- -
- 100%
- +
„Mache ich nur, wenn du hernach nicht mehr aufgebracht bist.“
Er sieht sie einsichtig an, und zugleich starrsinnig. Am warmen Sims sitzend, liest er bald andachtsvoll eine Ballade vor, und fühlt, was sie, so nahe bei Helena, in seinen Sinnen berührt. Ein heimatliches Empfinden, ein anderes als mit Ella, dennoch ein sehr gutes.
Am Nachmittag bringt Ansgar den reparierten Lukendeckel wieder an, und kommt zum Aufwärmen herein. Er tauscht mit Vedder fragende Blicke. Danach schlägt er, laut Friederike, Helena vor, einen Anbau für ein Badezimmer zu mauern, damit das Graben in Richtung Brunnen und alles Abwasser in den Obstgarten leichter zu erledigen wäre. Für ein Spülklosett und die moderne und komfortable Badeausstattung würde er auch sorgen.
„So bleibt deine Kammer anderweitigem Gebrauch frei. Unsere Logierräume soll ich auch mit Bädern richten. Den Herd bringe ich im Dustern, der muss nicht an die große Glocke.“
Vedder traut seinen Ohren kaum, runzelt nur seine Stirn.
„Ich werde dein Handlanger, sobald du hier loslegst.“
Ansgar nickt gutmütig. Auch Helena stimmt zu, und begleitet ihn bald hinaus, kehrt nach einer guten Weile erst zurück. Aus der Vorratskammer holt sie Butter, Gelee und Brot, und erzählt beim Essen vom Notgroschen für die dringlichen Wünsche. Vedder schmaust und lauscht aufmerksam. Helena legt ihm das seltsame, unverständliche Gebaren der Fischerfrauen offen. Seither holte sie nichts vom Fang, verzehrt selten einmal ihre in einem alten Steinguttopf eingelegten Heringe. Bei sich aber sucht Helena nach der Antwort, wohin führe, was die Weiber ihr einbrocken.
Sie sinnt darüber. Dann schaut sie geradewegs in Vedders so helle Augen - wie die ersten Sterne am Nachthimmel draußen. Wie ein Licht intensiver Tag am Strand, wenn in ihr der Spaß und die Freude am Fund von Bernstein pulsieren. Im Moment des Erkennens hüpft Helena auf, holt den Suppentopf, Teller und Löffel an den Tisch. Denn, Herrjemine, Begehren glimmt in dem herein geschneiten Kerl. Müsste sie dem einen Riegel vorschieben? Demnächst? Bald? Die Entdeckung seiner Motive kribbeln in ihrem Bauch. Und rasch überlegt sie, er sollte noch nichts davon hören, nur von einem, dem neuen Lebensunterhalt und dafür von seinem Arbeitseinsatz.
„Bernsteinschleifen werde ich auch. Sammle mir bald am Strand ein paar Steine zum Ausprobieren.“
„Na, du traust dich was!“
Vedder streicht durch seine knisternden Bartstoppeln, wobei ihm mondhelle Nächte einfallen. Mit Helge, dem Sohn der Köchin Line, da der einen Köcher durch die Ostsee ziehe. Helge bezahlt keiner mit Salz. Etwas anderes wäre nicht zu teuer. Voll Glimmen, sieht Vedder auf Helena. Sie schlürft ihre Suppe vom Löffel, der vibriert, dann inne hält.
„Ja!“, erwidert Helena, schluckte einen Anflug von Glucksen inzwischen mit der Suppe. „Das Schicksal schickte mir Not, die ich abwende. Niemand kauft mein Land am Feuchtgebiet! Vielen Reichen aber gefällt hübsches Spielzeug für die Kinder und der Schmuck mit Bernsteinen an sich selber.“
Ihre Worte gemahnen Vedder an die Not in den Katen. Auch an jene vor den prachtvollen Kulissen Flanierenden, die sich daran ergötzen, weniger am Hinterland. Gedankenvoll löffelt er seine Suppe. Nach kurzer Zeit hört er seine Töne tieferen Schlürfens als Helena, die längst nicht mehr den Kopf hebt. Damit sie seine Begeisterung nicht erschrecke, haucht er bedächtig leise:
„Von der Wolgaster Fähre kenne ich einen Weber, ihm könnte ich die fertigen Bernsteine bringen. Er treibt allerlei Handel, sein Weben ernährt keine Familie. Er wirft an Land viele Netze aus.“
Vedder legt den Löffel ab, reckt seine Hand, reibt zärtlich wie selbstvergessen über ihr Handgelenk. Helenas Inneres seufzt wohlig, doch darin vibriert ein wenig die vorherige Erkenntnis.
„Du fällst mit der Tür ins Haus, wirfst mir ein Netz zu?“
Ihr wonniges Lächeln bezaubert Vedder. Zaghaft liebkost er ihre rosigen Finger, hebt seine Hand ab, spricht verträumt. „Hin und wieder fische ich mit ganzer Seele. Und gebrauche mitunter wie die Fische die Flossen, wenn der Wind dreht. Um mich freizuschwimmen und abzutreiben, ruft es der See so laut, dass ich einfach hinein waten muss.“
Ein sturer Zug verhärtet sein Kinn. Helena aber sieht schon in ihrem Inneren den gerne besuchten Findling sonnen-überflutet liegen. Wie sehr sie sich danach sehnt! Von Vedders verträumten Ton bewirkt? Sie lauscht dem nach - und dem, steht sie auf dem Stein und gibt Lasten dem Wind für den Wunsch, er möge die annehmen. Plötzlich versteht sie Vedder besser.
„Das kenne ich. Wächst mir etwas über den Kopf, seh ich den Horizont an. Davon abgesehen auf uns, mir genügt deine Antwort noch immer nicht!“
Er wiegt den Kopf ob ihres Naturell, nicht zu klagen, bis ihr die Luft ausgeht. Das übertrifft seine Angst vor Abfuhr.
„Ja, mein Netz werfe ich dir zu, unter der Bedingung, auch dich freizulassen, wenn dich die Winde fortwehen. Es ergänzt unseren Handel und wäre abgemacht! Oder magst du mehr an Freundschaft?“
Zärtlichkeit glimmt in Vedders Augen, in die Helena frech hell heraus lacht. Sie kraust die Nase, denn ihr Gedanke an den Seewind gab ihr doch etwas völlig anderes ein.
„In der Kammer steht der Badezuber. Juckt es nicht überall? Das fleckige Hemd und dein Schweiß scheinen älter zu sein als dir der Wachtmeister Karl erlauben könnte! Wie wär es? Nimm ein gutes Hemd von Joos an, sein Rasierbesteck. Wasser erwärme ich dir am Feuer, und gehe dann schlafen.“
Vedder erwacht anderen Tags vom Klappern des eisernen Dreibein im Kamin, in einer Pann rührt Helena in Bratkartoffeln. Er nimmt die Kaffeemühle, schlägt die Kurbel. Als das Aroma der zu Mehl verfeinerten Kaffeebohnen in seine Nase steigt, hat er genug von seinem Nachtalb und von Helenas Schweigen.
„Bist nicht gesprächig. Hast auch du schlecht geträumt?“
Helena zieht ihren Mund schmal. Alsbald stellt sie auf den halb abgeräumten Tisch zum gebrühten Kaffee ein Achtel Käselaib und die Bratkartoffeln. In Gedanken versunken essend, betastet sie ihre gestrickten Wollteile.
Binnen weniger Minuten schickt Vedder ungezählte Blicke an ihr vertieftes Nähen, fraglos geht sie darin auf. Sie umsäumt fein ein Bernsteinauge des halb fertigen Hasen, stickt dann die Nase in schwarzem Garn, deutet Nagezähnchen in Weiß an. Schließlich hält sie das Tier weit vor sich, prüft die Wirkung ihrer Eingebung im Traum, die noch fehlte und ihr Werk komplett macht. Schwierig erscheint es ihr, mit dem Gesicht bis in den Sinn der Bilder der Nacht hinein zufrieden zu sein. Denn darin glommen eigentümliche Augen über denen des Hasen wie ein Doppelpaar, und wurden von zwei dunklen Zöpfen eines kindlichen Gesichtes gerahmt. Im heutigen Morgenlicht, erfasst sie an dem Hasen nur noch, wie hoch sie ihre Ansprüche schraubt und es doch unnötig scheint. Dennoch ermutigt Helena sich.
Ein Kind erwählt mein Tier, belädt es mit Phantasie, spielt die Geheimnisse von sich aus, aus seinem Nahrungstor der Seele. Zumindest war es so, als ich in Swinemünde noch Kind war. Mir gefallen die Augen aus Bernstein. Sie bestätigen mich, bedeuten mir viel, weil sie im Traum offenbart wurden! Genauer hinsehen werde ich, liegt das zweite Auge an. Es kann mir gelingen.
Sie bringt einen halb runden Stein an, und strahlt nach einer Weile danach völlig integer Vedder an.
„Der Hase hat wie erwartet unverwechselbare, ausdrucksvolle Augen. Die Bernsteine zaubern Leben hinein, und ermuntern mich, ihn liebkosen zu wollen! Ich träumte von den bernsteinfarbenen Augen, und probiere aus, sie mit aller Raffinesse anzupassen.“
„Geträumt? In honiggelb und golden in lichtem Braun?“
Merklich durchzuckt Vedder der Nachtalb seines Traumes. Von nagenden Maden, die immerzu näher dem Stein im Herzen krochen. Seinen wehen Fuß sah er aufbrechen - weißlich gelb wie Ella am Ende war. Und sie kam, von Maden zerfressen, drehte sich vor ihm im Grabe. Ihm grummelte vor Schmerz, nicht bei ihr zu sein. Aber davon rede er, wenn Helena von ihrem Dunkelstes gesprochen habe. Am Schemel rückt Vedder ihr etwas näher.
„Die einsam stehende Linde im Wäldchen gen Swinemünde, die erinnert mich an Träume und gefällt mir besonders, wilde Bienen umschwärmen sie. Manchmal träume ich von dem süßen Honig. Auch im Winter ruft sie Geträumtes wach, gerate ich ihr nahe.“
„Dann schätze dich glücklich, Muße dafür zu haben. Ohne die Traumweisungen für die Augen, wäre ich noch nicht so weit! Sie sollen die Freude, die sie mir geben, vielen Kindern schenken.“
Vedder denkt scharf nach, indes Helena am Hasen den Knoten setzt, und ebensolche Zugeknöpftheit übermittelt. Die zerbreche er eventuell, spräche er sie an auf den Ladenbesitzer.
„Macht Putzenius krummere Touren als andere Händler? Ihn sah ich unterwegs mit einem Gespann.“
„Wieso? Er hat Leute fürs Grobe, und Lehrlinge! Fährt er was, geht's mich zum Glück noch nichts an.“
„Zu sehen waren am Karren Fässer. Ungewöhnlich nicht, fährt einer vom Timmermann ab. Aber ich rieche, das war nicht sauber. In Grünebergs Betrieb laufen im Winter die Sägen heiß. Und wer weiß schon, wozu ein Händler so viel von dem Sägemehl braucht.“
Helena lächelt wundersam, es lockert Vedder den Rest seines Alb. Darunter hervor aber quillt sein zurückgehaltenes Begehren und schwemmt ein nie dagewesenes Gefühl in seine lädierte Schulter. Eine Hand legt er an deren Knoten, an den Schmerz darin.
8
„Zieh das Hemd aus, ich reibe dich mit Kräuterschmalz ein.“
Helena legt ihr Nähzeug ab, verteilt eine Handvoll auf den nun blitzartig bloßen Muskeln auf seinen verwachsenen Knochen. Je nachdem, wo ihre Hände ansetzen, hält Vedder vor unerträglichem Schmerz die Luft an. Nach einer Weile atmet er stoßweise, Helena rieseln Schauer hinab in ihre Knie. Sie fällt in eine Anziehung von magisch tiefer Zartheit.
Ihre kleinen, kräftigen Hände spürt Vedder am Wehen ziehen. Sein Herz hüpft und springt wild. Er lässt den Kopf vorfallen, empfindet in Kürze Helenas Atemhauch kühl seinen Hals streifen. Ihrer Hände Wärme weckt ihm in jeder Berührung die schüchterne Regung: Andachtsvoll salbt sie mich, ihre Zärtlichkeit dringt bis zu dem kalten Grabstein im Innersten.
Helena spürt ein Prickeln in ihren Fingern, dem Brand einer Nessel ähnelnd entlädt es die Schulter. Grob kneift sie hinein, bedeckt dann die Rötung mit dem Stoff vom Hemd. Sie küsst spontan das nahe Ohr, und will sich abwenden. Sie zerren Vedders eiserne Arme auf seinen Schoß. Er senkt den Kopf an ihr Kleid, er atmet den Duft ihrer Haut ein.
Sein aufsteigender Kräutergeruch kribbelt in Helenas Nase. Jäh niest sie. In ihr braust die Dreistigkeit. Sie schlägt seine Arme herab, springt mit einem winzigen Schritt zur Seite. In der Drehung von einer Sekunde saust ihre Linke vor und klatscht an dem aus erwachter Zuneigung geküssten Ohr schallend auf. Helena brennt die Hand mehr als das Prickeln zuvor.
„Wage es nicht! Das war ... du Flegel du ...! Oh, jetzt bin ich diejenige für Schnaps bei derlei Fällen!“
Sie hastet zur Vorratskammer. Die Flasche an sich gedrückt, kehrt sie zurück zum Tisch, vor dem Vedder sein Hemd zuknöpft, wie ein getretener Hund bald durch die Stubenkök hinkt.
Kurz danach fällt Schnee in das eisige Band um die Kate, doch nimmt zu Boden nichts des Frosts von Vedder und Helena. In der Küche sitzen sie in erregter Wallung, die ihnen Unfug anrichtet, sie kein bisschen abkühlt. Ebenfalls nicht Ansgars Ankunft, der den Schnee abtritt, und nach einem Vedder streifenden Blick Helena zuzwinkert. Im Ton wenig unterkühlt, verkündet er:
„Ich bringe deinen Herd und meinen Nachbarn, er schlägt der Wand das Rauchloch aus.“
Er legt seine Felljacke nicht ab, die er bei Nachtfahrten mit unabsehbarem Wetter trägt. Sein Helfer, ebenso gekleidet, fasst kräftig mit an, als Helena den Milchtisch beiseite räumt, damit der Herd dorthin gestellt wird.
Danach setzt Ansgar sich zu Vedder an den Tisch am Fenster, kippt ein Pinnchen Sanddornschnaps, unterhält sich mit ihm in entspanntem Gebaren. Er weiß den Nachbarn beschäftigt.
Der nimmt auf langen Beinen Maß für das Wandloch, bröselt Lehm ab, rückt das Rohr zurecht, stopft feuchte Brocken ringsum ein, dichtet den Spalt. Schließlich kippt er Kaminglut ins Fach der Ofentür, schiebt Anmachholz nach. Es knistert und flackert.
Der Mann lächelt Helena an, und mustert sie so gewissenhaft wie ihre Hände über der Kochfläche. Er macht es ihr nach.
„Ansgar baute unserer Kök auch einen. Du wirst sehen, wenig Holz reicht, sogar wenn der Riegel am Rauchabzug maximal offen ist.“ Dann raunt er dröge: „Ich helfe ihm, mein Sohn kuriert Blessuren, wurde maßlos verdroschen! Pass auf, damit dir nichts zustößt! Die Weisungen der Halunken befolge nun ich. Schurkerei ist denen auf den Leib geschrieben, mich erschüttert deren Wut! Karl sollte dem ein Ende setzen, denke ich für meine Kinder.“
Erschreckt legt Helena ihre Hände ans Gesicht, vor Augen den Strand, den abgeführten Bansiner Knirps. Und in alle diese Gemeinheiten hinein hört sie, schnodderig gesprochen, Vedder fordern: „Ich fahre mit, Ansgar!“ Das betäubt ihre Freude am neuen Herd. Sie wendet sich im Ruck vom Nachbarn ab, verbirgt die feuchten Augen, blinzelt zum Milchtisch, der wie sie keinen Platz zum Anlehnen hat.
Hinter den Dreien knallt die Haustür binnen kurzem laut und hölzern zu. Ihr Schlag wirft Helena in herbe Enttäuschung. Teils darüber, allein gelassen kann sie nichts über Anziehung herausfinden. Gibt es eine Anbindung ohne eine Bindung? Sie linst auf den Türriegel, hatte vorgehabt, einen Riegel vor Vedders Begehren zu legen. Er gebrauchte seinen nach ihrer Ohrfeige. Doch zuvor hatte sie von der Ablehnung durch die Fischerfrauen erzählt. Vedder vergaß sein Versprechen von Freundschaft, wie ein Knirps mit Schrammen. Also doch, knistert es leise zur Verstärkung im Herd. Helena ergreift einen Eisentopf, mustert den aus und schnauzt den an für Vedders Fehlen.
„Du Topf hast weder Löcher noch Sprünge, aber wackelst. Du Ungeschliffener passt nicht mehr auf meine neue Herdplatte!“
Vedder fährt mit am rumpelnden Pritschenwagen. Weiß bedeckt der Schnee alles, nur nicht die tags zuvor getroffene Abmachung, er luschere nicht mehr. Doch fehlen ihm in Helenas Nähe die Worte, verrinnen wie durch ein Loch, bevor sie die Zunge irgend ein Eingeständnis formulieren könnte.
Zum Schloonsee hetzt Ansgar den Kaltblüter schonungslos. In die Flocken dichten Treibens springt er ab und schüttelt seine Schultern frei, reibt heftig die Hände und ruft nach rückwärts:
„Näher fahre ich dich nicht, Vedder, steige ab hier am Abzweig!“
Vedder humpelt los, zielstrebig wie sein Gespür voraus fliegt gen Schafstall, und in eine Erklärung.
„Son Schietwetter!“, äußert Ansgar bald, Vedder am Weg ein Stück begleitend. Vor die steile Schneefläche am Dach der Kate angekommen, wischt er sich die Stirn ab.
„Rücke raus, mein Freund. Hat dich die Liebe erwischt?“
„Na ja, seit Herbst geistert die in mir. Wollte nur Helena nach dem Unglück meine Hilfe antragen.“
„Spät genug für Beides“, kommentiert Ansgar. „Helena sagt, wie sie es haben will. Du wirst staunen, wenn ich ihr die anderen Sachen bringe, denn dann kommst du mit. Rike scheucht mich, alles rasch zu erledigen. Tschüss.“
Es schneit in den folgenden Tagen ununterbrochen, deckt weiche Hauben über alles und dämpft jedes Geräusch, sogar das trockene Rascheln bei Helenas Heuausstopfen der Stricktiere. Die Stille schenkt Helena schöpferische Ideen. Die Herdwärme belebt wohltuend ihre mit Nadeln hantierenden Finger. Fast vergisst sie den Bruch von Vedders Versprechen. In ihrem Alleinsein beachtet sie mehr ihre zarten Züge, freundlich mit sich. Weil sie auch immerzu bedenkt, viele Lüüt draußen erstarren an harter Not. Sie selbst durchlebt, durchnäht ihre Nagelprobe mit den Fingern, würde weiterhin mit den Nägeln daran, und hervor aus ihrem Wesen, für sich ihre gefestigte Substanz ausbilden.
Ihre innere Einstellung erprobt Helena, als ein frostklarer Mittagshimmel sich über dem Land wölbt, und Ansgar und Vedder an der Kate vorfahren. Vedder nimmt eine Kiste vom Wagen, geht die Stufen aufwärts zu Helena.
„Ihr bringt mir die Geräte meiner Werkstube? Prächtig!“
Ansgar lacht laut über ihr Staunen, schubst Vedder an Helena vorbei. In der Kök zerrt Vedder seine Kappe vom Kopf, hält unschlüssig die Kiste. Helena winkt ihn zur Kammer, öffnet die Tür hinein.
„Auf den klotzigen Tisch am Fenster damit! Der stammt noch aus Joos’ Zeiten, hat durch mich einen neuen Zweck!“
Im Hineingehen zieht Ansgar seine Winterjacke aus, legt sie ab am Tisch, und kraust die Brauen. Ein Brummeln steigt aus seiner Kehle, die er räuspert und sich zu Vedder umwendet.
„Stell die Kiste endlich her, aber behutsam!“
Als Vedder es wie geheißen erledigt, entnimmt er ein Fass und ein eigenartiges Gerät, an dem er hantiert und Helena anspricht.
„Dir fabrizierte ich das, was mir lange im Kopf lag. Sieh, mit einer Kurbel bedienst du den Schleifer und zugleich den Bohrer. Je nachdem woran du arbeitest, drehst du am Hebel. Die Klemme der Zwinge hält Steine aller Größen fest.“
„Ach, ich verdanke dir viel! Du bist ein wahrer Freund!“
„Ja, dem Erfinden Spaß macht. Probiere das Polierfass aus, dann leuchten deine Augen noch mehr.“
„Strandsand habe ich keinen. Das funktioniert schon! Kommt jetzt beide auf einen Tee ins Warme, dann schnacken wir!“
Im Vorbeigehen schenkt sie Vedders scheuen Augen einen auffordernden Blick. Den erwartete er in der ganzen Zeit, in der sie nur das Werkzeug sah. Seine Kehle wird trocken und rau, reden würde so schwierig werden wie einem ihr Fremden, der solche Blicke nur aufsaugt. Also greift er drei Köppen vom Wandbord. Still steht er dann vor der mit wolligen Stofftieren übersäten Tischplatte.
„Siehst du!“, meint Helena, heiter im Ton, „gut ging es mir von der Hand. Warte einen Moment, ich räume es fort, setze den Wasserkessel nur eben auf den Herd. Neue Töpfe habe ich keine, die Alten wackeln eine Weile noch!“
Sie stellt den Kessel auf, zum Wärmen eine Kanne, misst Tee hinein, geht dann rasch zum Milchtisch, füllt ein Kännchen, rückt es neben den Wasserkessel. Helena räumt den Tisch frei, hält aber inne.
„Die Kök sollte stets gemütlich sein für lieben Besuch. In die Kammer setze ich mich zum Nähen und lasse die Tür offen zur Wärme. Mehr Holz müsste ich hereinholen.“
„Das erledige ich für dich, Helena!“
Aufatmend stellt Vedder die Becher an den Tischrand rundum, stapelt flink wie der Wind die Scheite aus der Nische in den Kamin, eilt danach zur Hintertür hinaus.
Der Klang der so hastig geworfenen Hölzer schwingt im Raum, sickert verheißungsvoll in Helenas Ohren. Sie lächelt dem nach, der da ist und wieder herein kommt. Das schlingernde Sinnliche könnte mit ihm eintreten ...
Zu Dritt sitzen sie um die dampfenden Teebecher, ihre Hände wärmend. In Erwartung, Vedder oft wiederzusehen, und um ihn in aller Bescheidenheit aufzufordern, meint Helena:
„Bestes Wetter für einen Brennholzschlitten, Vedder.“
„Mein Fuß heilte vollends. Bevor es dunkel wird, könnte ein wuchtiger Teil vom Windbruch aus dem Schnee geholt sein.“
Vedder schaut Ansgar an, nickt auffordernd.
„Du bist beschäftigt!“, tönt Ansgar, rau aus Gewohnheit, wo es nur gehe Arbeit anzuweisen. Ansgar sieht hinüber zu Helena, ihre Augen funkeln. Weniger rau, sogar besorgt und zärtlich spricht er.
„Im Wege steht deinem Probelauf nichts. Schleifen zeige ich dir noch, bevor wir zurückfahren.“
„Muss überlegen, an welchem Stück es schief gehen dürfte!“
Helena reibt ihre Wangen, bedenkt flüchtig die Schatulle am Speicher. Oben ist es viel zu kalt, um Brocken zu suchen, an denen es egal wäre, stelle sie sich ungeschickt an. Oh, die Fundstücke habe sie doch auch aufbewahrt und sogar in der Nähe!
Zur Truhe geht sie, kehrt zurück an den Tisch und kippt den Sammelbeutel aus, „in Gottes Namen“ murmelnd. Unerwartet tritt in der selben Sekunde in sie der Traum von den bernsteinhellen Augen im bezopften Kindergesicht. Magisch berührt davon zittern Helenas Finger, fühlen es ganz und gar. Rasch streift sie durch das Häuflein, zeigt dann an jenen handtellergroßen Brocken, den sie vor ihrer von Glück besonnten Hüpferei am Strand fand.
„Könnte ich einen Schmuckanhänger daraus machen, Ansgar?“
„Sehr groß ist er. Stört es dich nicht? Wäre schade, etwas so Kostbares kleiner als nötig zu machen.“
„Vedder? Sag du!“ Helena dreht den Stein des damals sie berauschenden Glücksmomentes im Licht.
„Der ist selten zu finden, kommt aus tiefer See. Mach, wie du denkst. Tee ist getrunken. Bis später.“
Seine Fellkappe aufs Haar drückend, schnellt Vedder zur Tür hinaus. Helena blickt ihm nach. Ansgar räkelt sich, winkt ihr.
„Da bist du platt, was? So kurzangebunden ist der Sturkopf, seit er weiß wir fahren zu dir. Lass dir davon nichts verderben! Komm, ich brenne darauf, zu sehen, wie du klarkommst.“
Helena seufzt leise, rückt dann ihren Schemel in der Kammer neben Ansgar vor das sonderbare Werkzeug. Schon erfasst sie des Steines fertige Form, fühlt auch die Euphorie darin, voll Begeisterung gehüpft zu sein. Ein Omen, all dem die Stirn zu bieten, das daherkomme, oder hinfort renne.
„Aha, simpel, damit beginne ich“, murmelnd, legt Helena den Hebel um, führt ihre Hand zur Kurbel.
Staubigen Puder scheuert das Schleifband vom Rand. Kanten entstehen, nach und nach ein mäßiges Oval, während Helena ihre anfängliche Scheu vor dem Gerät verliert.
Ansgar betrachtet die regen Finger, hört ihr Stoßatmen über ihrem konzentriert eingezogenen Mund. Dahinter spielt die Zunge an der Haut zum Kinn. Sähe er bald die rosige Spitze die Lippen lecken? Ansgar greift sich an den Nacken, nimmt dann das Oval, reibt mit dem Daumen an den Schleifstellen.
„Feile die Unterseite etwas großflächiger. Danach wirkt die Vorderseite mehr, als wölbe sie sich.“
Helena schafft es leidlich, und steht in Kürze abrupt auf.
„Das war die erste der langen Reihe von Stunden. Es macht Spaß, aber die Anspannung verkrampft!“
„Lohnt allemal. Du bist handwerklich begabt. Doch fehlt noch das Bohrloch, lege den Hebel um, die Schraubzwinge an.“ Helena arbeitet behutsam weiter, bis er zufrieden brummt: „Nach dem Schleifen machen Wachs oder Fett unebene Spuren unsichtbar. Und reibst du den Schmuckstein auf dem Leder deiner Fellweste, entsteht eine hohe Temperatur, davon glänzt er.“
Mit dem Ergebnis zufrieden und sogar freudig erregt von den künftig sich ergebenden Möglichkeiten, nimmt Helena aus ihren Utensilien am Spiegel der Schlafkammer ein Samtband. Sie fädelt eine Schlaufe durch den Anhänger, bindet die Enden hinter ihrem Hals zusammen. Der kostbare Schmuck wirkt vor Joos’ altem Arbeitshemd wie ein verirrtes Kleinod. Helena lacht schallend, gurrt ein wenig, ruft dann durch die offen stehende Tür:
„Ich brauche passendes Darunter, wäre sonst für die Katz!“
Sie geht grinsend zu Ansgar hinaus, der am Küchenfenster nach Vedder ausschaut. Er dreht sich zu ihr, kichert wie sie.
„Warte, was erst Vedder sagt. Bist sowieso bedeutend für ihn. Trägst du ein feines Kleid, ergreift er die Flucht!“
„Darin täuschst du dich!“, tönt es an der Hintertür.
Vedders Augenhelles glüht, während er seine frostigen Hände reibt. Er rückt die Fellkappe aus der Stirn, schaut von unten hoch über Ansgar, dem er das selbstgefällig gereckte Kinn mit einem Haken polieren mag. Dies zutiefst zu tun, stellt er sich vor. Er unterlässt es, spürt sein Vertrauen im Argen, und, ihm schmecke vor lauter Unvermögen sowieso sein Mund sauer. Schwer zu ertragen, würden hernach alle seine Felle davonschwimmen, er wohlmöglich Helena an Ansgar verliere.
„Wärme dich am Kamin, Vedder.“
Ansgar drängt mit einer Hand und grinsend, Vedder hinüber. Im selben Dreh schlägt dessen Arm an gegen seine Direktive, mit in etwa einem Fünftel der zornigen Hilflosigkeit.
„Kaminfeuer kühlt dich wohl nicht“, erfasst Ansgar, und was aus Vedders Augen fliegt. Zu ihm kehrt der vorherige mentale Schlag um, sein Vedder alleine hinaus in den Wald schicken. „Mach halblang, Freund. Du führst dich auf, als müsstest du durch eine Wand, wo gar keine ist!“, knurrt er, ohne an irgend ein helfendes Wort zu denken.