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Ja, das weiß ich wirklich.
„Hardy, wir haben bis Mitte nächster Woche Zeit, was völlig Neues aus dem Boden zu stampfen. Ka-tas-tro-phe!“
„Ja, spinnt denn der Atzenberger? Die Kampagne ist einmalig. Maßgeschneidert für seinen … Scheißladen. Das muss er doch sehen!“
Ich kann es nicht glauben. Dieser fette und viel zu reiche Wurstfabrikant weiß doch nicht, was gut ist. Wenn diese Typen mit ihren Millionen winken, dann müssen wir, die armen Reklamefritzen, springen und hechelnd nach den Scheinen schnappen. Oh, ist das erbärmlich.
Ich hasse diesen Job. Aber die schönen Millionen dieses ignoranten Wurstheinis könnte die Agentur verdammt gut gebrauchen. In letzter Zeit sind doch ein paar Kunden, aus welchen Gründen auch immer, zur Konkurrenz übergelaufen. Vielleicht nur, um mal zu sehen, wie es da so ist. Aber sie sind nun mal weg. Da käme ein neuer dicker Fisch gerade richtig. Und für mich wäre es ein wichtiger Pluspunkt auf der Arno-Liste für die Agentur-Nachfolge.
Wo ich doch am Dienstag schon diese Fernsehdiskussion versaut habe. Als Bernd mich nämlich anrief vor drei Tagen, um mir zu sagen, dass Mutter tot ist, da saß nicht Sauerland-Heinz-Norbert, sondern Große-Werbewelt-Hardy gerade in der Garderobe des TV-Senders N 8, um sich für seinen Auftritt in der Talkshow „Aufeinander – Los!“ schminken und herrichten zu lassen. Oder eben „zurechtmachen“, wie Mutter ja immer sagte, wenn es sonntags zu Omma ging. Und meistens ist der Gunge dann mit seinem weißen Sonntagshemd direkt in die nächste Schlammpfütze gefallen. Und dann gab’s Senge. Also Haue.
Und da sagte Bernie dann die entscheidenden Worte Schlachanfall, Sirene, Blaulicht, Notarzt, Hirn ohne Blut und tot und so weiter und es war mit mir vorbei. Kaum, dass ich richtig verstanden hatte, was er da gesagt hatte, saß ich auch schon auf einem der roten Sessel in einer Runde von Blutsaugern, die mich heute alle fertig machen wollten. Aufeinander – Los!, eben. Das wollten sie immer. Einen fertig machen. Ist ja der Sinn der Sendung. Die Moderatorin nickte mir noch mal freundlich reserviert und überaus hinterhältig zu und dann starrten alle auf das Licht, das im selben Moment rot aufleuchtete. Die Spiele waren eröffnet.
Und die Löwen fielen sofort über mich her. Die haben meine augenblickliche Schwäche sofort ausgenutzt. Ich versuchte irgendwie, die Diskussion, von der ich, ehrlich gesagt, gar nicht richtig mitbekam, um was sie sich eigentlich drehte, auch mal auf das Thema Schlaganfallfrüherkennung zu bringen, aber das schien keinen wirklich zu intessieren. Ich habe dann irgendwann aufgegeben. Mein Hirn war minutenlang ohne Blut. Tja, da war ich leider völlig von der Rolle und bin dann einfach nach Hause gegangen. Mitten in der Diskussion.
Und jetzt also der Atzenberger. Kaum ist man mal einen Tag weg, dann so was! Naja, Sven kann ja nichts dafür.
„Hardy“, sagt Sven eindringlich, „bist du noch da?“
„Ja, ja.“
„Also, pass auf, egal jetzt. Ich soll dir sagen, du musst sofort zurückkommen und anfangen zu arbeiten. Arno springt schon im Rechteck. Wir brauchen dich, Hardy Fetzer. Arno sagt, wenn Atzenberger abspringt, sind wir geliefert! Naja, wahrscheinlich übertreibt er etwas. ,Ohne seine Wurst kann die Agentur dichtmachen!‘, hat er heute durch den Gang gebrüllt.“ Sven atmet tief aus. „Also, du siehst, es ist ernst. Arno ist auf hundertachtzig! Will unbedingt mit dir reden.“
Arno, mein Fast-Schwiegervater und unser aller großer Vorsitzender.
„Ja, nun mal langsam, Sven. Weiß ich ja alles. Atzenberger mit seiner scheiß Wurst könnte uns alle am Ka..., am Leben halten. Kriegen wir schon hin“, versuche ich ihn und vor allem mich selbst zu beruhigen. „Jetzt muss ich hier erst mal fertig machen. Ich melde mich morgen. Ich geh jetzt zum ,Fell versaufen‘.“
„Was?“
„Naja, zum … äh … Kaffeetrinken, du weißt schon.“
Ich höre nichts mehr in der Leitung.
„Sven?“
„Jaja, bin noch da. Okay.“ Er wirkt irgendwie nachdenklich.
„Also, dann erst morgen früh, oder?“
„Ja, sicher, Sven. Früher geht doch nicht. Was denkst du denn? Und außerdem, mein Auto … ach, erklär’ ich dir später alles. Ich komme, so schnell, wie’s geht.“
„Hau rein!“, sagt er noch und dann drücke ich ihn weg.
Morgen ist Samstag, aber das spielt natürlich überhaupt keine Rolle, wenn man in der Werbung arbeitet, müssen Sie wissen. Wochenende ist was für Verlierer, höre ich Michael Douglas in einer Düsseldorfer Billig-Version von ,Wallstreet‘ dazu sagen.
Meine Güte, ist das ein verdammter Mist. Dieser Atzenberger! Dabei hatte ich den doch so schön in der Tasche. Ja, meistens sind es die Frauen der Chefs, die einem dann doch noch einen fetten Strich durch die Rechnung machen. „Och, ich weiß nicht, Liebling, irgendwie sieht das doch alles ganz blöd aus! Sag das mal dieser Agentur. Die sollen das anders machen! Irgendwie anders. Du bist doch der Chef! Du hast doch das Geld.“
Rotzverdammi! Es sind immer die Frauen, die einen verrückt machen.
Die Sonne scheint jetzt, als wäre es nie anders gewesen. Ist doch schön im Sauerland – und für einen Moment sind Düsseldorf und alle Atzenbergers dieser Welt dann doch so herrlich weit weg.
Inzwischen bin ich, noch immer reichlich durchgeweicht, an der Tankstelle vorbeigetrieft, wo wir früher immer mit unseren Mofas rumgelungert haben und die braven Schwattmecker, so gut es ging, angepöbelt haben oder sie wenigstens einfach nur durch unsere unverschämte Anwesenheit provoziert haben. Wie mir scheint, hat sich da nicht viel geändert. Ein paar Jugendliche mit aufgemotzten Mofas sind da, an derselben Stelle, und kurz davor, mich anzupöbeln. Das spüre ich. Weiß der Teufel, warum sie pöbeln wollen. Aber das wussten wir ja früher auch nicht. Doch weil ich sie durchaus kampfbereit ansehe und wahrscheinlich sowieso wie nach einer soeben vielleicht sogar siegreich überstandenen Schlägerei aussehe, kommt nichts und sie drehen sich nur erschrocken wieder um und rauchen großspurig ihre Zigaretten. Und einer lässt seinen lächerlichen Mofa-Motor aufheulen. Provinz-Rocker. Kleinstadt-Hachos!
Die kleine Stadt muss schlafen geh’n,
die Bürgersteige hoch.
Die Kneipe schließt, wer kann noch steh’n?
Bei manchen geht es noch.
Ansonsten wirkt der kleine Ort jetzt fast wie ausgestorben und meine platschenden Schritte hallen durch die leere Hauptstraße. Ich weiche noch nicht einmal den Pfützen aus.
Wahrscheinlich sind jetzt alle bei Pollmanns.
Und auch, wenn sich hier in hundert Jahren nichts großartig ändern wird, ein paar Dinge sind dann doch passiert. Hier war doch immer Paul Curry’s Frittenbude, fällt mir ein. Die erste Frittenbude der Welt – unserer kleinen Welt. Esskulturrevolution! Salzige Kartoffelstäbchen in spitzen Pergament-Tüten, die man zum Schluss aufreißen musste, um gierig an die letzten Stäbchen zu kommen, die immer schon ganz hart waren, aber trotzdem lecker. Fünfzig Pfennige. Mit Mayo sechzig. Die alte Post ist längst keine alte Post mehr ist, sondern ein griechischer Gemüseladen mit allen Herrlichkeiten mediterranen Grünzeugs und daneben sehe ich eine Art Büro, über dessen Eingang ein Schild mit der nicht ganz eindeutigen Aufschrift „Taxi Ali und Reparatur“ hängt.
Die Dinge ändern sich.
Ja, und hier hat Henni gewohnt. Hier, in diesem immer noch gelben Haus im Hermann-Löns-Weg, von dem aber inzwischen die Farbe großflächig abblättert. Henni Heggemann. Können Sie nicht kennen. Ich aber schon. Sie war meine Henni vor langer, langer Zeit, müssen Sie wissen. Und eigentlich sollte sie das auch für immer bleiben. Aber es ist was dazwischengekommen. Was eben meistens so dazwischenkommt. Nichts Bedeutendes eigentlich, meint man, aber eben doch zu bedeutend, um es einfach zu vergessen … tja. Wir waren jung, übermütig … und dumm ... ach, schade. Schon bei der bloßen Erinnerung an die Zeit mit Henni pumpt mein armes Sauerlandherz ein wenig hektischer, um das Gehirn in diesem Moment auf keinen Fall ohne kostbares Blut zu lassen.
Wie albern. Ist doch Jahrhunderte her, Heinz-Nobätt!
Henni, Henni. Was die wohl heute macht? Meine Güte, was war um die früher immer ein aufgeregtes Gedränge, weil sie eben so super aussah. Wir Jungs sind in unseren Hormonen fast ersoffen, wenn Henni ins Jugendheim oder auf einer Fete so voll erotisch hereinspazierte. Sie konnte das. Und wie sie tanzte! Sie bewegte irgendwie jedes Körperteil einzeln. Sagenhaft. Mir wird jetzt noch ganz schwindelig, wenn ich mir das vorstelle. Mit Henni wollten alle … gehen und so … aber mit mir hat es dann geklappt. Eigentlich unglaublich, besonders für mich, vor allem, wenn man an den Andrang denkt, der bei ihr herrschte – aber genau so war es.
Und das lag nur an der Gitarre.
Wenn wir damals alle irgendwie um ein Lagerfeuer oder auch nur um zwei, drei Kisten Bier herumsaßen, wenn die balzenden Männchen ihre dringende, unaufschiebbare Paarungsbereitschaft lautstark signalisierten, die Weibchen langsam, aber erstaunlich bereitwillig rollig wurden und man fast schon riechen konnte, worauf das finstere Treiben hinauslief, dann hatte ich meine Gitarre und natürlich alle Hände voll zu tun mit ’ner ganzen Menge von Akkorden. Und während dann alle irgendwann anfingen zu fummeln und zu knutschen, was das Zeug hielt, spielte ich „Blowin’ in the Wind“ oder so was. „Michelle“ oder „Girl“ von den Beatles kamen auch immer richtig gut.
Auch wenn jeder dachte, dass ich mit meiner zwar künstlerisch wertvollen, aber eher besonnenen Zurückhaltungstaktik auf jeden Fall schlechter fuhr als alle anderen, saß doch spätestens bei den letzten Tönen eines der schönen Lieder auch eines der schönen Mädchen neben mir und himmelte ein wenig an mir rum. Und das war schön. Und eines Abends saß Henni da, die schönste von allen, und ich habe sie nicht wieder weggelassen. Drei Jahre lang nicht, es war eine wunderbare Zeit mit ihr und dann lief leider eben was schief mit uns beiden. Mist gebaut, Missverständnisse, Streit und Gemeinheiten … und sie ist dann, von einem Tag auf den anderen, mit einem … BMW-Fahrer abgehauen.
Das tat weh. Ich hasse … BMWs. Ich habe sie nie wiedergesehen seit damals. Meine Henni. Aber vergessen habe ich sie auch nie. Ich denke nur nicht mehr so oft an sie. Habe ja auch schließlich genug um die Ohren.
„Ach, is’ doch auch egal, oder?“, sacht dat Sauerland jetzt wieder. „Mensch, Flottmann, wat geht denn da ab bei dir inne Birne? Is’ doch alles längst vorbei! Henni Heggemann? Vergiss es!“
Moment mal, Sauerland, ich frage mich ja nur, was die wohl jetzt so macht. Ist der … BMW-Fahrer wohl noch mit ihr zusammen? Fährt er immer noch … BMW? Wohnen beide vielleicht sogar noch hier, haben schon drei Kinder und er eine Tuning-Werkstatt und jeden Abend schwarze Finger und ein Goldkettchen um den Hals? Das sind doch interessante Fragen!
Aber das interessiert Sie jetzt wahrscheinlich überhaupt nicht.
„Boah, biss du dreckig, Onkel! Un ganz nass.“
Das Kind mit der soeben vernommenen Stimme, gerade mal einen guten frechen Meter groß und schätzungsweise sechs, sieben Jahre alt, stellt sich direkt vor mir in den Weg und scheint sich gehörig zu wundern, dass erwachsene Onkels so dreckig wie Pottsäue, triefend nass und abgerissen, durch öffentliche Straßen laufen dürfen.
„Bisse auffe Fresse gefallen? Oder bisse arm?“
Ja, das Sauerländisch wird hier von der Pike auf gelernt.
„Ich bin … arm“, antworte ich und hoffe, damit erst mal aus der gefährlichen Fragezone heraus zu sein.
„Deine Joppe is’ kaputt“, sagt das kleine Mädchen und zeigt erschrocken auf den zerrissenen Ärmel meines verdreckten Sakkos.
„Un du hass ’ne Beule, ’ne Beule“, singt sie grinsend und tanzend und zeigt jetzt in Richtung meiner Stirn. Sie stellt sich sogar auf die Fußspitzen und will die Beule anfassen. Fast kommt sie auch dran.
„Lena, getz komm!“, ruft da der Mann in unserer Nähe und das Mädchen blickt sich ertappt um. „Komma wech da! Lass den armen Onkel ma in Ruhe … un fass den ja nich an!“
Fass den ja nich an!, sagt dieser … Kerl. Ja, hör mal! So ganz habe ich die Pennerrolle ja noch nicht angenommen, bloß, weil ich so aussehe. Der grobe, unmögliche Kerl kommt jetzt auf uns zu … und mir doch irgendwie bekannt vor. Obwohl ich noch eben bereit war, ihn zur Rede zu stellen und möglicherweise auch handgreiflich zu werden, wenn es wirklich nötig sein sollte – natürlich vor dem Kind in einigermaßen angemessener Form und möglichst ohne Blut – starren wir uns jetzt beide ungläubig und nachdenklich an. Wer bist du, fremder grober Kerl, den ich kenne? Und er ist dann der Erste, der was sagt. Dieses seltsame, mir inzwischen völlig fremde Wort.
„Heino?“, sagt er.
Und ich sage: „Klaus?“
Dann sagt er wieder: „Heino?“
Ich sage dann erst mal nichts mehr. Aber es stimmt. Beide haben recht. Ich bin Heino und er ist Klaus. Und Klaus Klüter ist der Bassist unserer Band. WAR der Bassist. Vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren.
„Kennze den Onkel?“, fragt die kleine Lena Klaus Klüter, weil sie uns intensiv beobachtet.
„Jou“, sagt Klaus, „den kennich.“ Und dass er das „den“ so gefährlich dehnt, lässt nicht unbedingt auf Wiedersehensfreude schließen. Gleich geht er doch noch auf mich los nach all den Jahren. Grund genug hätte er eigentlich. Er hat damals seine junge Familie verlassen, um mit uns, der Band, auf Tour zu gehen und natürlich reich und berühmt zu werden, wie wir das alle wollten. Das mit der verlassenen jungen Familie war da eher weniger schön. Susanne, seine damalige Freundin, hat ihn vor die dramatische Entscheidung gestellt: „Ich und das Kind“, das ja damals noch ganz frisch war, „oder deine Mucke“, hat sie gesagt. Ich war dabei. Ich hab’s gehört. Und ich habe Klaus dann überredet, auf jeden Fall „Mucke“ zu antworten und das hat er auch gemacht und ist mit uns gezogen.
Und dann habe ich kurz darauf alles geschmissen mit der Band, und für ihn und die anderen war die Sache mit „reich und berühmt“ dann erst mal gelaufen. Und als er dann zurückkam von unserer letzten Tour, da war seine Familie nicht mehr da.
„Siehs’ besskhissen aus“, sagt er dann und sieht abschätzend an mir herunter. Der Klaus wohnt hier schon seit Hunderten von „Gahren“, also Jahren, müssen Sie wissen, und hat als menschliche Sprache überhaupt noch nie etwas anderes als diesen Dialekt wahrgenommen. Dat cheht nie wieder wech.
„Besskhissen, besskhissen!“, singt die kleine Lena und tanzt dazu um mich herum. „Und du sti-hinks’!“
„Na, Lena!“, wird sie sofort von Klaus ermahnt. „Wenn dat deine Mutta höat.“
Dann wendet er sich wieder an mich und grinst.
„Meine Chüte“, sagt er, „wat ham wir uns lange nich cheseh’n.“ Ja, da hat er recht. Und dann wird er etwas übertrieben ernst.
„Wegen dä Beärdigung, nä …? Wir war’n auch da aum Fritthoff. Hass mich abba nich geseh’n, woll? Ja, tut mir leid, dat mit deine Mutta, aber einma’ stärb’n se alle. Wat willze machen? So is’ dat ehm. Einer nach’em ander’n, wie die Fliegen kippen se um. Dann cheb’n se den Chriffel ab. Heute noch munter und morgen schon inne Wicken.“
Klaus war schon immer etwas gröber. Und direkt. Und recht hat er natürlich.
„Un wat is’ mit dir passiert?“, fragt er dann regelrecht besorgt. „Cheht et dir nich chut? Brauchsse Cheld? Biss ja total abcherissen.“
„Nee, nee“, sage ich eilig, „es ist nur … ach, mein Auto und ... mir geht’s gut. Danke, Klaus.“
„Du hass ’ne sskheiß Beule da“, meint er und nimmt das kleine Mädchen vorsichtshalber an die Hand, weil ich wahrscheinlich doch sehr gefährlich aussehe.
„’ne sskheiß Beule, ’ne sskheiß Beule!“
Das arme Kind. Dat cheht nie wieder wech.
„Lena, getz is’ abba ma chut!“
„Deine Tochter?“, frage ich ihn.
„Naja, so ähnlich, nä. Is’ die Tochter von meine Frau, die Rita. Bin getz nämmich verheiratet, musse wissen. Un Lenas Vatter is’ Uli Flasche. Müsstesse noch kenn’. War früher mit die Rita zusamm’.“
Uli Flasche kenne ich nicht.
„Lena is ’n Flaschenkind, woll! Hahaha.“
Dann ist es eine Weile still, die kleine Lena sieht mich interessiert an und popelt in der Nase und Klaus sagt dann: „Tja, chehs’ wohl auch nach Pollmanns hin getz, woll?“
„Ja“, antworte ich. „Da wollte ich jetzt hin.“
„Ja los, dann cheh’n we zusamm’n, woll?“
Und dann stiefeln wir gemeinsam los und so langsam kommt eine längst fällige Unterhaltung in Gang. Wir erzählen uns in einem Affenzahn, was in den letzten fünfundzwanzig Jahren so alles passiert ist. Schade, dass es bis zu Pollmanns nicht so weit ist.
„Sag mal, Klaus, hast du eigentlich mal wieder was von Henni gehört?”
6
Zosch und ab!
Ja, ja, da war einmal vor langer, langer Zeit eine Band „zugange“. Und mit Gitarren, Bass, Schlagzeug und einer schweren, braunen Orgel machte diese Band sehr schöne und sehr laute Musik. Und das war meine Band. Wir waren vier junge Männer, möglichst lässig und unerschrocken, und einer, der nicht ganz so lässig war. Aber der durfte trotzdem mitmachen, obwohl er außerdem noch eine dicke Brille hatte, leider nur kurze Haare, dafür aber einen sehr uncoolen Schnäuzer, einen Strickpullover, hellbraune Cordhosen und einen gelben Opel Manta. Aber: Er hatte eine große, tolle, braune Orgel, und darum war er dabei. Also waren wir fünf.
Ich, Gesang, Gitarre, Klaus Klüter, Bass, Günter „Günni“ Niggeloh, Solo-Gitarre, Harald Lüsebrink, Schlagzeug, und eben Horst „Holger“ Asbeck. Das war der mit der Brille, der Orgel, dem Schnäuzer und dem Manta. Und er hieß bei uns Holger, weil … naja, weil es einfach besser passte als Horst – zu ihm, zur Orgel und auch zum Manta, fanden wir.
Ich hatte damals einfach mal so für mich angefangen, Lieder zusammenzubasteln. Komponieren hätte ich das nicht genannt. Und texten war auch nicht so schwer, fand ich. Ich habe immer ziemlich gerne gereimt und es kam auch meistens was rundum Lustiges dabei heraus. Dann ein paar Akkorde dazu, ein paarmal kräftig schütteln, und schon kommt unten eine schöne Melodie heraus … und dann ist wieder ein Song fertig. Das hat Spaß gemacht hat. Und was sollte ich auch sonst tun? Das Studium der Sozialwissenschaften war einfach zu viel verlangt. Nie bekam ich diese staubigen Bücher zu Ende gelesen, die man uns zur Anfertigung wissenschaftlicher Arbeiten dringend empfahl. Ich konnte das einfach nicht. Ich war schließlich außerdem vielbeschäftigter Mitarbeiter eines musikalischen Unterhaltungs-Trios, das Oehme-Trio hieß, nach dem Gründer und Organisten Hans-Günther Oehme. Wissen Sie, bei dieser Art von Bands war der Tastenmann immer der Chef, also Hans-Günther. Ganz anders als im Rockbusiness, wo Keyboarder im Allgemeinen eher naserümpfend geduldet sind. Diesem sagenhaften Oehme-Trio gehörte ich lange Zeit fest an, um hin und wieder die Rechnungen eines ganz normalen Lebens zu bezahlen.
Dass dieses Trio seine unvergleichlichen Künste allerdings auf Polterabenden, Schützen-, Betriebsfesten und ähnlichen Besäufnisfeierlichkeiten zeigen musste, war außerordentlich erniedrigend. Ein schmutziges Geschäft, wenn man bedenkt, dass zum festen Repertoire immerhin „Schöne Maid“, „La Bostella“ und „Rucki Zucki“ gehörten.
Aber die Zugehörigkeit zu dieser musikalischen Vereinigung war sehr einträglich und daher erst mal doch gar nicht so übel, wenn man immer das gute Gefühl eines knisternden Hundertmarkscheines in der Gesäßtasche haben wollte. Außerdem war ich auch noch aktives, singendes Mitglied einer Blueskapelle, deren übrige Mitglieder von mir aber auf jeden Fall original englisch-amerikanische Texte abverlangten, die ich mittels eines Oxford Dictionnarys mühevoll zusammensetzte und mit einem lange eingeübten Slang vortrug. Das mühevolle Zusammensetzen machte aber keinen Spaß, der Slang war auch bescheuert und da fing es bei mir mit den deutschen Texten an.
Und ich hab’ mich dann auch, im Gegensatz zu vielen anderen, getraut, deutsch zu singen. Da war ich in den siebziger Jahren noch auf ziemlich gefährlichem Terrain unterwegs. Man lief immer Gefahr, dass die Leute mit dem Finger auf einen zeigten und böse Worte wie „Peter Kraus“ oder sogar „Karel Gott“ sagten.
Aber irgendwie schienen wir mit der ganzen Sache etwas getroffen zu haben. Etwas, das ja noch bis heute anzudauern scheint. Vielleicht waren die Texte doch mehr als nur nett und die Kompositionen mehr als nur ganz gut. „Misthaufen“ war sozusagen unser glatter Durchbruch. Von einigen als albern und blöd belächelt, aber von noch viel mehr anderen kräftig abgefeiert.
ZOSCH hieß unsere polterige Band nach „Zosche“, was man zu einem Bier sagen konnte, wenn man wollte. Ein Wort, das uns mal einer von den Berliner Bundeswehrflüchtigen in unsere Hühnerkackegegend mitgebracht hatte. Und da damals Bier immer in Reichweite war und wir es bedenkenlos und kubikmeterweise in uns hineingeschüttet haben – was sollte man sonst machen mitten im sauerländischen Busch –, haben wir einfach das Erstbeste genommen, was uns eingefallen ist. Und für eine mittelmäßige Sauerlandkarriere schien es uns voll ausreichend.
Zosche – ZOSCH. Damit waren wir in unserem Sauerländer Universum erst mal ganz weit vorne.
Unsere Songs hatten dank meiner unendlichen Kompositionskunst immer schöne runde Melodien und Zeilen, die sich wunderbar mitgrölen ließen, und nachdem dann die ersten zwanzig Menschen vor den Kartoffelkistenbühnen eifrig mitgegrölt hatten, wurden wir mutiger, haben die Songs mit zwei geliehenen Mikrofonen und dem Grundig TK 25, das meinem Vater Herbert gehörte, aufgenommen und an alle verschickt, die irgendwas mit Musik zu tun hatten. Sogar an die ganz großen, unerreichbaren und allmächtigen Plattenfirmen in Hamburg, München und Berlin. Viele haben unsere Kassetten natürlich nur mit zwei Fingern angewidert angefasst und sofort in hohem Bogen weit weg geschmissen, aber einige scheinen sie doch tatsächlich gehört zu haben.
Zwei echte Interessenten hatten wir am Ende. Der eine hieß Rolf Schmiedel und hatte Bata Illic und Roberto Blanco in seinem Sortiment. Der andere hieß Siggi Lucht und in seiner Hamburger Plattenfirma waren unter anderem Phil Collins und Eric Clapton. Wir entschieden uns für Siggi Lucht, obwohl Rolf Schmiedel ein paarmal höchstpersönlich bei uns angerufen hatte. Der große Rolf Schmiedel. Aber es hat ihm nichts genutzt.
Und diese tollen Hamburger Plattenleute waren sogar mit dem eigentümlichen Namen einverstanden – „ZOSCH, dascha wie bei ’ne Rakete. Zünden, ZOSCH UND AB“, sagten sie und lachten laut dabei. Und dann ging es auch ganz gut raketenmäßig los. Wir haben ein paar wichtige Musik-Wettbewerbe gewonnen und sogar wertvolle Preise eingesammelt. Ja, ja, ganz vorne mit dabei. Aber das ist noch nicht die ganze Geschichte.
„Henni? Die wohnt getz wieder hier“, sagt Klaus fast schon so nebenbei und er bemerkt gar nicht, dass ich augenblicklich hochelektrisch geworden bin.
„Die wohnt wieder hier?“
„Ja, ihre Mutter hat vor einiger Zeit auch de Biege chemacht, also, den Löffel abchecheb’n, un getz wohnt se inne alte, chelbe Hütte am …“
„… Hermann-Löns-Weg“, ergänze ich automatisch.
„Ja, du musset ja wissen.“
Ja, sicher. Das muss ich.
„Alleine?“, frage ich möglichst beiläufig und ich hoffe, dass Klaus nicht merkt, dass ich nicht beiläufig genug frage.
„Jaa, da chibbt et wohl so ’n Interessenten“, sagt Klaus mit viel Betonung auf dem letzten Wort. „Der taucht ab und zu mal hier auf, abba … ach, ich weiset nich genau. Man redet ja viel, woll.“
Mmh. Einen „Interessenten“ gibt’s also.
„Ja, un der Harald“, fährt er dann ungerührt fort, „der bringt dich um, wenn er dich sieht. Eiskalt.“ Dabei sieht Klaus einigermaßen ernst aus und ich muss einen Moment überlegen, ob er es auch wirklich so meint.
„Dat is’ klar. Der is’ wie ’n Elefant, weiße ja. Der verchisst nix. Un dat du ihm dammals au' noch seine Birgit ausgespannt hass, dat wird der dir auf geden Fall nich verchessen.“
„Das hab’ ich doch gar nicht!“
Ach, Harald Lüsebrink, unser Drummer und mein bester Freund vor fünfundzwanzig Jahren, hatte leichtfertig seinen Job als Zigarettenautomatenfüller gekündigt, und als es dann zuende war mit uns, der Band, hat er erst mal keinen neuen mehr bekommen. Und als dann auch noch seine ganz große Liebe Birgit Koschorreck mit ihm Schluss gemacht hatte, angeblich wegen mir, obwohl ich überhaupt nichts dafür konnte und auch überhaupt nichts hatte mit der Birgit, da war es dann vorbei. Er hat mir einfach nicht geglaubt.