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„Ja“, sage ich ergeben. „Ich bin Heinz-Norbert.“
Und dann geht ein Leuchten über sein zerfurchtes Gesicht und er bewundert mich wie eine Sonnenfinsternis, die nur alle sechsundzwanzig Jahre zu sehen ist.
„Wars abba lange nich mehr hier, mein Gunge!“
Mein Junge? Aber es stimmt. Ziemlich lange. Aber woher will er das denn wissen und was geht ihn das überhaupt an?
„Ja, kennze mich denn char nich mehr?“, fragt er jetzt mit Grinsebacke, aufgerissenen Äugelchen und hochgeschobener grüner Agro-Kappe. Er taut so langsam auf, scheint mir. Ist gar nicht mehr so auf Randale aus.
Jetzt fängt es dafür aber nun bei mir an zu rattern. Wer ist dieser alte Mann? Habe ich so jemanden überhaupt schon mal gekannt? Grün, Hühnerscheiße, Dreizack … ich versuche alle Details irgendwie zusammenzubringen, aber ich komme zu keinem verwertbaren Ergebnis.
„Nee“, sage ich daher nur.
„ONKEL WILLI BINNICH!“, brüllt er mich da plötzlich ganz freundlich an. „Brockmanns Willi, Mensch, das gibbs donnich, du dösigen Tuppes!“
Schutzmann bellt und steht wieder auf. Das Haltbarkeitsdatum seines Herrchenbefehls ist wohl endgültig abgelaufen.
Willi Brockmann. Onkel Willi. Ja, die Synapsenmaschine läuft zwar noch aber es macht plötzlich schon ganz eindeutig Klick. Und „dösigen Tuppes“, nett gemeint, natürlich!, hat ja eigentlich nur immer einer zu mir gesagt. Ich muss einfach nur mal so etwa vierzig, fünfzig Jahre zurückdenken. Kein Problem. Der Mann, der hier gerade meinen Zeitplan gehörig durcheinanderbringt, ist sicher siebzig oder achtzig … oder älter? Wie alt wird man denn in so einer Urgegend? Manche Leute in der sibirischen Einöde oder in mongolischen Steppendörfern werden ja schon mal weit über hundert.
Aber das ist er.
„Onkel Willi!“, brülle ich zurück und grinse dabei jetzt ebenfalls übers ganze Gesicht. Ja, sicher. Das ist ja Onkel Willi! Und dann steige ich endlich aus.
„Ja, sachich doch“, meint er achselzuckend. „Hab' euch Kindern doch früher immer ma ’n paar Klümpkes mitchebracht oder ma paar Chroschen für’n Eis checheben, dir un deim Bruder, dem Bernd.“
Ja, Bonbons und Kleingeld. Und das ist also Onkel Willi, der drahtige und eigentlich erstaunlich gut aussehende Mann aus meiner Kindheit. Wenn Vater nicht zuhause war – und er war häufiger unterwegs auf Montage für eine Baufirma –, war Onkel Willi oft bei uns. Meine Mutter mochte ihn wohl ganz gerne. Und er sie wohl auch.
Ich sehe mir den hutzeligen Mann, diesen Gegenwarts-Onkel-Willi, jetzt so aus der Nähe an und stelle fest, dass er sehr viel kleiner geworden ist als ich.
„Dein Vatter hat mich ja dann vom Hoff chegaacht (,gejagt‘ soll das heißen), weil ich ja ma ’n Krösken mit der Hilde hatte, woll ... VOR seiner Zeit, natürlich. Knapp davor. Abba dat hat ihm nich chepasst.“
Noch mal Achselzucken, verschwörerisches Grinsen und Augenkneifen. Er hatte was mit meiner Mutter? Na, guck mal einer an. Das habe ich allerdings nicht gewusst. Und dann sieht er mich wieder an, so ganz verträumt irgendwie, und grinst über beide pausigen Backen, die jetzt sogar eine gewisse Röte zeigen.
„Dattich dich nomma seh’, woll“, sagt er dann und holt ganz tief Luft, um sie dann lange und schnaufend durch die Nase wieder rauszulassen. Aber dann reißt er sich zusammen und sagt: „Weiße, dat mit der Hilde … ach … ich kann da nich zur Beäärdigung heute. Dat is zu traurich für mich. Ich chlaub, da krichich ’n Herzkasper un fall mit ins Chrab, woll.“
Ich nicke nachdenklich, ja, das ist zu riskant, das leuchtet mir ein.
„Getz wird et abba höchste Zeit für dich, mein Gunge, sons kommsse noch zu spät.“
Oh, er hat recht. Ich muss los.
„Mensch, Onkel Willi, ich komm’ auf jeden Fall noch mal bei dir vorbei.“
„Ja, dat wär’ sskhön … abba getz ersma ’ne sskhöne Beärdigung, woll!“
Und dann bellt Schutzmann noch einmal und Onkel Willi gibt mir die Hand. Scheißegal. Ich sehe die Hühner- oder Hundekacke an seinen Fingern, aber ich greife trotzdem beherzt zu. Ist ja schließlich Onkel Willi. Und dann umarme ich ihn auch noch mal. Wenn schon, denn schon. Er bleibt etwas steif dabei und grinst verlegen. Schutzmann kommt vorsichtig näher, beschnüffelt mich und wedelt mit dem Schwanz.
„Heißt der wirklich Schutzmann?“, frage ich Onkel Willi.
„Jou. Sskhutzmann.“
Der Hund spitzt die Ohren.
Dann traue ich mich noch, den braunen Riesen anzufassen, allerdings möglichst ohne seinen Sabber an die Hose zu bekommen, und er erhöht sofort seine Schwanzwedelfrequenz. Guter Hund.
So. Jetzt aber. Scheibe hoch, Gang rein, wohin mit der Kacke …? Fußmatte! Und los. Der Porsche faucht geschmeidig und legt sich schwer ins Zeug. Die Hühner sitzen inzwischen alle auf einer Stange in so einer Art Hühnertreff-Gemeinschaftsbaracke auf dem Hof, die wahrscheinlich Onkel Willi höchstpersönlich gezimmert hat.
Kopfschüttelnd und breit grinsend versuche ich, mich auf die Straße zu konzentrieren, um endlich, endlich anzukommen. Weit kann es jetzt nicht mehr sein.
Onkel Willi. Phh. Das gibt’s doch nicht. Na, der hat sich aber gefreut über mich. Mmh. Und schon fällt mir ein alter, netter Reim ein.
Ein Bauer stand im Sauerland
und dachte drüber nach,
dass Hühner auffe Stange sitzen,
Tauben auf’m Dach.
Inzwischen in sein’ Hühnerstall,
da tobt der Fuchs ganz munter
und holt de Hühner nach und nach
von ihrer Stange runter.
2
Bütterkes mit Sskhinken
„In mümpfundert Mepern mechts abmiegen“, verkündet die freundliche Frauenstimme meines Navigationsgerätes, die ich aber leider kaum verstehen kann. Denn weil so ein Gerät ja eigentlich nicht in so ein altes Auto gehört, habe ich es tief ins Handschuhfach verbannt, damit es auch ja keiner sieht. Bloß nichts Modernes in meinem Klassiker! Alles stilecht. Das muss schon sein. Leider hört man das nützliche Gerät dann aber auch nicht so gut und die schöne Stimme ist viel zu dumpf, so, als würde man der guten Frau beim Sprechen den Mund zuhalten oder vielleicht hat man sie auch enführt und geknebelt.
Da bin ich also wahrscheinlich die ganzen letzten zwei Stunden irgendwie in einer Art Autofahrertrance gewesen, immer den Blick an den sich ständig windenden, hypnotisierenden Mittel-streifen geklebt, bis diese Hühnerscheiße hier mich wieder ins Leben zurückgeholt hat. Aber trotzdem bin ich in diesem Zustand über endlose Sträßchen und Kurven, Hügel, Berge und Täler wohl doch ganz in die Nähe meines gewünschten Zieles gekommen. Jedenfalls sieht es ganz danach aus. Und ich hab sogar jemanden aus meinem früheren Leben getroffen.
Der Himmel sieht nicht so ganz echt aus. Die Sonne scheint zwar noch, aber am Horizont nähern sich bedrohlich dicke, schwarze Wolken und ein kühler, leichter Wind kommt auf. Ich glaube, dass es bald ganz furchtbar zu regnen, zu gewittern, zu unwettern, nein, zu plästern oder schütten, wie man hier sagt, anfangen wird.
„Schütten“ übrigens immer ohne die Ts aussprechen. Sauerländisch. Da müssen Sie unbedingt drauf achten. „Schü’en“, sagt man hier. Und statt „Kotelett“ sagt man zum Beispiel „Ko’le’“. „Scho’land“, „Ko’en“ (Kotten) und so weiter.
So ist das eben im Sauerland. Normal. Machen Sie sich nix draus.
Meine Güte, wie lange war ich eigentlich wirklich nicht mehr hier?, denke ich, als der Porsche wieder alleiniger, zufriedener Chef einer Straße ohne Hühner ist und jetzt ordentlich Tempo macht – ich hab’s ja echt eilig. In zwanzig Minuten soll es schon losgehen mit der Trauerfeier.
Zehn, zwölf Jahre ist es bestimmt her. Ja, zu Vaters Beerdigung, wahrscheinlich. Und Onkel Willi habe ich seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen. Ich hatte ihn, ehrlich gesagt, eigentlich total vergessen. Den lustigen Onkel Willi, immer die Taschen voller Klümpkes für uns Kinder.
Und war ich sonst mal wieder hier, seitdem ich nicht mehr hier bin? Also, seitdem ich damals quasi Hals über Kopf hier abgehauen bin? Naja, ist lange her. Und es gibt da ein paar Leute, die sicher immer noch hier wohnen und möglicherweise nicht besonders scharf drauf sind, mich noch mal zu treffen. Es sei denn, um mir vielleicht eine reinzuhauen. Hoffentlich ist es lange genug her … und vielleicht hauen sie ja nicht so feste. Aber dann hätte ich es wenigstens endlich hinter mir. Ich erzähle Ihnen gleich noch mehr davon.
Eigentlich hat mich auch nichts wieder hierhingezogen. Ich war immer ziemlich froh, aus dem ganzen Misthaufen-Milieu endlich rausgekommen zu sein. Düsseldorf. Ja. Das war schon was ganz Anderes. Die feine, große Welt ohne Misthaufen, Gülle und ewige Kirchenglocken. Doch Mutter wollte ich natürlich schon mal ab und zu besuchen und hatte es ihr auch immer wieder versprochen. Und ich hatte es auch wirklich vor. Ja. Bestimmt. Und so weit war es ja nun auch nicht vom feinen Dorf an der Düssel bis hierhin in dieses sauerländische Outback. Aber irgendwie hat es doch nie geklappt. Hat nich’ sollen sein!
„Dat is mir doch ’n chanz dummen Spruch, Heinz-Nobbät“, sagt das Sauerland da zu mir und ich glaube, es hat recht. „Du hast doch in dein’ Düsseldorfer Luxusleben char nich an mich chedacht.“
Ja, kann sein, liebes Sauerland. Wahrscheinlich hast du sogar recht.
Zwei- oder dreimal hatte mein Bruder Bernd und sein wuchtiges und überaus patentes, liebenswürdiges Vollweib Sabine, die beide zusammen mit Mutter in ihrem, also, unserem alten Haus in Schwattmecke leben, sie zu mir nach Düsseldorf geschleift, „damit we uns nich so chanz ausse Augen verlier’n”.
Aber gerne hat Mutter das nicht mitgemacht.
„Da kannze ein’ drauf lassen! Düsseldorf, dat is nix für mich“, hatte Mutter sich immer beklagt und war immer heilfroh, schnell wieder wegzukommen. Und wenn ich ehrlich bin, dann war ich das eigentlich auch. Denn Mutter brachte immer eine gewisse Instabilität in mein schönes, feines Düsseldorfer Überholspur-Leben.
Wie Mutter einmal im „Bugatti’s“, dem angesagtesten Ess- und Trefftempel der Düsseldorfer Werbeszene, der meinem guten Freund Hugo gehört, die Scampis in hohem Bogen wieder ausgespuckt und dem Ober hinterhergerufen hat, solche „eckeligen Würmer würd’ man in Schwattmecke noch nich ma an de Schweine verfüttern“, das war in dieser Umgebung unterhaltsam, befremdlich und schockierend zugleich. Und als sie dann noch lauthals „Bütterkes mit Ssckinken“ bestellt hatte, „aber zack, zack, Herr Oberst!“, sind wir dann auch nicht mehr so lange geblieben. Naja, ich hatte den Laden ja selbst vorgeschlagen. Und die Scampis auch. Blöd von mir. Das musste ja schiefgehen.
Mutter Hilde war eben durch und durch Sauerländerin und da gehörte sie auch hin – nach Schwattmecke.
Schwattmecke, Schwattmecke,
dat is’ nich umme Ecke,
dat is’ im schönen Sauerland,
den meisten Leuten unbekannt.
Sylvia wollte sowieso nie hierhin. Ist ja noch nicht mal heute dabei. Sylvia ist meine Frau … also, eigentlich nur Freundin oder, wie sagt man, Verlobte, nein, das ist zu altmodisch, vielleicht Partnerin, obwohl manchmal … na, dann eben Lebens-abschnittsbegleiterin … ach, irgendwie haben wir uns da noch nicht so richtig festgelegt, was wir eigentlich so für- oder eben manchmal auch gegeneinander sind … sagen wir also, die sehr attraktive, zwölf Jahre jüngere Frau, mit der ich seit vier Jahren zusammenlebe – immer im hart umkämpften Niemandsland zwischen endgültiger Trennung und überzeugter Liebesheirat. Ja. So kann man mit der Formulierung eigentlich zufrieden sein.
Sylvia ist ganz toll und ganz furchtbar. Je nachdem. Wir passen überhaupt nicht zusammen, aber irgendwas an ihr lässt mich immer wieder ihre schlechten Eigenschaften vergessen. Ich denke mal, ihr geht es genauso mit mir.
Gestern Abend war sie wieder mal ganz furchtbar. Ich wahrscheinlich aber auch. Es ging eigentlich ja nur darum, dass sie trotz vollgequetschter Kleiderschränke aber auch rein gar nichts anzuziehen hatte für eine Beerdigung und dass mir das natürlich fuuurchtbar leidtat. Oooch, gar nichts anzuzieh’n, du Arme! Dann malen wir dich eben schwarz an, mit einer weißen Blume auf dem Hintern. So was und noch ein paar ähnliche Vorschläge habe ich ihr gemacht, weil es immer dasselbe Theater ist mit ihren scheiß Klamotten. Entschuldigen Sie! Ist mir so rausgerutscht. Naja, und am Schluss hat sie die Tür geknallt, aber vorher noch gesagt, dass sie dann eben überhaupt nicht mitkäme. Und dabei ist es dann geblieben. Von mir aus. Ich habe auch keine Lust mehr, mich darüber zu ärgern. Heute nicht.
„Du und deine Sauerländer!“, sagt sie immer schon so abwertend, aber ich habe es ihr noch nicht einmal so richtig übel genommen, weil ich diese Käffer im Hühnerscheiße-Niemandsland ja auch irgendwie ziemlich satthatte. Aber wenn ich mir dann doch mal fest vorgenommen hatte, wenigstens Mutter zu besuchen, kam doch glatt immer in letzter Minute irgendetwas dazwischen, weil mal wieder was Wichtiges in der Agentur zu tun war.
Ach ja, die Agentur!
Ich mache Werbung, Reklame, Kommunikation, müssen Sie wissen … wie immer man diese zwielichtige Branche vornehm benennen will. Man könnte auch etwas bösartig sagen, wir bescheißen einfach nur sehr professionell die Leute und verdienen ’ne Menge Geld dabei. Das ist eigentlich schon alles. Man könnte auch sagen, wir geben den ansonsten ja völlig hilflosen Personen, die da draußen in den Supermärkten, den Einkaufsmalls und überhaupt so im Leben zwischen den marktschreierischen und überall lockenden Angeboten und Versprechungen umherirren, „Kaufempfehlungen“ für gewisse Produkte. Wir helfen da nur. Phh. Aber: Wir müssen die Hersteller und Vertreiber dieser Produkte überzeugen, dass wir am effektivsten und lautesten für ihre Produkte schreien können und ihnen dann ihr Geld dafür aus den Taschen ziehen. Das ist eigentlich das Schwerste und der leider etwas demütigende Teil dieser Arbeit.
Und ich bin sozusagen der wichtigste Mann in der Agentur. Kreativ-Chef. ECD – Executive Creative Director – Head of Creation. Toller Titel, oder? Unentbehrlich. Hochbezahlt. Mr. Wichtig. Aber dafür auch Niggersklave in goldenen Ketten – rund um die Uhr.
Bölkemeyer & Friends heißt die aufstrebende Düsseldorfer Reklamefabrik mit immerhin fast einhundert hektischen Angestellten. Und Sylvias Vater, Arno Bölkemeyer, ist der Chef. Massa Arno. Also gut, eigentlich ist ER der wichtigste Mann, natürlich. Und er ist mein Vielleicht-Schwiegervater. Mal sehen. In ein, zwei oder drei Jahren setzt der Alte sich wahrscheinlich zur Ruhe, ich könnte praktischerweise seine Tochter heiraten, den Laden übernehmen und viel, viel weiteres schönes Geld einsammeln bis ans Ende eines wohlhabenden, unbeschwerten Daseins.
Schöne Vorstellung eigentlich. Und wahrscheinlich mache ich das auch. Na klar, mach ich’s. Ich meine, ich bin ja nicht blöd. Das ist die Chance meines Lebens. Und was soll ich sonst tun?
Aber erst in ein, zwei oder drei Jahren. Vielleicht auch später. Im Moment muss ich jedenfalls noch Ideen liefern, Konzepte erfinden, die Nächte durcharbeiten und eben Kunden überzeugen.
Aber vor allem muss ich Arno überzeugen. Ich muss ihm zeigen, dass ich der Richtige bin, um seine Agentur weiterführen zu können. Er muss wissen, dass man sich auf mich verlassen kann, dass ich die richtigen Entscheidungen fälle, dass ich immer und voll für die Agentur da bin. Die Betonung liegt auf „immer“. Also los, Flottmann, dann hau rein! Ackern und ackern und ackern – und da ist es natürlich klar, dass ich überhaupt keine Zeit habe. Für nichts.
„Vorwicht! Gepfwindikeitsbeschwänkung!“
Ich drehe TV-Spots, kreiere Anzeigenkampagnen, entwerfe Visionen für unsere Kunden, treffe Entscheidungen, bin ständig unterwegs, Vielflieger natürlich, ich bin einfach mittendrin in dieser gnadenlosen Reklamemühle, die sich immer dreht. Tag und Nacht. Manchmal hab’ ich echt große Lust, in den berühmten Sack zu hauen. Aber feste. Doch das geht natürlich nicht. Und es darf auch keiner wissen, dass ich das möchte, weil es ja auch keiner verstehen würde.
Zum Beispiel gestern: Was gab es da für ein Riesentheater, als ich sagte, ich sei heute mal nicht da?
„Wie, Sauerland?“, haben sie regelrecht angewidert gefragt. „Wo ist das denn? … Beerdigung? Deine Mutter? Oh, ja ... tut uns leid … jaja ... schon vergessen … natürlich“, und zähneknirschend hat mir Arno Bölkemeyer dann freigegeben.
„Ja, ja“, hat er gesagt, „selbstverständlich“. Aber ich wurde den Gedanken nicht los, dass er es eigentlich nicht so richtig eingesehen hat, wo doch soooo wichtige Arbeit auf dem Tisch lag. „Aber sieh bloß zu, dass du übermorgen pünktlich wieder hier bist, Hardy!“
Hardy.
Ja, so heiße ich in der großen Werbewelt. Hardy Fetzer. Nicht Heinz-Nobätt Flottmann. Nä, das geht ja nicht. Eigentlich war der tolle, schnittige Name Hardy Fetzer für eine ganz andere zweifelhafte Karriere gedacht: Sänger. Das erzähle ich Ihnen auch später. Aber für die Werbung passt er doch auch ganz wunderbar. Man hat mir nämlich vor langer Zeit ziemlich schnell klargemacht, dass eine Karriere im Reklamegeschäft als Heinz-Norbert Flottmann quasi ausgeschlossen wäre. Das hat mir auch eingeleuchtet. Kein Mensch hat hier solche Namen. Nicht hier im Zentrum der Großkotz-Werbewelt. Und da habe ich diesen Namen einfach wieder hervorgekramt. Hardy Fetzer. Hört sich doch gar nicht übel an für so’n Reklameheinz auf der Überholspur, was meinen Sie?
Ich heiße und bin jetzt H. F., der Senkrechtstarter der Düsseldorfer Werbeszene, strahlender Stern am Firmament der Kreativen, der Mann, dem die Unternehmen ihre Millionen anvertrauen, um damit Werbekampagnen zu erschaffen, die die Welt erschüttern.
„Naja, nu chib ma nich so furchtbar an, Düsseldorfer!“, sacht dat Sauerland. Und es hat schon wieder recht.
3
Sskhöne Sskheiße!
„Mie mächste Mpfraße minks abmiegen“, mumpft die geknebelte Frau aus dem Handschuhfach.
Nee, Moment, das weiß ich jetzt aber besser, gute Frau. Entschuldigung, aber hier fahre ich mal geradeaus weiter, denn da war doch immer diese kleine Straße hinter den Feldern lang, die dann direkt bei Schwattmecke wieder auf die Hauptstraße führt.
Ich kenne mich doch tatsächlich immer noch ganz gut aus hier und brauche das Navi eigentlich gar nicht mehr. Ich erkenne doch glatt einiges wieder. Hier steht also immer noch die alte, schon immer recht baufällig wirkende Kirche von Schmelbecke und gleich müsste der Abzweig nach Langenei und dann nach Marbecke kommen. Diese Namen! Haben Sie schon jemals von Hundesossen oder Faulebutter gehört? Nein, sicher nicht. Das gibt’s nur hier. Das ist eben das Sauerland.
Das Sträßchen ist leider schlechter, als ich es in Erinnerung habe, aber es geht. Und wenn ich alle Löcher geschickt umfahre, dann setzt der Porsche noch nicht einmal auf.
„Bippe, wendem Sie bei ber mächsten Melegenheit!“
Jaja. Frau, Geknebelte, du meinst es ja gut, aber vertraue mir trotzdem. Ich bin hier zuhause!
Schwattmecke. Gleich bin ich da.
Ich blicke staunend wie ein kleiner Junge auf großer Fahrt, jetzt ganz wach, über geschwungene Hügelketten und Wäldchen, die sich zwischen Weiden, gewundenen Landsträßchen und kleinen, schnuckeligen Örtchen mit Kirchen in der Mitte, so wie es sich für’s Sauerland-Bilderbuch gehört, an die grünen Berge klammern. Jetzt ist die Sonne auch wieder kräftiger, der Frühling probt schon mal ein wenig, aber er ist sich noch nicht sicher. Ich überlege einen Moment, ob ich nicht das Cabriodach öffnen soll, lasse es dann aber doch. Das dauert ewig bei dem alten Modell. Keine Zeit. Und außerdem bin ich ja gleich da. Doch in diesem magischen Moment taucht der Probefrühling alles in ein sagenhaft intensives, tiefleuchtendes, sattes Grün. Und mit den drohenden schwarzen Wolken im Hintergrund sieht alles sogar noch dramatischer aus.
„Bippe wendem Sie metzt!“, sagt die geknebelte Frau und es klingt fast schon verzweifelt, als wolle sich mich unbedingt davon abhalten, in mein Verderben zu fahren. Ich höre gar nicht hin.
Meine Güte, ist das schön hier. Wahnsinn! Total kitschig eigentlich. Das habe ich auch vergessen. Es sieht aus wie in einem alten Heinz-Rühmann-Film. Dieser Heinz fuhr doch auch immer fröhlich singend in polierten Oldtimern auf kleinen, kurvigen Sträßchen durch Deutschland bergauf, bergab. Manchmal mit sei-nem Filmsohn dabei, dem er dann später „Lalelu“ vorgesungen hat. Das hab ich immer gerne gesehen. Sonntagsnachmittags, wenn mal einfach gar nichts los war. Früher. Da war öfter mal gar nichts los. Und heute?
Ich suche einen Sender auf dem natürlich auch stilechten alten Radio aus den Sechzigern, aber das ist nicht ganz einfach. Viele Störungen, schlechter Empfang, viel Gerausche. Was zum einem an dem alten Röhrenradio liegt, zum anderen aber auch an den vielen Hügeln und Bergen, die immer wieder den Empfang stören. Nach einigem Kurbeln bekomme ich den Sender „Sauer-land Radio“ einigermaßen störungsfrei rein. Na gut. Sie spielen nette alte Sachen. Bisschen rockig, ziemlich altmodisch. Aber mir gefällt’s. Gerade läuft Bachmann-Turner Overdrive mit „Roll on down the Highway“ aus dem Jahre 1975, wie der oberschlaue Moderator des Senders stolz verkündet. Na, warum denn nicht? Passt doch.
Kraatz. Jetzt hat der Porsche doch noch leicht aufgesetzt.
„Bippe wendem Sie metzt!“
Wenn ich jetzt nicht auf dem Weg zur Beerdigung meiner Mutter wäre, würde ich diese Fahrt glatt genießen. Eine tolle Tour durch die alte Heimat. Ach, Mutter, ich war, glaube ich, ein schlechter Sohn. Ich hätte mal öfter kommen müssen.
„Ja, ja, da muss ers’ deine Mutter stärben, dat du dich ma’ wieder seh’n lässt, Heinz-Nobbät Flottmann“, sacht dat Sauerland zu mir. Und es hat noch mal recht.
„Mach mpfünmpfig Mepern … mpfmpf … mpfmpf …“
Was hat die Geknebelte gesagt? Kein Wort verstanden. Und jetzt könnte ich sie gerade mal gebrauchen. Rechts oder links? Das weiß ich jetzt doch nicht mehr so genau. War hier nicht immer die alte Schule, oder bin ich jetzt auf den letzten Metern doch noch falsch gefahren? Ich öffne das Handschuhfach, um die arme Frau besser verstehen zu können. Aber sie sagt einfach nichts mehr.
Sprich, Frau! Du hast deine Freiheit wieder. Rechts oder links? Nichts. Sie schweigt eisern.
Ich versuche auf dem Display mit der Karte zu erkennen, wo ich bin und wo ich hin muss, aber das ist nicht so einfach. Mit einer Hand am Lenkrad versuche ich mit der anderen das Navigationsgerät etwas zu drehen, um besser sehen zu können.
Und dann erschrecke ich mich ganz furchtbar und es durchbrizzelt mich wie ein ernstzunehmender Elektroschock am Weidezaun für Ochsen.
Ich höre meine eigene Stimme aus dem Radio. Ja. Ich singe zu krachenden Gitarren und polterndem Schlagzeug: „Wo die Misthaufen qualmen, da gibt’s keine Palmen!“ Das bin ich, das ist unser alter Hit. Der Hit meiner Band von vor … vor … über zwanzig Jahren. Nein, noch viel mehr.
Rotzverdammi! Das hätte ich nicht gedacht, dass der noch gespielt wird. Ich versuche ganz aufgeregt, den Sender etwas schärfer zu stellen, denn ich selbst habe den Song doch auch schon ewig nicht mehr gehört. Ich weiß gar nicht mehr, wie er so klingt. Das ist ja wie früher, denke ich, als wir diesen Song zum allerersten Mal überhaupt im Radio gehört haben. Da sind wir fast ausgeflippt, haben alle Fenster aufgerissen, das Radio bis zum Anschlag aufgedreht und haben mitgegrölt, damit auch bloß jeder mitbekommt, dass es jetzt endlich so weit ist und das Sauerland seine ersten großen Popstars hat.
Und dann passiert es. Irgendwie verliere ich zwischen Navi und Radio die Übersicht, das heißt, eigentlich habe ich sie zu diesem Zeitpunkt schon längst nicht mehr und schaue auch vor Aufregung schon längere Zeit gar nicht mehr auf das Sträßchen. Und da fühlt das Sträßchen sich wohl ziemlich vernachlässigt und schickt mir aus lauter Bosheit eine ganz gemeine Linkskurve, in der ich dann auch die Fahrbahn auf direktem Wege Richtung Straßengraben verlasse.
Panisch versuche ich noch, ein paar Korrekturen am drohenden Untergang vorzunehmen, reiße das Lenkrad noch hastig herum und trete mit voller Kraft auf die Bremse. Was man eben so macht, um vielleicht doch noch einige wichtige Körperteile retten zu können. Der erschrockene Porsche gehorcht mir zwar und macht einen mutigen Satz, rutscht dann aber doch sehr unsanft, unaufhaltsam und leise stöhnend über den Randstreifen in den Graben. Mit einem ziemlich schmerzhaften Krachen kommt er halb schräg rechts auf der Seite liegend zum Stehen. Mein Kopf prallt unerfreulich hart von innen gegen die Windschutzscheibe, weil dieser alte Wagen natürlich keine Gurte hat.