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Umsonst war es gewesen, wie die leere Kammer. Nun liegt die einst gesehene Vision neu in ihrem Atem und sagt, Joos' Tod ändere am Recht im Leben kein Fitzelchen, auch nicht die Erde unter der Eibe. Auch ihr Alleinsein verebbe, während sie sich dem widme, was mit der Hände Arbeit gedeiht.
Erfüllt von ihrer Erkenntnis, die ihre Hoffnungslosigkeit verdrängt, folgt sie diesem Vorsatz und greift aus dem Heu einen Ballen, trägt den zur Box, streichelt anschließend die warme Flanke der Kuh.
Beim Melken zupft die Kuh gemächlich Halme aus der Schütte, muht ab und an zufrieden. Helenas Gedanken fliegen derweil zum Schiet unter ihr, zur Miste draußen, zu dem Wetterpfeil auf eisernen Willen, schichte sie den Haufen um auf Kartoffel- und Gemüseacker. Einzig ihr Stolz, so erkennt sie bald, darf nicht auf die Miste! Er bewirke den Mut mit den Ahlbeeker Viechern im Stricken. Die Eibe blinke ihr doch wie das Leuchtfeuer am Turm seewärts zu, beseele sie. Indes fehlt irgendetwas doch noch, während die Milch in den Eimer rinnt, der Hals der Schwarzgefleckten einmal schaukelt.
„Fühlst du mit? Dir liegt die Käserei näher“, raunt Helena ihr zu, drückt ihre Stirn ins Fell der Flanke.
Unruhig stampft ein Hinterbein auf, das Helena tätschelt, dann aufsteht, den Melkschemel nahebei zwischen zwei der Streben im Ständerwerk der Pfosten klemmt. Weite Kuhaugen drehen sich ihr zu, und kehliges Muhen, dem sie sich nähert. Die Zunge der Kuh leckt durch ihr Gesicht. Kichernd wischt Helena den Seim am Ärmel ab, ergreift den Milcheimer und den Jutesack mit Heu.
So schnell wie möglich quert sie im Hof das böige Wehen; es trug die Nebelschwaden fort. Ihr Herz klopft deutlich rascher, als sie bald darauf vor den Socken am Tisch sitzt. Sie ribbelt und sortiert Wolle nach den natürlich grauen Farbtönen der Schafe und weiß nichts Wichtigeres zu tun, bis das abendliche Zwielicht sie zum Melken ruft. Helena versorgt flink die Schwarzbunte, prägt sich deren Formen ein, schon dabei überdenkend wie es weitergeht.
Der Bogen aller Körper wäre in gleicher Art wie im goldenen Schnitt zu entwerfen, auch die kräftigen Hälse, kurze Beine, Pfoten und Hufe. Das Verhältnis bestimmt, wie eines wirkt, ein Tier an den Beinen steht. Eine Passe aus Stoff würde es hübsch betonen. Kapuzenjacken mit Ärmeln sollten es werden, mit deutlichen Nähten an Kopf und Maul, in die Kinder später hinein beißen dürfen. Dafür würden Joos’ Küstenklamotten dran glauben müssen.
Bis weit in die Nachtstunden hinein heftet Helena. Sie gibt verstimmt ihre Entwürfe für tadellose Schnittmuster auf, als an die Fenster immer öfter Hagel knattert. Eindringlich pfeift der Luftzug über die Dielen, flirrt und kreiselt im Kamin in Glut und Asche. Die kehrt Helena zusammen, und geht schlafen. Traumlos verläuft die Nacht, in der sich ein Sturm absoluter Art ungebremst entlädt.
In den nächsten drei Wetter verhagelten Tagen hört Helena ihre Schwarzbunte in gereizten Tönen muhen und überdrüssig quengeln. Fast erwartet Helena, den massigen Kuhkörper im Dreieck in der Streu springen zu sehen. Sie selber täte es, würde es das Drama abstellen. Allein ihre Gewissheit lenkt sie ab, irgendwann ende es, nur einander im Anlehnen zu halten. Doch ihre triste Unruhe bleibt. Die kurzen Wege in der Scheune und zwischen den Wänden der Kate reichen nicht aus. Am nächsten Morgen stiefelt Helena, den Kopf umhüllt und in den Mantelkragen gezogen, in eiskalter Februarluft ans Ufer. Am Wasser driftet ein Boot mit erdbraunem Segel gen Horizont. Den Vorgang überträgt sie auf sich.
Fischer geben nie auf, schippern immer. Auch wenn sie auf Wellen der Armut um Seelenruhe ringen. Joos sprach genau das für sein Drücken vor der Feldarbeit. Auf ewig nun. So ewig muss ich bewahren, was mich erhält. Viel Feines schon entdeckte ich, strickte nach Eingebung. Die führe weiter, folgert auch Lehrer Johann aus den Wolken, an denen er sich besinnt. Und die Seeluft hilft mit, das Grobe von einst durch Feines im Jetzt zu ersetzen, alte Flausen zu vertreiben.
In solch gnadenvollen Gedanken, atmet Helena tief erlöst in die Brust unter ihre verschränkten Arme, geht am Ufer ostwärts. Sie gelangt an die Verwüstung des Sturms. Zur Flutgrenze hängen Kiefern mit verkeilten Kronen, teils entrindet von der sandigen Brandung. Helena hangelt sich hindurch und zum Pfad des flachen Findling, der Landmarke nach Swinemünde.
Sie springt auf den Stein. Zutiefst vom Toben der Elemente betroffen, ignoriert sie den wüsten Windbruch, blickt seitwärts hinab. Am Strand gehen ein paar Heranwachsende in Winterjacken. Ab und an beugen sie die bemützten Köpfe tiefer, wühlen mit den Händen im Sand, sammeln eindeutig Bernsteine. Kaum angedacht, stockt Helenas Atem, flirrt ihre Sicht als träfe sie Hagel, wiederum zur Erledigung restlicher Geschäfte umgeschwenkt. Im Gesprenkel gewahrt sie eine Bewegung aus dem borstigen Dünengras oberhalb hervorkommen.
Zwei torkelnde Männer mit Schirmkappen wanken heraus, heben die Füße nicht. Ihre Stiefel stieben Sandregen auf, als hätten sie Spaß. Sie schlingern zum Wasser, und laufen davor ungestüm seitwärts, entreißen die Beutel den Sammlern, zerren sie grob an den Armen mit sich.
Helena atmet stoßweise, es klärt ihre Sicht auf den Strand, aber schickt ihr erregende Stiche in ihr Gemüt. Ihr Blick wandert wie gefesselt unten umher. Das dort sieht sie nicht zum ersten Mal und spürt, im Grunde oft entkommen zu sein. Sicherlich, vor allem, denke sie an Joos’ Verbot, der mit den rangelnden Kerlen erstklassig umgegangen wäre. War es so gewesen?
Eine kleine Scham spürt sie Gestalt annehmen, er hätte mehr Kraft. Dieser Regung folgend, wird sie ihrer Kraft sicher. Nicht weniger vehement verfolgt sie das Geschehen, unter ihr erzittert der Stein, auf dem sie steht. Doch mehr irritiert sie ihr Nichtverstehen des unten nur sichtbaren Geschreis, vor dem der Wind an- und abebbt, und in den hinein sie murmelt: „Kinder, brutal erwischt ...“
Ein lausiger Moment vergeht. Dann sieht sie nahebei am Rand der Böschung zwei weitere hinunter spurten, sie rufen und fuchteln. Die Männer blicken rückwärts. Ungestüm reißt ein Kind sich von ihnen los, tritt eine Spur in den Sand und stolpert in ein von Gras bestandenes Areal, verliert seine Mütze vom roten Haar. Das andere Kind zerren die Männer fort. Helena seufzt, ob des Schauers, was dem Kind in den Fängen der Männer blühe. Sie springt vom Stein, um zu der Chaussee zu gelangen, die Richtung Swinemünde führt, und daran einfacher umzukehren.
In den Hagelwehen darauf fährt eine schwarze Kutsche an. Unter den Rädern spritzen knirschende Eisklumpen, als sie an Fahrt gewinnen. Der Kutscher peitscht die beiden Gäule, mehr als nötig wäre. Voraus auf Helenas Seite zwängt sich der Rotschopf durchs Randgestrüpp und setzt an, hinüber zu sprinten. Zu ihm lenkt scharf der Kutscher sein Gespann. Der Junge kippt beim Ausweichen und stürzt rücklings ab, hält jäh sein Knie, schreit scharf und laut heraus. Dann bricht seine Stimme.
Im Moment des Vorbeifahrens schaut ein alter Mann durch das Rückfenster. Sein kalter Blick trifft Helena, stoppt abrupt ihre Schritte. Ein befehlendes Klopfen im Wageninneren hört sie. Der Kutscher lenkt zur Mitte der Chaussee. Kleiner und kleiner wird der schwarze Punkt zwischen den winterlich kahlen Bäumen. So lautlos wie die Böen an den Ästen rütteln, so verhallt das Trappeln der Hufe .
Helena wirft die Arme hoch. Sie eilt zu dem ins Gebüsch Gestürzten. Eines seiner Hosenbeine tönt rot sein eigen Blut, tränkt einen größer werdenden Fleck. Angst und Entsetzen verzerren sein Gesicht. Hilflos zwinkert er. Seine Pupillen gleiten umher, nehmen Helena gar nicht wahr.
Keuchende Stimmen nahen. Die Halbwüchsigen, zuvor lenkten sie die Häscher ab, steigen über die schneebedeckte Böschung. Im Lauf noch streifen sie ihre Beutel von den Jacken. Der Größere hockt sich nieder und rüttelt an den Schultern des Gestürzten.
„Du bist nicht zu uns gerannt“, raunt er vor den wirren Augen, aber ändert damit nichts.
Der Rotschopf stöhnt nur kurz noch. Bewusstlos sackt er ab, gibt alle Spannung frei, sein Kopf sinkt zur Seite. Eine Beule wächst im Haar hoch auf, knapp vor der Schläfe, dem Ohr.
Erschüttert sinkt der Kleinere, herangekommen, auf die Knie, kauert mit hängenden Armen daneben. Er schlüpft aus seiner Jacke, bedeckt die blutige Hose, lagert den Kopf in seinen Schoß und stülpt ihm seine Mütze über.
„Lieber Bruder“, murmelt er leise. „Vater kommt und holt uns auf der Postrunde hier ab.“
Sein Wispern hallt ringsum in die frostkalten Böen, und erzeugt in Helena ein grausiges Erkennen.
„Marthas Söhne seid ihr? War der andere auch ein Bruder?“
„Nee, der ist von Bansin. Wir wechseln ab, wer aufpasst.“
Auf und ab blickt er mit weiten Augen, vom Kopf im Schoß zu Helena, die eigentlich auf mehr wartet.
„Wohin habt ihr denn aufgepasst? Eure Warnung kam zu spät, Betrunkene waren das keine! Ich kann kaum glauben, wie naiv ihr seid! Nun wisst ihr, wie das Leben spielt! Euer Bruder wird sich obendrein unterkühlen.“
„Soll ich ihn wach machen?“ Er klatscht ihm sogleich seine kleine Hand auf die Wange.
„Lass! So merkt er nicht, wenn wir ihn verfrachten müssen“, erwidert der größere Bruder, der schon aufspringt, sich umschaut in beiden Richtungen. Er scharrt mit dem Fuß im Schotter und reckt das Kinn, gerade so als mache ihm der Vorfall nichts aus, doch zucken seine Lider.
„Wir wurden nie ausgeraubt. Der Bansiner bezieht Prügel zum ersten Mal. Pech, die zahlen keinem von uns ein paar Pfennige.“
„So kaltschnäuzig? Du warst doch auf ihn angewiesen! Hätte dich treffen können.“ Helena knotet ihr Kopftuch ab, reicht es ihm und lächelt aufmunternd. „Bevor das Warten kein Ende nimmt, und er noch mehr Blut verliert, lege ihm einen Pressverband an. Das lerne aus eurer Misere. Roll deinen Beutel als Kompresse fest zusammen.“
Er scharrt abwägend im Schotter. So oder so haben ihm die Freundinnen der Mutter nichts zu sagen. Doch ein Glück im Pech fühlt er, als seine gesammelten Bernsteine wie Hagel prasseln, hinein in den Beutel des Bruders. Er kniet sich gehorsam neben das blutige Hosenbein, und vermeidet es, genauer hinzusehen.
Nach einer halben Stunde des Bangens galoppieren die Pferde der Postkutsche endlich heran. Die zügelt der Fahrer im Nähern. Helena sieht er an, seine Söhne. Steifbeinig steigt er ab und nimmt den Verletzten in die Arme, hebt ihn in die Kutsche.
„Wärmt ihn mal“, keucht er, rau vor Zorn, durch die Zähne.
Helena mag sich nicht vorstellen, wie er auf der Fahrt heim wüte, der Morgen des Sammelns von aus der Ostsee ausgewaschenen Bernsteinen hätte seinem Sohn das Leben kosten können. Sie eilt heim, bei jedem Schritt bemüht, die Begegnung zu vergessen.
Während sie die Hintertür öffnet, drängt schon eine Gewissheit ihrer selbst in Helena auf. Und Mut für die Stiege in der Vorratskammer, um hinaufzusteigen unters Dach, selten benutzt im Winter.
Dumpf im Schulterschlag, stemmt Helena die Bohlentür auf in den Dämmer der Sparren, und hockt sich am Giebelfenster vor die Seemannstruhen, öffnet die ihre. Darin lagern in der Schatulle Urahnin Elis Segeltuchbeutel, von ihr an der Landverbindung der Halbinsel Hela mit Bernsteinen gefüllt.
Gedankenvoll schaut Helena auf den geheimen Schatz, zu dem ihre Mutter riet, er halte die Sorge um das nächste Stück Brot fern. Verbrauchen dürfe sie etliche Bernsteine, sollte neue sammeln, sobald sie könne. Den Schatullendeckel mit der Rosette streichelt Helena wissend, nach dem Sturm sei eine gute Zeit zu sammeln. Ein Finger zentriert sich am Mittelstein der Rosette, am Ritzmuster der Rune, und spürt, mehr als erkennbar im wenigen Licht vom Fenster, die Kerben des seltsamen Zeichens. Ungleich lange drei Linien, spitz über Eck stehen sie über Kopf, als würden sie den Urquell des Bernsteins anheben, und zum Sieg über die Not verhelfen.
So winzig fein ihre Macht, dankt nun Helena still dem Urgroßvater, auf seinen Handelsreisen nutzten ihm die Runen. Ihr eröffnet der Moment, was ihr Herz für nötig zu erkennen erachtet.
Helenas schmale kalte Hand streichelt vorne den Deckelrand. Ritzmuster an drei Steinen verlaufen in ungleichen Formen, und vermitteln der sinnlichen Weite ihres Herzens den Anblick unermesslicher Tragkraft. Rechts am Eckstein sind Kerben dem Mittelstrich jeweils unten und oben angefügt, weisen spitz nach außen wie bei einem Haken, der etwas aufhängen und erfolgreich tragen kann, etwas sehr leicht auswechselbares. Helena sieht spontan die immergrünen Zweige der Eibe, spitze Nadeln. Tief drückt das Bild in ihre Seele, und vor die Hindernisse vor dem Erfolg mit ihren Stofftieren. Doch wie das Immergrüne und deren Duft, atmet sie den Anblick der Rune ein. Sie schöpft Mut zum Erfolg aus ihrer Zukunft und aus fernen Orten, an denen Wunder geschehen.
In der Ecke unten links liegt ein Stein, dessen Linien ihr unheimlich sind. Mystisch kreuzen dort zwei Mittelbalken die lange Kerbe. Wie schon oft, kreiseln sie Helena vor Augen. Not steigt ihr auf, sperrt als Kloß den Hals. Zuerst. Den Kloß zerschlägt kraftvoll ihre Atemwärme. Notstand muss ausgeräumt werden, Schutz und Geborgenheit sollen innen leben. Wie das Licht eines klaren Eiskristalls kann ihr Unbeschwertheit dazu verhelfen. Bald betrachtet sie genauestens die Mitte der Deckelkante, darin den Bernstein mit kreuzenden Linien zwischen aufrechten Kerben, ähnlich einer Fahne, seitlich weist ein Dorn nach links. Helena richtet sich aus, wächst ein Stück in diese Bindung hinein, die sie vorhat. Und sie räumt aus, was in ihr noch von dem Unnötigen im Gemüt sie bremst und zwickt, als gäbe ihr gerade diese Rune die Resonanz auf kommenden Geldsegen.
Helena versteht es, klappt den Deckel zu und drückt daneben Joos’ Truhe auf, ertastet Dokumente und eine sperrige Socke. An der abgewetzten Ferse lugt Papier hervor. Sie legt den Strumpf auf ihren Schoß. Tiefer im Truheninneren tupft sie auf einen zweiten, nachgiebig voll. Sie löst den Knoten, und steckt die Hand hinein. Leichte Bernsteine rieseln, deren Leuchten sie ahnt.
Plötzlich sieht sie Joos an der Tür auf Socken, und hört ihn verdreht reden von seinem Notgroschen. Die Not haue ihn aus den Socken, und, wer ohne Schuhe gehe, stehe unter einem schlechten Omen, würde sich bald keine mehr leisten können. Doch das war oft gehört, und jetzt sowieso nur lästig und hinderlich. Sie verscheucht ihn mit abwehrender Hand, knallt den Deckel auf seine Truhe. Die beiden Wollsocken in ihren vor Kälte steifen Fingern, steigt sie die Stiege herunter.
Joos’ Gold der Armen kippt sie am Tisch aus, bedeckt die halbe Platte mit seinen Notgroschen, und entschließt sich vor diesem Reichtum, noch vor Beginn ihrer Arbeit im Lebensmittelladen fahre sie nach Stralsund. Die Stofftiere müssten doch in einem Kaufhaus unterzubringen sein, und nachfragen um Geschäfte mit Bernstein könnte sie auch gleich dort.
Ihren Mantel wirft Helena auf den Haken an der Küchentür. Er baumelt, indes sie im Kamin ein Feuer anzündet, den Wasserkessel füllt, die Teekanne vorwärmt. In die Kök hinein zieht allmählich Wärme, die ihre Unruhe kaum lindert. Vieles bringt sie aus dem Lot. So, wie in der anderen Socke die Zeitung, und das ausgewickelte Intarsienkästchen. Unter dem Datum des Ostseebeobachters prangt eine in Fett gedruckte Zeile: Dampfer sank nach Kesselexplosion. Ja, ja, Joos fischte nach Treibgut, geht ihr auf. Und sein Bangen, die alte Flause, empört sie obenauf wie seine lange ertragene Lebenslüge.
Kurzum öffnet Helena den Schließhaken. Der Kasten zeigt ein Pfeifenbesteck in Laschen, wellig vom Seewasser. Sie klappt den Einlegeboden herauf. Wo sonst Tabak aufbewahrt wird, da liegen trübe Reichsmarkmünzen. Gestockt sind sie, doch blinken blank wie ein Berg von reinem Gold für Helenas vollkommenes Dasein, feuern an gegen den Glauben an Mangel, und für einen nächsten Schritt.
Schauer rieseln warm über Helenas Kopf und Ohren, die sich ausrichten zum Kamin. Na gut, dessen rissiger Schlot bietet ein Versteck an. Sie reckt sich hinein in den rußigen Rauchfang.
In der Nacht wärmt eine Kanne Tee Helena. Dabei strickt sie so nachgiebig wie sie an Martha denkt, die um das Leben ihres verletzten Kindes bangt. Wie sie, vor der Gefahr. Aber könnten die Häscher überall gleichzeitig sein? Eine Witwe, von Fischweibern gemieden, geht hinaus vor die Tür und an den Strand.
Am nächsten Morgen folgt Helena der Chaussee ostwärts durch den Wald, wandert am Rückerweg zur Bucht vor Swinemünde hinab. Der Kiefern horizontal gewachsene Wipfeln stimmen sie durch den nachgiebigen Zauber daran auf ein Quäntchen mehr von Zuversicht ein. Und den wolkenlos hellblauen Himmel darüber bittet sie, er möge ein Einsehen haben, auch für ihren Mut.
6
Ein eisiger Ostwind bläst ihr entgegen am Ufer. Vor der Wasserlinie liegen Muscheln und alljährlich angeschwemmte kleine Bruchstücke von Bernsteinen. Helena beugt den Rücken, geht zur Linken voran. Die auslaufenden Wellen plätschern, säuseln den Kopf frei. Anderes blenden ihre Augen aus, hellwach im Acht geben auf den Sand.
An einer besonders ergiebigen Stelle klaubt Helena aus den Muscheln winzige Stücke in gleichstark gelber Farbe. Und einige Schritte weiter, als die Bucht heller in der Morgensonne daliegt, dreht sie tatsächlich einen handtellergroßen Brocken um.
„Groß, wundervoll! Nur wer sehen kann, entdeckt Schönes!“
Helena wischt die Sandkrümel mit kalten Fingern ab und hält den Fund ins Licht. Der winzige lichte Moment reicht ihr. Über alle Maßen begeistert hüpft sie wie ein Kalb auf der Weide, vor lauter Spaß am Finden satt, am Dasein, von Sorgen erleichtert. Hoch auf reckt sie die Arme, zerrt am Mantel vor Erregung. Ihre freudige Überraschung entlädt sie zwischen Händen und Füßen im Herumhampeln mit herzig sich anfühlenden Luftsprüngen, die ihre Existenz ehren, reich an Esprit im Kern.
Einen hüpfenden Sprung aber setzt Helena aus und es schlägt eine auslaufende Welle am Mantel hoch; sie springt nicht rasch genug fort. Eiskalt überflutet es schon ein weiteres Mal die Stiefel. Sie überhört den Reiter, hebt den Kopf erst, als der nasse Sand platscht, und ihr entgegen der weiße Fleck am vertrauten rehbraunen Gaul galoppiert. Oben auf sitzt Ansgar, für Joos ein recht vertrauter Freund aus Schuljahren, und er zügelt sein Pferd.
„Helena auf Beutezug!“, spottet sein Bariton.
Ihr Glück verschwindet in Ernsthaftigkeit, und ihr Fund jäh im Beutel am Arm, und sie höher auf den Strand. Wachsam erwartet Helena fast, was am Vortag geschah, wähnt ihn aber doch zu kennen.
„Weswegen bist du hier? Reitest du zum Vergnügen aus?“
„Flucht vor Friederikes Scheuerlumpen. Es kommen noch keine Sommerfrischler, deren Kutschen ich repariere und die mich von Rike fernhalten. Der Haussegen hängt schief!“
Er stöhnt kehlig. Erschreckt tänzelt das Pferd seitwärts, reagiert dann auf Ansgars Klopfen an seinen Hals, wirft aber schnaubend den Kopf mit der herzförmigen Stirnraute hoch. Als er dann ruhig steht, blinzelt Ansgar zu Helena.
„Steige ich auf Rikes Tiraden ein, schläft keiner nachts ruhig. Sie lamentiert vor Ungeduld, sitzt auf glühenden Kohlen, will endlich den Schankraum eröffnen. Bis dahin, bearbeite ich Bernsteine.“
„Ansgar, zu ähnlich seid ihr zwei euch! Aber flüchtest du nochmals, dann vor die marode Luke an meinem Käsekeller. Mein essbares Gold sollte bis zum Verkauf gesichert sein.“
Zwischen den Mützenklappen, die seine Wangen vor dem Frost schützen, blitzen tiefblaue Augen auf. Helena versteht, er würde es sofort. Doch sie blinzelt ins silbrige Licht über der Bucht, und weist mit einem Kinnruck gen Osten.
„Dahin reite, ich kehre um und sammle am Rückweg. Meine von Seewasser nassen Stiefel werden eisig kalt. Komm später, ja?“
Ihn hört Helena schnalzen, dann ostwärts fort galoppieren, um wohl an der Strecke zurück dann vom Pferd zu steigen. Eine Handvoll wie Perlen kleiner Bernsteine sammelt sie noch, bis im Blick voraus Ahlbecker Dächer liegen. Auch vermittelt ihr der Strand, nichts Außergewöhnliches wäre übrig, es klaubten schon Andere ihre Ausbeute nach den Sturmnächten heraus. Und inzwischen schmerzt ihr der Rücken vom Beugen, die Füße in den patschnassen Stiefeln sind gefühllos. Quer durch den Acker stelzt Helena, und strauchelt oft, nur noch in der Lage ihre Schritte langsam und maßvoll zu setzen. Aber es blinken im Gemüt die Hopser vom Morgen. Helena staunt über sich. Sie hatte schon leichte Beine! Vermehren sich ihre Glücksmomente doch noch?
Nachmittags prescht Ansgar heran. Sie winkt ihn zur Westseite. Nach genauem Betrachten sagt er zu, er hole die Kellerklappe im Pritschenwagen ab und zu sich. Er reibt seine verfrorenen Hände.
„Haste Tee zum Aufwärmen?“
Helena nickt. Ihr nach stiefelt er auf sandigen Sohlen, plumpst auf einen Schemel am Tisch, knöpft seine Jacke auf und räkelt sich. Metallischer Dunst entweicht seinem Wollpullover, registriert Helena fraglos, und füllt Tee in seinen Köppen.
Ansgar dreht den hölzernen schmalen Kugelstab im Honigtopf, ein bernsteinheller Faden rinnt dann in den dampfenden Köppen. Bei einem bedächtigen Schluck daraus, entschließt er sich, nicht auf Helenas desolate Situation einzugehen, nur auf diese Begegnung. Er reckt eine schwielige Pranke.
„Sieh, ich erlitt ein bedauerliches Missgeschick.“
Er denkt an seine Bottichwaschmaschine. Sie gleicht einem voluminösen Butterfass, an dem er seit Tagen Teile einpasst, schon Walzen daran sieht, die das Wasser aus der Wäsche pressen. Ja, nicht nur Amerikaner erfinden derlei und mehr andere Maschinen. Schon verklärt ein Lächeln seine Züge.
„Schiet passiert eben vorm Ende.“
„So? Haste etwas Geniales erfunden?“
Er krumpelt seinen Rollkragen, streift über seine Kehle.
„Ich schnack nicht vom Braten, bis die Sau hin ist. Gedulde dich, ich bearbeite Bernsteine. Dafür gibt es Bares - fahre ich im Sommer für Lohn zur Fähre - oder manches Eisen auf diese Art.“
Helena kennt seine Art von Geschäfte-machen aus dem Geplauder mit Friederike und kichert auf, auch, weil ihr Herz auf einmal laut und unruhig klopft. Rasch hebt sie ihre linke Hand mit den zwei während dem Nähen zerstochenen Fingerkuppen.
„Auch ich probiere Neues, mehr Kleinigkeiten schaden meinen Fingern kaum weniger! Es dauert ja noch lange bis zur Tag- und Nachtgleiche. Ich übernehme, bevor mich mein Land im Frühling zum Beackern hinausruft, auch von Joos das Bernsteinpolieren.“
Ansgar verschweigt, was er zu beidem meint. Eilends trinkt er vom Tee, räkelt sich dann in das schräg einfallende Licht.
„Wird lausig da draußen, ich will heim. Bleibe du nur in der Wärme hier sitzen.“
Helena hört ihn, und seine Zurückhaltung, fortreiten. Eine ganze Weile näht sie, bis in die windstille Nacht hinein, viele kleine Ohren den gestrickten Kälbchen an. Auch an ihrer Unruhe denkt sie herum, sinnt und rätselt, doch nichts vertreibt ihr das dröhnende Herzklopfen. Und so arbeitet sie hellwach bis weit nach Mitternacht. Es dringt kein Laut von außen ein und nichts ins Gewirr des Unbekannten, in dem goldene Bernsteine leuchten wie ein ewiger Sommer, und einen Reigen tanzen durch ihre wandernden Gedanken. Auch hinein in die Frage, ob sich etwa ein Wetterwechsel ankündige, der mehr Februarkälte bringt? Oder sollte sie das Feuer schüren und bis zum Morgen weiterarbeiten? Ach, das ewige Wasserschleppen. Was gäbe sie für einen Ofen, der das Waschwasser anwärmt. Ob Ansgar so etwas installieren könnte? Er dient seinem Genius, ihm würde sie gut zureden ... Je früher sie loskomme, um so eher treffe sie ihn.
So geht es zu in ihrem Gemüt, bis die Morgensonne durch die Konturen im Wäldchen aufsteigt. Ein blauer Schimmer liegt auf der Schneedecke, als Helena an knirschenden Sohlen westwärts eilt. Bald an der Ahlbecker Chaussee dringt Kälte unter ihre Röcke. Durchfroren biegt sie ins Dorf Bansin ein, dessen wenige Katen liegen in den Wiesen seeabgewandt hinter dem Anwesen des Wagners Ansgar.
Mit der Faust schlägt Helena mehrmals an die Pforte. Kurz darauf und hinter dem Stalltor ertönt eine Antwort. Sogleich scheppern die Torangeln. Ansgar öffnet spaltweit und zieht Helena herein, sichert das Tor mit dem Schieberiegel.
„Wunderte mich, kein Hufklappern gehört zu haben. Notfälle versauen bloß den Tag. Pressiert es dir mit der Luke?“
Helena haucht an die Kälte in den Händen. Sie mustert seine graue, schlampige Wolljacke, und riecht den von der klaren Luft getragenen metallischen Geruch, der ihr entgegenschlägt.