, nicht einmal langweilig genug, um verdient zu haben, hier überhaupt erwähnt zu werden. Marmelade gibt’s auch. Die Lasche der Verpackung bekommt man aber nur mit den Zähnen auf.
Das ist also Urlaub? Na gut. Man muss sich eben dran gewöhnen. Aber: Ich habe bis jetzt noch ein nicht einziges Mal an meine Zeitung im Sauerland gedacht. Ob’s die wohl noch gibt? Für mich jedenfalls die nächsten zwei Wochen nicht. Aber Ulli oder Don Camillo muss ich später trotzdem unbedingt anrufen. Vielleicht brauchen sie mich ja doch. Es könnte ja doch was passiert sein – endlich mal. Ach ja, das Handy ohne Ladegerät …
Ich ziehe es vorsichtig aus meiner Tausend-Taschen-Hose und registriere noch vier Ladebalken. Könnte also noch eine Weile funktionieren. Schaltens wir’s also lieber erst mal aus.
Dann nippe ich an meiner braunen Brühe, schnibbele ein wenig am Toast herum und nutze die sinnlose Zeit des Wartens – mit Max kann man jetzt nicht reden, sein Hund hat gerade auf den Teppich gekackt –, um mir ein Bild von unseren Mitgefangenen zu machen. Schließlich ist es nicht unwichtig zu wissen, mit welchen Menschen man gemeinsam die Zeit der Verbannung verbringen wird, und ob es schon jetzt Anzeichen für mögliche spätere Spannungen und Auseinandersetzungen mit anderen Inhaftierten geben könnte.
Es gilt schon jetzt im Vorfeld, klug zu bewerten, wem man lieber aus dem Weg gehen soll und mit wem man sich möglicherweise zusammentun kann, um hier im tropischen Straflager Verbündete zu haben, mit denen man vielleicht sogar Ausbruchspläne in die Tat umsetzen kann. Papillon – Steve McQueen, Dustin Hoffman.
Direkt am Nebentisch vegetiert eine Familie vor sich hin, die sämtlich zusammengesackt vor den Herrlichkeiten des Frühstücks hockt und still und verzweifelt alles in sich hineinmampft. Das männliche Leittier dieser Gruppe taucht, tief auf seinen haarigen Arm gestützt, fast mit dem Gesicht ins Rührei und schlürft es laut und unappetitlich in sich hinein. Er hängt so tief über der Eimasse, dass man weder sein Gesicht erkennen noch die geschickte Schaufelbewegung der rechten Hand bewundern kann. Jeff Goldblum – Die Fliege, denke ich, der gerade nach dem misslungenen Selbstversuch mit seinem neugewachsenen Insektenrüssel eine Suppe schlürft. Bäh. Ich widme ihm meine ganze Verachtung.
Der Tisch auf der anderen Seite ist belebt von einem munteren Völkchen aus dem Norden. Zweifellos. Alle blond, recht groß und mit scharfkantigen Gesichtern versehen. Das Leben im Norden scheint wahrlich nicht einfach zu sein, aber man macht das Beste daraus. Gelegentliche herüberflatternde Wortfetzen wie „Oukohänstalasyönytlyijykynähämäläinen“ oder so was Ähnliches stützen meine nordische Theorie. Ich tippe auf Norwegisch, Finnisch, Läppisch … Keine Ahnung.
Ihr etwa vier- bis fünfjähriger, blonder Sohn, der in einem vollständigen Superman-Outfit am Frühstück teilnimmt, wird an-dauernd und lautstark mit „Osgary!“ ermahnt, weil er eben nur Mist baut. Soeben hat er seinem Vater, der irgendwie abwesend wirkt und nicht am Leben der Familie teilzunehmen scheint, beide Toasts geklaut, um sie an die rund um uns herum lauernden Vorwurfsvögel zu verfüttern. Der Mann hat es aber in seinem Kummer nicht bemerkt, wundert sich jetzt nur traurig über das heute wohl etwas mager ausgefallene Frühstück. Neidisch blickt er auf die vollen Teller seiner läppischen Restfamilie.
Er ist scheinbar ein Mann, der sich Fragen stellt. Wie er zu dieser Familie gekommen ist, oder wie er in dieses Land gekommen ist. Möglicherweise ist er ein Professor, der an einem nicht lösbaren Problem verzweifelt, das er seit Jahren mit sich herumschleppt. Ein Virenforscher vielleicht, der mit dem Gedanken spielt, mit dem tödlichen Virus doch endlich einen Selbstversuch zu wagen, auch wenn er es mit dem eigenen Leben oder schrecklichen Entstellungen bezahlen muss, um endlich das dunkle Geheimnis lösen zu können. Ein unheimlicher Mann. Ich beschließe, ihn „Dr. Mabuse“ zu nennen.
Dann gibt’s da noch eine überaus laute sechsköpfige Primatenfamilie, die von einem gefährlichen Silberrücken beherrscht wird. Der Silberrücken, ein grauhaariger, groß- und grobgewachsener Mann von enormem Umfang, lacht ständig laut und rücksichtslos, offensichtlich über seine eigenen Brüller, und seine Familie lacht mit. Sie müssen wohl. Nach außen hin aber sind sie ein kreischender, fröhlicher Haufen, der mir jetzt schon gewaltig auf den Keks geht. Louis scheint der Silberrücken zu heißen. Jedenfalls nennt ihn seine Frau so. Also, King Louie. Alles klar.
Ganz hinten sehe ich unseren neuen Nachbarn mit seiner Frau. Das Ehepaar Lotze-oder-so .Sie sind auch eben erst angekommen. Trödler! Er winkt uns freundlich zu, während Frau Lotze traumatisiert auf ihr Spiegelei stiert, ohne es zu essen.
Da kommt Steffi aus der Toilette zurück und hat sich wohl einigermaßen gefangen. Sie sieht mich an, ist gestärkt und wieder hergestellt. Woraus man in einer stinkenden Toilette so viel Kraft schöpfen kann, ist mir zwar nicht klar, aber es hat offensichtlich funktioniert. Die Spuren ihrer bitteren Tränen sind beseitigt. Hat sie womöglich das gefährliche Wasser für ihr Gesicht benutzt? Kommt es hier aus allen Wasserhähnen? Ist sie schon so weit? Rüdiger Nehberg?
„Steffi“, sage ich und drücke ihre schönen, schmalen Hände, die ich so sehr mag, ach, eigentlich mag ich ja alles an ihr. Sie ist so perfekt, das wird mir erst jetzt mal wieder so richtig klar, auch ohne Löcher in den Ohren. „Ich wär auch drauf reingefallen, bestimmt.“
Sie lacht leise und sagt: „Okay, dann lass uns jetzt den verdammten Urlaub genießen. Ich mein’s ernst.“
„Okay, ich auch!“
Den ersten richtigen, bei vollem Bewusstsein erlebten Tag im Paradies wollen wir ganz langsam angehen lassen. Und nachdem wir Max mehrmals gefragt haben, wie es ihm denn so gehe, und er jedes Mal „alles cool“ gesagt hat, obwohl er immer noch etwas Temperatur hat und laut bellt, beschließen wir, es ihm zwar nicht zu glauben, aber es trotzdem erst mal zu versuchen.
„Ich muss noch mal schnell zur Rezeption“, sage ich unverfänglich und so wie ganz nebenbei, aber Steffi schaut mich skeptisch an.
„Was willst’n da?“
„Ach, äh … nur mal so informieren“, sage ich noch und bin auch schon weg. „Drei Minuten!“, rufe ich noch. Ich will sie ja schließlich überraschen mit einem tollen neuen Luxusbungalow mit Minibar und allem. Na, die werden staunen.
Leider, erklärt man mir in der Rezeption freundlich lächelnd, seien alle Bungalows belegt. Tausch nicht möglich. Und warum auch? Alle Bungalows seien ja schließlich gleich. Ja, aber es gäbe doch „Senator“ und „Deluxe“ und so, bringe ich entrüstet vor.
„No, no, all the same.“
Aha. Ein Ladegerät für mein Handymodell gäbe es auch nicht und man hätte auch keine Ahnung, wo man so etwas bekommen könnte.
Nicht. Aah so. Na gut. Dann eben nicht.
Aber man hätte ja schließlich hier in der Rezeption ein tadel- los funktionierendes Hoteltelefon.
Ja. Er zeigt mir, wo es hängt, und ich sehe einen veralteten Münzfernsprecher. Und auf die Frage, warum denn in unseren Bruchbuden kein Telefon wäre, zuckt er nur mit den Schultern und lächelt.
Man kann diesen freundlichen Menschen ja nicht so richtig böse sein.
„Also, dann lasst uns doch mal sehen, wie es hier so ist“, rufe ich meinen beiden fröhlich zu, als ich unverrichteter Dinge wieder zurück auf dem Frühstücksdeck bin, und klatsche albern und unternehmungslustig dabei in die Hände.
Erst mal so rumgucken, denke ich. Von mir aus auch blöd. Egal. Wir sind im Urlaub. Alle und alles kennenlernen, sich orientieren. Wo bin ich, wer bin ich, wo komme ich her, wo will ich hin, und was will ich hier überhaupt?
„Strand!“, ruft Max und er hat verdammt recht.
Natürlich. Genau. Erst mal zum Strand. Wenn der Strand gut ist, dann ist alles andere nur noch halb so schlimm. Dann erträgt man sogar Essen mit erheblichem Optimierungsbedarf und tödlich-braunes Leitungswasser. Also traben wir erwartungsfroh los – immer den fröhlichen „Beach“-Schildern nach.
Sie führen uns zunächst einmal runter zur belebten Straße, die man dann leider erst mal überqueren muss. Das ist nicht ganz so romantisch, wie es der Katalog laut Steffis Aussagen verkündete.
Im Prospekt stand „direkt am traumhaften Strand von Chaweng Beach“ und auf jeden Fall nichts von irren Geschwindigkeitsrekorden, die wahnsinnige Selbstmörder auf dieser Piste zu brechen versuchen. Das Traumhotel liegt aber, wie es der Name ja auch schon diskret andeutet, etwas oberhalb auf einem Felsen, den man aber nicht sieht, weil er von diesem Dschungelgrün total überwuchert ist. Egal. Wir haben Zeit und Urlaub, und schon nach einer angemessenen Weile haben wir auch raus, wie schnell die sich teilweise schleudernd und mit quietschenden Reifen annähernden Fahrzeuge in gefährlicher Distanz zu uns sind, und wenn die Lücke uns groß genug erscheint, dann wollen wir es wagen, erst mal einen von uns probeweise durch diese Hölle zu schicken.
Leider sind die braunen Stauseen der letzten Nacht noch längst nicht weggetrocknet, und so müssen wir immer wieder den gewaltigen, großartigen thailändischen Wasserspielen ausweichen, die die vorbeirasenden Fahrzeuge auslösen, und die Überquerung verschieben, auch wenn der Zeitpunkt verkehrstechnisch gerade sehr günstig scheint. Ich melde mich natürlich als mutiger, erster freiwilliger Kandidat dieses Himmelfahrtskommandos, und suche meine Lücke.
Und als ich lebend, einigermaßen trocken und somit zumindest äußerlich unbeschadet auf der anderen Seite ankomme, und glücklich winke, macht es meine Familie mir mutig nach.
Ich weiß nicht, ob es gerade die Rush-Hour oder die Normalität ist, einfach ist es jedenfalls nicht. Aber wir haben unser erstes Abenteuer bestanden, und der Strand ist schon zu sehen. Gleich wird das Urlaubsfeeling aber schlagartig und mit voller Wucht einsetzen, da sind wir uns jetzt ganz sicher. Und so streben wir in großer, freudiger Erwartung dem weißen, leuchtenden Sand entgegen. Die Hitze dieses Morgens ist schon beachtlich.