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„Die nicht, Ansgar.“
Er reibt an seiner Kehle, geht aber voraus der leeren Boxen im Stall. In der letzten scheuert sich der Kaltblüter an einem starken Ast, bevor seine Hufe durch die Streu schleifen, er am Gatter schnauft. Flache Klopfer gönnt Ansgar ihm, streift sachte auch über die Nüstern, das weiße Herz an der Stirn.
„Mein Freund vermisst Kumpel, hört er uns Lüüt. Rike liest schon lange im Ostseebeobachter. Komm weiter zur Werkstatt.“
Er geht über die Lagertenne. Dort verstauben allerlei Blechstapel, auf die das Dämmerlicht genauso fällt wie auf geformte Gussfüße, die Tatzen ähneln, von Helena entdeckt. Ansgar folgt sie durch eine Tür. Rauchtrüb flirrt es vom Kamin darin und längs der Wände, angefüllt mit einer kreativen Ordnung von Speichenrädern und schmiedeeisernen Radbändern.
„Schau dich nur weiter um, Helena.“
Ansgar faltet, angelehnt an den alten Schleifstein, ergeben die Hände. Helena tritt hinzu der mit Zeug behäuften Werkbank, knöpft den Mantel auf, legt ihn ab. Während die wohlige Wärme allmählich die Kälte aus ihren Gliedern treibt, und ihr Blick mehr erfasst, entfährt ihr:
„Was ist denn das?“
Abwägend äugt Ansgar zu dem Monstrum, um das herum gebogene Bottichplanken am Boden liegen. Seit der Frühe prickeln fertige Ideen im Nacken. Helena stört seine Schaffensphase.
„Das wird eine Waschmaschine, aber deswegen kamst du nicht zu mir, sagt mir mein Genius.“
Ansgar wischt über die Kante, an der Helena lehnt, staubt gelbe, ölige Krümel an ein Hosenbein. Er tippt auf die winzige Kurbel eines Handbohrers, und winkt Helena. Er stellt sich vor ein aufgebocktes Fass mit Kurbel.
„Bernsteine vom gestrigen Fund liegen darin. Schau zu. Eine Handvoll Sand gebe ich hinein, kurbele sachte. Die Poliertrommel läuft rund wie ein Rad, arbeitet feiner als mein Schleifstein.“
Oder wie Joos von Hand hinbekam, ergänzt Helena still bei sich, und beobachtet Ansgar einen Hebel kippen, das Fass in ein Sieb auf einem Eimer entleeren, die Bernsteine auffangen.
„Ich wiederhole es manches Mal , bevor sie mir glatt genug sind. Einzelne Akkurate klemme ich in den Schraubstock und bohre an günstigen Stellen ein Loch für Ketten, um sie aufzufädeln. Es braucht auch eine Menge an Druck, soll die Welle schwingen und damit die Bohrspitze dann wie eine Nadel hindurch gleiten für ein sehr feines Durchzugsloch.“
Ansgar mustert das Schüttgut, füllt alles zurück. Er nimmt eine Zange vom Werktisch, spielt mit deren Hebeln, wiegt sie und will etwas nachdrücklich betonen. Flugs sieht er in den kalten Morgen hinter dem Hoffenster, schürzt sodann die Lippen.
„Unsre Bansiner haben ständig Ärger mit den Strandwächtern. Die sind eine Plage wie die Krätze, bedienen sich der Angst der Sammler, nehmen sie in die Zange und bereichern sich, verdienen sonst ja nix. Wer in deren Fänge und Bösartigkeit gerät, muss ein Leben lang Anholen.“
Helena sieht es bildhaft vor sich. Ansgars rauer Ton sticht ihr ins Herz, dennoch weicht sie nicht aus.
„Du begibst dich doch auch in Gefahr!“
Plötzlich schwillt Ansgars Hals. Sein Innerstes erkennt den Weg, ein Ventil. Ansgar schleudert die Zange auf die Werkbank. Es scheppert, Staub flirrt von den präzisen Bauteilen auf.
„Mir zuckt die Hand, denke ich an diese Kerle! Versteh doch, wie sie sein können! Trifft mich deren allgewaltige gegenwärtige Kontrolle, käme damit das Aus für meine Ideen.“
Zur Waschmaschine federt sein Blick, an der er weiter mache nach einer Zugabe im Ausreden, um Helena umzustimmen. Er reckt sich, krempelt die Jackenärmel hoch. Doch sacken ihm die Schultern schon ab. Sie wird seine Warnung nicht schätzen.
„Die Schieber bei der Fähre verraten nicht mich, brauchen mich anderweitig. Verkaufst du dort ein Mal nur, dann wirste ausspioniert, bevor sie dich berauben und verpflichten. Bernstein macht Arme noch ärmer.“ Er reckt eine Hand, wedelt ablehnend. „Solltest den glücklosen Jahren entkommen - die gehen unter die Haut!“
Helena dreht die Kurbel der sandigen Tonne, hört Bernsteine darin und in ihren Gedanken klackern, und hebt flehend die Hände.
„Ich schuftete für Zwei und werde das auch für Bernsteine genauso tun! Seit mir Joos fehlt, zerrt der große Lenker oben vorwärts. Gibt es etwas anderes, was mir etwas Besseres schenken könnte?“
Ansgars Stirn zuckt. Er zieht seine Schlüsse.
„Joos würde sagen, bist närrisch!“
„Den lass außen vor!“ Unbeirrt tippt Helena auf die Kurbel. „Magie liegt darin. Und mir eine große Arbeitserleichterung.“
„Für dich allenfalls, aber zu mir kommt gefährliches Volk.“
Ein Blitz gnadenvoller Zuversicht steigt in Helenas Sinne.
„Bau es in meiner Kate auf. Wirst du es erledigen?“
Seinen Nacken krault Ansgar und erfasst, welche Last von ihm abfällt, trotz des aus gut gemeintem Grund nicht Gesagten. Dann betrachtet er angelegentlich seine Fingerkuppen.
„Bist gewarnt! Beiß nicht nachher in meine Hand!“
„Aber nein, keinesfalls! Ich eile jetzt aber noch zu Rike.“
Mit dem Mantel auf dem Arm geht Helena zur Küche, wo am Tisch Friederike die Ellbogen auf die Zeitung stützt. Knisternde Wärme und der Duft nach frisch Gebackenem umfangen Helena. Ihre Augen richten sich auf den schmalen Kochherd, auf kompakte Eisenfüße.
„Solche Ofenklappen sah ich bisher nur in Lines Kök, in der Villa Achterkerke. Kannst stolz sein auf deinen taffen Bruder.“
Friederike nickt bedächtig. Sie zieht ihre Brauen hoch und Helenas Aufmerksamkeit auf den Stuhl neben sich, klopft daran.
„So früh kommst du? Euer Gemurmel hörte ich schon.“
Tief geht die Freundschaft, die sie seit Jahren verbindet, macht Helena sich klar, und setzt sich, krumpelt den Mantel im Schoß in ein handliches Bündel. Ihre Stimme gerät ins Flehen.
„Rike, sei so gut, steh mir bei. Ansgar stellt sich quer! Ich brauche Bernsteinwerkzeuge. Obwohl ich unsicher bin, ob ich Joos’ Geld in den Wind werfe, soll Ansgar meine Geräte bauen.“
Für einen Moment weitet Friederike ihren Mund, und drückt den Hals hinunter in den Stehkragen ihrer Wolljacke. Bald flackert fein ein Grinsen über ihre Wangen.
„Wirf das Geld ruhig zum Fenster heraus, ich sehe es schon zur Tür hereinkommen. Du willst also Bernsteine schleifen. Joos kann es dir nicht mehr verbieten. Dir ist das Sammelrisiko klar?“
Helena winkt ab, und legt in ihre Stimme tiefere Töne.
„Schlimmer wäre es, sonst nichts tun zu können, womit Groschen ins Haus kommen. Bald, und zukünftig.“ Sie dreht die Augen zur Decke der Kök. „Passiert etwas, ist Aufregen dann früh genug.“
„Stimmt ja. Ansgars Talent mit den Geräten ist auch genial, und schluckt doch viel Zeit. Er bleibt in Takt, ich passe auf.“
Friederike neigt sich neben den Tisch zu einer Flasche und blinzelt mit ihren Ansgar ähnelnden, tiefblauen Augen zu Helena hoch. Den Sanddornschnaps legt sie zum Mantel auf deren Schoß, als wäre damit schon alles erledigt.
Helena blickt zum Herd, und fasst noch einmal Mut.
„Ansgar kann mir so einen bauen und einen Badeofen dazu! Wo Joos nun fehlt, muss nichts in der Kate altbacken bleiben!“
„Auch das!“, prustet Friederike, „kriegt er hin. Herrlich ist es, bei Pladderwetter wegen Wasser nicht hinaus zu müssen! Komfortbäder sah er längst woanders. Er weiß, wie mich sein Dreck plagt.“
Unvermittelt reißt Ansgar die Küchentür auf.
„Mach die Luke dicht, wir haben zu schnacken!“, schleudert Friederike ihm entgegen.
Ansgar tritt dennoch ein, und würgt unterdessen an dem, was ihm in die Kehle steigt. Er saugt an seinem soeben gequetschten Daumen, reckt ihn dann demonstrativ, um mit schmerzverzerrtem Gesicht zu brummen: „Rike, hole den Lütten für Kleinkram.“
„Prokelst du herum, bis am Schluss was schief geht, liebster Bruder?“
„Will fertig werden“, zischt er, trottet wie ein Bär vor den Spülstein, speit in den Ausguss. Unter dem Hahn spült er seinen Daumen, senkt prompt sein Kinn vor seinen muskulösen Hals.
„Schiet up!“, röhrt er, kehlig tief vor Kälteschmerz.
Bis ins Mark hinein schießt das Friederike. Sie starrt auf Ansgars Hausjacke und seinen Hals, der im Nacken untergeht. Ändere er sein grobes Gebaren, wenn sie in seine Wunde steche? Gehässiges aus dem Schlund geschwisterlicher Verehrung mag sie abfeuern vor sein Würgen wie ein rückwärts frühstückender Kater. Säuerlich blickt sie Helena an, deren Wangen in verhaltenem Lachen flattern. Das genügt Friederike für einen Rückhalt. Sie greift neben sich ein Küchlein mit gebräuntem Zucker von der Platte, und schnuppert am Butterduft. Der erhellt ihr Gemüt. Schon kauend meint sie:
„Bediene dich, Helena!“ Sie schiebt ihr das leckere Gebäck vor, jedoch Ansgar nur eine Frage.
„Wozu brauchst du den Lütten?“
Ihr Verschnupftsein schwingt mit, Ansgar erwartete Mäkeln. Hellhörig, wickelt er ein feuchtes Tuch um seine malträtierte Hand, geht dann bedächtig in zwei Schritten zum Tisch.
„War massig Kraft inne Zange von vorher. Der Lütte soll eine zerbrochene Schaubenmutter unterm Rührflügel rausfummeln.“ Sturheit quillt in seine Kehle, schlägt durch zur Schwester. „Nu gah rut!“
Friederike steht am Stuhl auf. Ein meliertes Tuch legt sie sich über ihren grauen Haarzopf. Fusseln stieben in ihren Ruf:
„Deine Verbitterung schlucke selber! Quäle vor allem den Nachbarsohn nicht mit deinen Allüren!“
Sie trottet zur Hintertür, öffnet sie spaltweit der Kaltluft von draußen. Bevor Friederike hinaus geht, dreht sie sich zu Helena.
„Es wird ein halber Orkan! Im warmen Süden spazierte ich in der Nacht, unter sonnenbeglänzten Orangen und gelbfleischigen Aprikosen inmitten grüner Blätter. Irgendwann bin ich im Winter dort. Passt schon. Ja, mein geniales Träumen regen unsere Ahnen an. Un wat allens in’n Kopp spökt ...“
Die Tür fällt zu, zugleich mit dem Drücken der Klinke. Nach einer Weile des Wartens, kehrt Friederike zurück. Auf ihrem Gesicht zeigt ein erstauntes Flimmern, weshalb sie allein kommt.
„Vergiss den Lütten! Kranke Kinder betüddeln die sonst nie. Wegen der betretenen Mienen drüben meine ich, da geht eine arge Kinderkrankheit um!“
Helena schwant etwas, das Ansgars Wogen nicht steigen lassen sollte! Ihre Hand fährt hoch.
„Ansgar! Meine Finger sind nicht so drall wie deine.“
„Dann komm!“, tonlos klingt es. Seine umwickelte Hand ballt er, heraus fliegt keine Zange.
In die Werkstatt folgt ihm Helena. Friederike trottet nach, baut sich bei Helena auf, die schon halb im Bottich hängt, und vergisst dabei ihre Vermutung. Ihre Gedanken wandern zu dem am Morgen in der Zeitung Gelesenen, es muss laut heraus. Und damit um vieles mehr meinend, grinst sie Ansgar an.
„Im Süddeutschen laden sie zum unterhaltsamen Schauwaschen ein, und beschnacken dabei, wie viel Feuerholz es einspart, wenn in der zubereiteten Flotte mehr Füllungen gewaschen werden. Bald sind Glocke und Bleuel fort! Nie mehr Wäsche durch die kochende Lauge ziehen! Eine Revolution im Waschküchennebel. Aber, wie es aussieht, sollte der Winter noch dauern, oder?“
„Der Sommer kommt, damit ich ungestört bin, wenn du im Turm die Wirtin spielst! Mein Tüftlerhirn döst nicht, du vor allem hast etwas davon. Ich erfinde noch einen Kipphebel für ein Rohr, um alles Waschwasser zur Grube zu lenken!“
Helena hebt ihren rosig getönten Kopf aus der Maschine. Sie hält vor Ansgar die Bruchstücke der Schraube hin, und damit zugleich ein Schmunzeln.
„Tragt ihr einen Wettstreit im Sticheln aus? Verstehe ich es recht, hat dein Genius dunkle Seiten?“
„Weil es nicht vorangeht. Quakt Rike, stirbt meine Gutmütigkeit. Schätzt sie, was in mir steckt?“
Seine umwickelte Hand droht Friederike, die nur grunzt. Sie fühlt sich längst ebenso unverstanden.
„Doch, ich halte zu dir! Aber seit dich die Maschine quält, führst du dich wie ein Wetzstein auf, an dem ich mir die Zunge zu schärfen habe! Sogar Helenas Besuch vergällst du mir.“
Sie nimmt Helena beim Arm, dreht sie zur Tür.
„Komm zur Kök, erzähle mehr. Danach fährt dich Ansgar heim, damit er mir aus den Augen ist, bevor die Fetzen fliegen.“
Nach einer Stunde und ihrem Gespräch zuversichtlich, steigt Helena auf den Pritschenwagen und reckt ihre Beine zu Ansgars unter die Fellplane. Ihr Ende zupft sie um sich und setzt sich vorsorglich darauf. Der Wind frischt auf, peitscht bitterkalt. Helena lauscht den ebenso klapperkalten Huftritten des Pferdes. Der Kaltblüter genießt es, vom Stall heraus zu sein.
Unterwegs erzählt sie Ansgar ihre zusätzlichen Wünsche nach einem Herd und Badeofen, und atmet mühsam gegen seine Anspannung an, wegen ihrem Entschluss für eine so umfangreiche Anlage. Als sie ankommen, löst er mit gezielten Hammerschlägen seiner heilen Hand den von Rost zerfressenen Scharnierzapfen aus der Halterung, klemmt dann die Kellertür am Wagen fest. Voller Ahnung und Grübeln ob Friederikes zu erwartende Litanei fährt er nach Bansin. Für ihn folge fürderhin keine optische Täuschung, bedecke die halb fertige mechanische Bottichwaschmaschine bald der Staub.
Später, in deutlich kälterer Nacht sitzt Helena, in Fellweste und Schultertuch gehüllt, am lodernden Kaminfeuer. Es wärmt ihr die Freude im Herzen, erregt ihr Träumen mit offenen Augen. Nicht mehr lange, dann mache sie Schmuckstücke! Bildreich treten aus Bernstein gefertigte Kostbarkeiten vor sie, mit Schnitzereien wie an den Grabbeigaben für Römer, oder von Anbetern des Sonnengottes der Griechen. Doch dem allen gleitet nach die Rosette an Elis Schatulle vor ihr inneres Auge, und würdigt wegweisend winzige Bruchstücke. Dann kommen Besatzstücke an den bäuerlichen Trachtenjacken. Die Hochzeits- und doppelreihigen Gliederketten daran leuchten um die Wette. Halsnah liegen sie auf Festtagskleidung, über der blondes Haar sich kraust, gehalten von verzierten Haarspangen. Auch ziehen vorbei an Helenas wanderndem Blick feine Broschen an Samthalsbändern, und ein wenig fragil wippender Schmuck an ungezählten Ohren. Strahlend glückliche Augen heben sie hervor, und hauchen Gold an Gesichter, die in sinnlich reiner Schönheit Anklang finden. Danach lechzen die, um von dem Quell der Jugend zu trinken, um bereichert und genügend optimistisch im Leben wirken.
Ja, das Leben wäre voll Glück, folgte dem Brautschmuck ein eigenes Kind, denkt Helena als ihren Herzenswunsch. Im Eis ruht der, der Traum ist aus. Helena schließt die Lider, nicht nur von der Nacht ohne Schlaf zuvor bleiern. Die wenigen Schritte in ihre Schafkammer bewältige sie in Bettschwere. Doch ihre schon voraus eilende Versenkung in die Federn durchkreuzt ein alarmierendes Rumpeln. Nicht Ratten machen solchen Lärm! Die Luke steht offen, der Käse im Keller allem Getier erreichbar!
Helena eilt mit der Lampe über die Hintertreppe, greift am Stapel unten ein Scheit und zischt „Sch, Sch“. Ihr antwortet ein Seufzen in der Kälte. Helena holt tief Luft, legt das Holz ab, hält ihr Licht hoch, geht wacker dem Seufzer entgegen. Und gluckst vor lauter Erleichterung, um Bisse am Käse nicht bangen zu müssen. Keine Ratte liegt lädiert dort!
7
„Wo sonst die Luke dicht ist, trat ich ins Leere“, mault Vedder fiepend und schlägt mit einer Hand auf eine Kellerstufe.
Sein Fiepen bestätigt, wie fehl am Platz er ist unter ihrem Lampenlicht, das wandert. Er scheint heile geblieben. Nach ihrer Nacht ohne Schlaf würde sie dieser Wende ihres Daseins wenig darbringen können, ausgenommen ...
„So kommt ans Licht, wie nahe du mir auf die Pelle rückst!“
Nach einer winzigen Pause, in der Helena nur noch ins Warme der Kök will, ergänzt sie, ein Kichern nur knapp unterdrückend:
„Siehste, genauso bleibt dem Fang in den Schlingen die Luft weg, tappen sie in eine deiner Fallen.“
Ihre Abfuhr zeigt ihm seine widrige Lage als höchst ertappt und doppelt durchkreuzt am Ende. So ergeht es einem Schäfer, der wie ein liebestoller Kater nachts luschert. Er rappelt sich hoch, und dreht einen Fuß.
„Verdammt!“, flucht er wenig leise.
„Verdammst du dich etwa selber? Willst du unten im Kalten bleiben?“
In Helena flammt ein weiteres Glucksen jetzt, denn er hopst unmäßig, und nicht mit dem Ruhm eines Wilderers bekleckert, die Stufen hoch in die Dunkelheit durch die er fiel. Vor das Kaminfeuer dirigiert, an den Boden gekauert, zieht er die Joppe aus. Und der entweicht ein herb tierischer Geruch, den Helena mit dem Schultertuch verwedelt und jählings kopfschüttelnd schnalzt.
„Die Socke runter! Mäßige dich, wenn es wehtut.“
Er legt die Fellmütze ab, fährt linkisch durch sein Haar. Selbst verdutzt über Schreck und Schmerz, zerrt er an dem Stiefel, flucht leise und unverständlich durch die Zähne.
Helena stochert die Kaminglut auf, legt Scheite nach, tunkt rasch ein Tuch ins kalte Wasser im Eimer am Milchtisch. Nieder kniet sie, umwickelt Vedders Knöchel, hockt sich dann auf ihren Schemel in der Nähe und mutmaßt über sein Streunen, das sie wähnt aus kindlich geprägter Selbstüberschätzung.
Errang er so seinen Platz an der Küste? Heimste er im Hauen und Stechen ein paar Schrammen ein? Sitzt mehr in der Stube als der Mann, der wenig älter ist als sie? Eine Spur kauzige Sturheit zeigt sein Kinn mit den blonden Stoppeln, das Helle der Augen, der schmale Streifen, wo etwas Feuer flackert.
Glückhaft legt sich das Erkennen an ihr Herz, vor ihr sitze ein freier Mann, der abstürzte wie gelenkt, zu ihr wollte. Dort sitzt kein Widerhaken wie Joos mit harten Augen. Vedder streut Pfeffer aus, doch liegt Trauer um seine Blicke, er ringt damit wie sie. Will er verschlossen bleiben, warf er sogar den Schlüssel absichtlich fort? Aufgeflogen zu sein, ist genug. Angedeutete, oder förmliche Worte wären unangebracht. Dem Wrack von Fischer käme sie nicht bei mit höflicher Liebenswürdigkeit.
Vedder blinzelt zu der Frau, die er innig begehrt, doch augenblicklich fürchtet wie einen Donnerknall im Winternebel, von dem er sich wünscht, der verziehe sich. Er selber kann es nicht. Kurz sieht er zu ihrem flackernden Schatten an der Wand, voluminös vom Gewusel am Küchentisch.
Ach! Oh ach, gibt Vedder vor sich klein bei, jetzt lässt sich nichts gerade biegen! Er hätte Helena beim ersten Mal Hilfe anbieten, nicht nur luschern sollen. Dann wäre er kein Fremder in ihrer Stube. Ihr müdes Gesicht wirkt auch sehr tapfer besonnen. Sie lockert ihre herzigen Lippen. Ach, sie tut nur schockiert. Gut kennt er das Vertuschen, sich ins Hemd machen, nicht wie Ansgar, der sich mit hart gemeinten Zuweisungen allem stellt, was ihm nicht passt.
„Bin dir ein ungebetener Eindringling“, presst Vedder durch die Zähne. „Kann nicht weg mit dem Fuß. Kodderig ist mir, und schwindelig wie benebelt. Schnaps würde den Schreck lindern.“
„Von Rike habe ich eine Flasche für derlei Fälle bekommen!“
Helena springt auf. Bald nippt Vedder einen Schluck direkt vom Flaschenhals. Der Sanddornschnaps schmeckt ihm, er schmatzt und seufzt, haut aber mit gezieltem Schlag den Korken hinein. Jungenhaft unverdorben wirkt er und unberührt von allem. Aber wohin mit ihm? In der Kammer nebenan in das Bett klamm von Winterkälte. Sie geht in den kühlen Schwall, trägt Bettzeug heran, wirft das und eine Fellunterlage neben Vedder zu Boden. In der Truhe kramt sie und reicht ihm den Tiegel ihrer selbst gerührten Gänseblümchensalbe.
„Reibe dich ein. Joos half meine Vaselinemixtur immerzu, ihm schwoll öfter einmal ein Gelenk an.“
„Altes Hausmittel? Wird dauern, bis das wirkt.“ Skeptisch schnuppert Vedder am Steingutnapf, trägt aber die Salbe dick auf, und müht dabei heraus: „Großzügig von dir.“
Helena lehnt sich an den Tisch, legt die Hände an ihre Ellbogen, hält den Moment für gekommen.
„Einfältig stolperst du herum, lässt dich von dem blamablen Sturz auch noch retten! Konntest nicht auf gesunden Füßen hereinkommen?“ Entschieden schüttelt sie den Kopf. „Wolltest du dir etwas holen? Glaubst du, es stehlen zu müssen?“
Sie fixiert ihn mit Glut in den Augen wie eines keifenden Fischweibs flimmert. Vedder senkt seinen Kopf, und vermisst ihre Förmlichkeit guten Betragens.
„So ist das doch nicht“, knurrt er, drückt den Stopfen in den Tiegel, schiebt ihn auf den Bodendielen weit vor. „Soll ich mich etwa wie für eine Trotteligkeit entschuldigen?“
Vedder betrachtet seine Hände, die flattern. Rasch klemmt er sie zwischen die Beine. Seine Absicht wartet. Ihm steigt schief ein Grinsen an die Wangen, doch es stirbt vor Helenas zornigen Augen.
„Tut mir Leid!“, setzt er scheu an. „Eine Last zu sein, war nicht mein Anliegen. Luschern ist unwürdig. Verzeih mir. So möglich, helfe ich dir.“
„Leicht gesagt, reglos wie du dasitzen musst. Und“, Helena breitet empört die Arme aus, die Weste klappt auf, „sollen die Lüüt erfahren, was du für Einer bist? Einer der nur ausspäht?“
Herabgezogene Brauen sieht Helena, dazwischen eine steile Falte. Dennoch wirft sie die Arme weit seitlich hoch, verharrt in der Bewegung mit indigniert fragendem Gesichtsausdruck.
„Hm. Ja, verstehe. Dir wahrlich zu helfen, wäre an mir, und somit Joos’ liegen gebliebene Aufgaben erledigen. Wie ich den kannte, war er ein echter Fischkopf, lebte nach dem Spruch: Nimm dir nix vor, dann schlägt dir nix fehl.“
Helena hüllt sich in ihre Weste. Dahinein murmelt sie nach einer Weile über den Streuner, der nur Umstände bereite, und als Helfer sicherlich fraglich wäre - wer solch einen Spruch parat hat, handle danach. Schon feixt sie still und dies weit hinaus in den Raum außerhalb der Kate: Der Horizont, ja, der meine es leidlich dicke mit dem Mann in ihrer Kök, und das wohl für ein vollständigeres Daseins! Glücklich fliegt auch ein von Dank erfüllter Seelenfunke hinüber zu Eli an den Findling. Von ihr ab fällt damit auch etwas von ihrer intensiven Anspannung aus dem mehr als langen Tag.
Am Morgen ist Helena schon früh vom Melken zurück. Eben schürt sie die Glut für den Wasserkessel, da regen sich Vedders Decken am Boden. Schlaftrunken sieht er ins Morgenlicht, auf die Wolle und Nähutensilien, und den Salbentiegel am Tisch. Er setzt sich davor an einen Schemel, salbt seinen Knöchel. Wohlig strahlt er erstmalig, als Helena gelben Sirup in eine Schale mit Grützebrei träufelt, und ihm einen Holzlöffel reicht.
Stille gleitet durch die Stube, bevor das Schaben am Boden der Schalen zu hören ist. Helena räumt schweigend ab, klemmt die Kaffeemühle dann Vedder zwischen die Knie. Er mahlt und schaut ihrem Hantieren für den Käse zu. In sich gekehrt denkt er nach, bis Helena die angelaufene Blechkanne mit Kaffee hinstellt und das Aroma belebend in seine Nase zieht.
Helena rückt Zuckerdose und Milchkännchen in seine Nähe und setzt sich, füllt beide Becher. Dann nickt sie ohne ein Lächeln an ihren Wangen, ernst gestimmt, bevor sie ihn hart im Ton fragt:
„Zu den Fischern gehst du nicht mehr, wegen deinem Arm?“
„Dass es mal so kommt ... Netze Anderer flicken, hinterher sehen, fahren sie raus? Nee!“ Er rührt im heißen Kaffee, reckt das Kinn. „Manche ruinieren ihre Rücken vom Netze hieven, gehören dann auch zu den nicht mehr Bewunderten.“ Er versinkt in sich; erschrickt dann jedoch von Helenas Wink zum Fenster,und ihrer scharfen Stimme.
„Heute Morgen fand ich keine Kuhle im Heu, in der du dich wie ein irregegangener Hofnarr, den ich kaum bewundern könnte, oft verkrochen hast! Konntest nicht um ein Nachtlager bitten, war es bei den Touren zu bald dunkel, zu spät für den Weg?“
Seine Wangen laufen so rot an wie die Finger brennen, um den Becher gelegt. Dahinein löffelt er Zucker und rührt, als ob sein Seelenheil davon abhänge, mit seiner Absicht vor Augen, auch wenn sie geifert wäre es ein gutes Leben, wenn sie es ihm gewähre.
Nach einer Weile Schweigen greift Helena in die Tischlade und entnimmt, unter dem bei Emilies Damenkreis ausgeliehenen Buch, eine Ausgabe der Gartenlaube, schiebt sie ihm hin.
„Zum Kamin geh, lies mir vor wie einst Joos. Dazu nutzt der Sturz durch die Luke, die dich Fallenjäger so seltsam einfing. Waren höhere Mächte in dem Spiel, zeige mir, du taugst mehr als ein Sprung im Topf.“ Sie deutet gen Wandtisch mit den Schüsseln der Morgenmilch für den Käse, und meint den Eimer mit Rüben und Kartoffeln daneben. „Später schnipple alles Gemüse in den Eisentopf für die Abendsuppe. Ich nähe für ein Kaufhaus Stofftiere, und die sollen meine Saisonarbeit im Laden von Putzenius ergänzen.“