- -
- 100%
- +
Mit einem schabenden Geräusch schob der unheimliche Mann einen rostigen Riegel vor.
„Folgt mir!“ Kratzig und rau drang seine Stimme durch die Dunkelheit, als würde man mit einem Schleifpapier über ein Stück Eichenholz fahren. Pepe schauderte. Kalter Schweiß rann seinen Rücken hinab.

DIE SCHMUGGLERHÖHLE
Jisah stieß seine Knie in Winters Flanken und warf einen gehetzten Blick über die Schultern. „Lauf!“, schrie er.
„He! Nur die Ruhe, Junge. Erstens hast du uns die Suppe eingebrockt und zweitens weißt du, dass ich schneller bin“, brummte Winter, schüttelte unwillig den Kopf und bäumte sich auf. Nachdem er sich ein letztes Mal nach den heranjagenden Verfolgern umgedreht hatte, jagte er los.
Lange, taubenetzte Grashalme streiften Jisahs Füße. Dicht über dem Boden lagen Nebelschwaden. Wabernd umzingelten sie die vereinzelt auftauchenden Büsche. Sie jagten zwischen geduckten Obstbäumen mit knorrigen, verwundenen Stämmen und ausladendem Astwerk hindurch. Weich hoben und senkten sich die sanften Hügel des Brachtlandes unter Winters Läufen.
Jisah passte sich Winters Rhythmus an und verschmolz mit seinem Rücken. Jetzt waren sie eins. Mit weit ausladenden Schritten flog Winter in den anbrechenden Morgen hinein. In regelmäßigen Abständen drehte Jisah sich um. Dann sah er die langgestreckten Hälse der Hyänen aus den Nebelschwaden herausragen. Sie waren ihnen dicht auf den Fersen. Jisah spürte Müdigkeit und Hunger in sich heraufsteigen. Für einen kurzen Augenblick schloss er die Augen.
Als er sie wieder öffnete und erneut hinter sich sah, konnte er keine Hyänen mehr erblicken. Winter neigte seinen Kopf leicht nach hinten und sagte leise:
„Du hast geschlafen, Junge.“
„Lange?“, brummte Jisah und hob den Kopf.
Die Sonne begann ihre ersten Strahlen über den östlichen Horizont zu senden.
„Nur so lange, wie ich gebraucht habe, um einen sicheren Abstand zwischen uns und die Meute zu bringen“, antwortete Winter und verlangsamte sein Tempo. „Wir sollten uns bald eine kurze Rast gönnen!“
Wie ein glutroter Feuerball stand die Sonne wenige Meter über dem Boden, und Winter und Jisah ritten, Lauf vor Lauf, mitten in den Sonnenaufgang hinein. Jisah konnte nicht einmal mehr raten, wie viele Kilometer sie schon zurückgelegt hatten.
Jeder Knochen seines Körpers schmerzte und das nagende Hungergefühl ließ ihn zittern. Als er meinte, keinen einzigen Meter mehr reiten zu können, erreichten sie ein schmales Tal. Bald stiegen die Hügel zu ihrer rechten Seite an, wurden felsiger und strebten mit jedem Schritt, den sie zurücklegten, steiler in den Himmel. Jisah ließ seinen Blick über die Felswand schweifen. Als sie das Tal fast durchquert hatten, entdeckte er eine Felsspalte. Sie zog sich vom Boden durch den Felsen in die Höhe und schien einen sicheren Unterschlupf zu gewähren.
Winter ritt auf die Felsspalte zu. Kurz vor ihr kam er zum Stehen. Sie zog sich wie der Eingang zu einer Schlucht nach oben. Aber es war eine Höhle, deren Dach sich weit oben schützend über ihnen wölbte.
„Lass uns bitte eine Pause machen“, keuchte Jisah. „Ich kann nicht mehr!“
Winter nickte und schlich ins Halbdunkel.
Nach nur wenigen Metern ließen sich die beiden nieder. In der Höhle war es kalt und klamm. Jisah fror. Wie gerne hätte er nun in seine Satteltasche gegriffen, etwas gegessen und getrunken.
„Wir können hier nicht lange bleiben“, flüsterte Winter.
Jisah nickte schläfrig und kuschelte sich in Winters warmes Fell. Doch kaum waren seine Augen zugefallen, da sprang Winter schon wieder auf. „Schnell! Komm mit“, raunte er. Stolpernd folgte Jisah Winter, der tiefer in die Höhle eindrang. Die beiden hielten den Atem an und lauschten. Es klang, als näherte sich Hufgetrappel.
„Das sind keine Hyänen“, raunte Jisah Winter zu. Winter nickte.
Die Hufschläge näherten sich, wurden lauter und kamen direkt vor der Höhle zum Verstummen. Leises Stimmengewirr drang an ihre Ohren. Dann setzten Hufe auf steinigem Boden auf und die Geräusche hallten von den hohen Wänden zurück.
Jisah und Winter pressten sich dicht hinter einen Felsvorsprung. Jisah wagte einen Blick um die Ecke. Der Eingang der Höhle war von Eseln und kleinwüchsigen bärtigen Männern bevölkert. Sie trugen schlabbrige Stoffhosen, die nach unten enger wurden und in den Schäften hoher Lederstiefel steckten. Ihre Hemden waren bunt und flatterig. Die Esel standen am Eingang der Höhle und scharrten mit den Hufen. Schon waren einige Männer dabei, ein Feuer zu entfachen.
Jetzt fiel Jisah auf, dass der Boden rußschwarze Flecken hatte. „Diese Männer scheinen öfter hier zu sein“, flüsterte er Winter zu.
„Pssst“, zischte Winter.
Kochgeschirr wurde aus Satteltaschen gekramt und Trinkflaschen machten die Runde. Nach einigen Minuten hatten sich die Männer um das Feuer niedergelassen. Bald durchzog der köstliche Geruch nach gebratenem Speck und geröstetem Brot die Höhle. Jisahs Bauch krampfte sich schmerzhaft zusammen. Winter stieß Jisah von hinten an. „Lass mich auch mal!“ Er drängte Jisah zur Seite. Als er sich Jisah wieder zuwandte, flüsterte er: „Es sind Eselreiter. Schmuggler. Ein wildes und gefährliches Volk. Sie sollten uns besser nicht entdecken. Denn wahrscheinlich …“, Winter zeigte ins Dunkel der Höhle hinein, „ … sitzen wir mitten in einem ihrer geheimen Lager.“
Und wieder lugte Jisah neugierig um die Ecke und beobachtete die Schatten, die der Feuerschein an die Wand warf. Die Eselreiter erzählten sich gegenseitig wilde Geschichten und lachten rau. Fett tropfte von ihren Fingern und sie schlangen das Brot mit groben Bissen hinunter. Einer der Reiter wischte sich die Hände an seiner Hose ab, stand auf und holte eine Fidel aus der Satteltasche seines Esels. Bald durchzogen lustige Töne die Höhle und die Gespräche verstummten.
Müde und satt lehnten sich die Eselreiter mit ihren Rücken gegen die Felswände.
Unterdessen wurde Jisah unruhig. Die Hyänen würden ihr Versteck bald aufgespürt haben.
Jisah hatte seine Sorge Winter gegenüber gerade ausgesprochen, als ein spitzer Hornstoß ertönte. Kurz darauf durchriss ein weiteres Warnsignal die Luft. Der Fidelspieler hielt inne. Stille breitete sich in der Höhle aus. Die Eselreiter lauschten aufmerksam. Jisah griff unter sein Hemd, um nach der Feder zu fühlen. Er hob seinen Kragen und blickte darunter. Sie leuchtete in einem matten silbernen Licht. Er blinzelte. Das Leuchten war noch da. Verwundert schüttelte Jisah den Kopf. Vorne in der Höhle brach Aufregung aus. Dann überschlugen sich die Ereignisse. Zwei weitere Hornstöße schallten aus der Ferne in die Höhle hinein. Die Eselreiter sprangen auf. Nur Sekunden später vernahm Jisah lautes Hufgetrappel. Ein junger Eselreiter erreichte den Eingang der Höhle. Jisah sah seine Silhouette. Es war ein Junge, etwa so alt wie er selbst. Noch bevor die Beine seines Reittieres völlig still standen, sprang er ab. Atemlos keuchend schlitterte er in die Höhle hinein.
„Sie sind direkt hinter mir!“, stieß er aus. „Hyänen! Eine ganze Meute“, fuhr er keuchend fort.
Hektisch sprangen die Schmuggler auf. Becher fielen scheppernd zu Boden. Einer der Schmuggler begann eilig, mit seinen schweren Stiefeln das Feuer auszutreten.
In diesem Augenblick verließen Winter und Jisah ihre Deckung. Sie traten aus dem Versteck hervor. Sofort waren alle Blicke auf sie gerichtet. Stille breitete sich aus. Dann schnellten die Köpfe zurück zum Eingang, wo der kleine Junge, noch immer völlig außer Atem, an seinen Esel gelehnt stand. Winter reckte seinen Kopf und sprach leise, aber bestimmt: „Sie jagen nicht euch. Sondern uns!“
Ohne genau zu wissen, was er tat, griff Jisah unter sein Hemd und zog die Feder hervor. Ihr silberner Schein erleuchtete die gesamte Höhle.
Die Stille war greifbar. Jisah stand nur da. Alleine neben Winter. Die Feder in der linken Hand. Alle Blicke waren auf ihn und auf die Feder gerichtet.


DER KNOCHENSAMMLER
Zögernd folgten Wald und Pepe, immer noch völlig außer Atem, der gekrümmten Gestalt ihres bleichen Führers. Pepe bemerkte, dass dieser humpelte. Schwer stützte sich der Höhlenbewohner auf einen langen Stab. Mit einem dumpfen Dröhnen setzte er ihn Schritt für Schritt neben sich auf. In der linken Hand hielt er eine funzelige Grubenlampe. Als Pepe den Stab im Zwielicht der Lampe genauer betrachtete, fiel ihm auf, dass er nicht aus Holz, sondern aus einem sehr großen, sehr alten Knochen zu sein schien.
„Was ist das für ein Mensch?“, flüsterte Pepe Wald atemlos ins Ohr.
Völlig erschöpft lehnte er sich gegen die kalte Höhlenwand. Wald rang nach Atem und keuchte: „Ein Knochensammler.“
„Oh, Sie sprechen über mich?“ Der Knochensammler drehte sich um. „Ich habe mich nicht vorgestellt. Wie unhöflich von mir. Ich bedauere es zutiefst. Entschuldigen Sie bitte, hohe Herren. Ich meine fast, auch Sie hätten es ein klein wenig eilig gehabt. Wie auch immer.“ Er wischte mit seiner Hand durch die Luft und die Grubenlampe flackerte. „Mein Name ist Geiswind. Geiswind, der Knochensammler.“
Pepe warf einen fragenden Blick in Walds sorgenvolles Gesicht.
Der Knochensammler umklammerte seinen Knochen und senkte den Kopf. „Ja, ja“, murmelte er halblaut, „die feinen Herren halten nicht viel von unsereins. Ja, ja. Es muss wohl so sein.“ Er schüttelte seinen Kopf und Pepe befürchtete beinahe, dass ihm dieser vom Hals fallen würde. Die Haut des Alten war fast durchsichtig, dünn und zerknittert. Nur über seinen hohen Wangenknochen spannte sie sich. Sein graues Haar war von verblassten roten Strähnen durchzogen. Es fiel ihm bis über die Schultern und rahmte einen Bart ein, der, struppig wie ein Sanddornbusch, über sein Gesicht wucherte. Er war nur wenig größer als Pepe und seine ganze Gestalt wirkte eingesackt. Vielleicht ist er einmal ein stolzer Mann gewesen?, dachte Pepe und betrachtete Geiswinds langen dunklen Mantel.
„Wir müssen weiter. Geht dicht hinter mir“, sagte der Knochensammler mit seiner trockenen Stimme und wandte sich zum Gehen.
„Halt! Wohin führst du uns, Mann?“, unterbrach Wald seinen Gang.
Geiswind drehte sich erneut um. Wald blickte ihm direkt in die Augen.
„Dieser Stollen wurde in den uralten Zeiten von Zwergen gegraben.“ Er hielt inne, um sich eine rote Strähne aus dem Gesicht zu wischen. „Auf der Suche nach Eisenerz trieben sie ihre Schächte durch das halbe Brachtland. Das Felsenmeer verdankt seinen Ursprung diesen alten Stollen. Sie wurden marode, stürzten ein und verwandelten die Landschaft.“
Wald verzog misstrauisch das Gesicht.
„Keine Sorge“, antwortete der Knochensammler. „Dieser Bereich ist stabil.“ Wie zur Bestätigung stieß er seinen Knochen hart auf den steinernen Boden. Ein dumpfes Dröhnen hallte durch den unterirdischen Gang. Dann streckte Geiswind seinen Arm aus und leuchtete mit der Grubenlampe in die Tiefe des Stollens. Pepe sah nur Schwärze. Der Knochensammler fuhr fort: „Etwa zwei Stunden strammen Fußmarsches weiter vorne gibt es eine Steige. Sie führt zu einem unterirdischen Seitenarm der Bracht. Dort könnt ihr mein altes Floß nutzen und zum Hauptfluss zurückgelangen …“
Wald ging einen schnellen Schritt auf Geiswind zu. „Wieso sollten wir dir trauen?“, unterbrach er den Alten unwirsch.
Geiswind senkte den Kopf. Wie ein Zischen schoss es aus seinem faltigen Mund: „Ich kann euch gerne wieder die Tür nach draußen öffnen. Entscheidet euch.“
In den Augen des Knochensammlers blitzte ein Funkeln auf, das Pepe nicht deuten konnte. So sehr er sich anstrengte, er konnte in der Tiefe dieser schwarzen Seele nichts lesen.
„Ich warne dich!“, knurrte Wald. „Führ uns durch den Berg! Und keine Fallen! Verstanden? Wir brauchen unsere Knochen noch!“
Die Wände der Schächte blieben so eng wie zu Beginn. Wald schienen seine sechs Läufe in dieser Umgebung eher hinderlich als dienlich zu sein. Seine Laune verschlechterte sich zusehends. In stummem Marsch gingen sie hintereinanderher. Die Lampe des Knochensammlers hatte von Anfang an nur dämmrig geleuchtet und nach knapp einer Stunde schien ihr Licht langsam zu erlöschen.
„Es ist gleich so weit“, krächzte Geiswind. Als die eiserne Grubenlampe zu flackern anfing, blieb er stehen, wandte sich nach rechts und kramte in seinem Mantel. Mit einem rostigen Schlüssel schloss er eine kleine hölzerne Tür auf, die sich knarrend öffnete. Der Knochensammler trat einen Schritt zur Seite und ließ Pepe und Wald im letzten Flackern der Lampe eintreten. Dann herrschte Dunkelheit. Sie hörten Geiswind schnarren und scharren und kurz darauf erleuchteten drei Öllampen den Raum.
Pepe blickte um sich und entdeckte eine beeindruckende Knochensammlung. Da standen mehrere Wiesendschädel an die Wände gelehnt und daneben riesige Oberschenkelknochen der längst ausgestorbenen Waldschrate. Auf einem hölzernen Schemel lag der flache Schädel eines Nebelparders neben dem gedrungenen Schädel eines Brillenbärs. Körbe voller Ellenbogen und kleine Schälchen mit Haifischzähnen bedeckten den Boden des Raumes. Hühnerknochen hingen, an Schnüren aufgereiht, unter der Decke und Töpfe voller Knochenstaub und Knorpelasche reihten sich ringsum auf den Regalen.
Während die beiden Gefährten sich erschöpft setzten, entzündete der Knochensammler ein kleines Kohlenfeuer. Er nahm einen leeren eisernen Topf aus einem der unzähligen Regale und füllte ihn mit Vogelknochen, die er von der Decke klaubte. Dann goss er kristallklares Wasser darauf und stellte den Topf auf die glühenden Kohlen. Er bewegte sich so flink, als würde er dieses Ritual mehrmals täglich durchführen.
Schließlich setzte sich auch er ans Feuer. Aus den Tiefen seiner Manteltasche kramte er eine winzige Flöte, schlicht aus einem Rinderknochen geschnitzt, heraus. Pepe lauschte den tiefen traurigen Tönen, die aus der Flöte krochen und die dunkle Luft mit ihrem trüben Klang beschwerten. Seine Augen wurden schwer.
„Nicht einschlafen!“ Wald stieß ihn von der Seite an. Pepe fröstelte. Er wusste nicht, wie lange der Knochensammler gespielt hatte. Doch als dieser offenbar meinte, er hätte genug Trübsinn in seine dunklen Gänge hinausgeflötet, nahm er den Topf mit den Knochen vom Feuer und füllte die Brühe in drei matte Schalen. Eine Handvoll Feigen kam aus seiner Manteltasche zum Vorschein, die er mit seinen langen dürren Fingern neben die Schälchen legte.
Die Suppe schmeckte fad und wässrig, aber wider Erwarten nicht schlecht. Die Feigen waren trocken, aber voller Geschmack. „Was gäbe ich jetzt für ein Stück Speck und Ziegenkäse“, grunzte Wald, verschlang die heiße Suppe jedoch gierig.
Satt, erschöpft und schläfrig lehnten sie sich mit dem Rücken an die kalten Felswände. Doch der Knochensammler erhob seine rauchige Stimme: „Zeit, aufzubrechen.“
Er füllte seine Grubenlampe und die Gefährten brachen schweigend auf. Sie marschierten zügig durch die dunklen verlassenen Schächte. Nach einer guten Stunde erreichten sie eine schmale Stiege, die abwärtsführte. Geiswind leuchtete mit seiner Grubenlampe in den dunklen, steil abfallenden Schacht und grunzte: „Brecht euch bloß nicht die Knochen.“
Langsam und vorsichtig stiegen sie abwärts. Nach einigen Metern vernahm Pepe ein fernes Gluckern. Mit jedem Schritt wurde das Glucksen lauter, kam näher, und als er meinte, schon neben einem Bach zu stehen, erreichten sie ein hohes Gewölbe. Pepe konnte die Decke nicht ausmachen. Die Höhle schien sich weit auszustrecken. Ganz in ihrer Nähe floss träge ein schwarzer Fluss. Das Licht der Grubenlampe schimmerte schwach auf seiner Oberfläche.
Geiswind führte sie etwa hundert Schritte flussaufwärts und kniete am felsigen Ufer neben einem alten Floß nieder. „Hier ist es.“ Er band den verwitterten Strick, der das Floß am Ufer hielt, los. „Steigt auf. Aber Vorsicht! Es hat schon bessere Tage gesehen.“
Skeptisch betrachtete Wald die modrigen Planken. „Das ist nicht dein Ernst, Knochensammler?“ Seine Augen durchbohrten Geiswind.
Geiswinds knöcherne Schultern zuckten. Die Grubenlampe flackerte. „Habt ihr eine Wahl?“ Er musterte Pepe. „Folgt dem Fluss. Passt auf. Die Strömung ist schnell. Mit etwas Glück erreicht ihr gegen Morgen den Ausgang.“
Die modrigen Planken ächzten, als Wald seine schweren Vorderpfoten auf ihnen platzierte. Das Floß neigte sich zur Seite. Pepe folgte ihm vorsichtig.
„Gib uns wenigstens deine Lampe!“ Bittend sah er den dürren Knochensammler an. Geiswind wühlte in seiner Tasche, kramte einen Kerzenstummel heraus und entzündete ihn an der Lampe. Dann reichte er Pepe seine Grubenlampe und stieß das Floß mit seinem Knochen ab. „Die Lampe hat genug Öl bis zum Ausgang. Greif unter dich, Junge. Dort findest du einen Stecken. Ihr werdet ihn brauchen, um euch abzustoßen.“
Wald drehte sich bedächtig um die eigene Achse. „Ich habe dich gewarnt, Knochensammler. Du solltest keine Spiele mit uns treiben!“ Sein Ruf hallte zum Ufer. Keine Regung war im Gesicht des Alten zu erkennen. Dann, das Floß hatte sich schon um fünf Längen vom Ufer entfernt, sah Pepe ein Lächeln über das Gesicht des Knochensammlers huschen. Auch dieses konnte er nicht deuten.
Die Strömung packte das Floß und trug sie schnell aus dem Gewölbe hinaus. Die Kerze Geiswinds wurde kleiner und verschwand. Der Nebenarm der Bracht trug sie in einen niedrigen Tunnel hinein. Pepe kauerte fast liegend auf dem Floß, um sich nicht an den spitzen Felsen zu stoßen, die aus der niedrigen Decke ragten. Die Nässe zog sich durch seine Kleidung und weil er sich nicht bewegen konnte, begann er nach kurzer Zeit erbärmlich zu frieren. Er konnte seine Fußspitzen und seine Hände vor Kälte kaum noch spüren.
Misstrauisch blickte Wald in die Schwärze und murmelte: „Sollte mich wundern, wenn das gutgeht. Entweder wir brechen uns auf dieser letzten Reise das Genick und der dürre Vogel sammelt später unsere Knochen auf. Oder aber er ist der erste ehrliche Knochensammler, den ich in meinem Welfenleben getroffen habe. Dann, aber ich halte das nicht für wahrscheinlich, kommen wir hier wirklich an einem Stück hinaus.“
Pepe und Wald kauerten wie versteinert am Boden des Floßes und verloren jedes Zeitgefühl. Die nasse Fahrt schien sich über Stunden zu ziehen. Pepe wusste nicht mehr, ob es draußen Tag oder Nacht war. Der schwache Schein der eisernen Grubenlampe erleuchtete immer nur den nächsten Meter und sie schienen in einem endlosen Labyrinth aus schwarzem Wasser und herabragenden Felsen gefangen zu sein.
Pepe spürte, dass die Strömung stärker und ihr Floß von der Flussmitte zum linken Ufer gezogen wurde. Er meinte, in der Ferne ein leises Rauschen zu hören. Pepe richtete sich auf und hob den Stecken an. Täuschte er sich oder war das Rauschen lauter geworden? Glitschig lag der feuchte Knochen in seiner Hand. Doch – da. Das Rauschen schwoll an und wurde bald zu einem ohrenbetäubenden Tosen.
Pepe kroch gebückt auf den vorderen Teil des Floßes. Das alte Floß schwankte bedrohlich. Kniend begann Pepe sich mit aller Kraft gegen die Strömung zu stemmen und versuchte, das Floß zurück in die Mitte des Flusses zu steuern.
Wald blickte beunruhigt in die tanzenden Schaumkronen vor sich. „Bring uns zurück in die Mitte, Pepe!“, keuchte er. „Schaffst du das?“
Pepe blickte sich hektisch um. Der Fluss schien sich zu teilen. Während der Hauptstrom weiter beharrlich geradeaus floss, hatte sich das Bild zu ihrer Linken verändert. Eine Nebenströmung hatte sie erfasst und zog sie unwiderstehlich mit sich.
Ihr Floß schwankte bedrohlich, als Wald versuchte, sich aufzurichten. „Pepe!“, brüllte er. „Du musst uns in die Mitte bringen!“
Pepe war wie versteinert. Walds Brüllen drang nur wie ein leises Flüstern in seine Ohren. Gebannt starrte er auf den Schlund, der sich auf der linken Seite öffnete. Nicht weit vor ihnen stürzten die Wassermassen mit einem Höllenlärm in die Tiefe. Seine Ohren dröhnten. Aus den Augenwinkeln und wie in Zeitlupe sah er Wald ins Wasser springen. Er verlor das Gleichgewicht, schwankte nach hinten, tat einen Schritt und stürzte auf die Knie. Walds Kopf tauchte neben dem Floß auf und wie durch einen Nebel nahm er wahr, dass Wald etwas rief.
„Hilf mir!“, brüllte Wald. „Stoß uns ab!“
Jetzt war Pepe hellwach. Nur noch wenige Bootslängen trennten ihn von dem Schlund. Nur noch Sekunden trennten ihn und Wald von einem Sturz in die undurchdringliche schäumende Schwärze. Wald drückte mit der Macht seines stämmigen Körpers gegen das Floß und Pepe stieß den langen Knochen mit aller Kraft dicht neben ihm in den Grund des Flusses. Der Stecken griff. Pepes Arme brannten. Wieder und wieder stieß er den Stab ins schwarze Nass. Dann, Pepe hatte die Hoffnung schon tausendmal aufgegeben, vergrößerte sich der Abstand zu dem Schlund und der Sog ließ nach. Sie waren aus der Strömung heraus.
„Das hätte dem Knochensammler gefallen“, keuchte Wald mit der Schnauze auf dem Floß. „Hübsch zerschellt wären wir da unten in der Tiefe.“
Pepe stieß das Floß mit einem letzten Ruck ab und zog den Stecken ein. Wald paddelte neben ihm. Pepe schloss die Augen. „He, sieh nach vorne!“, hörte er Wald neben sich. Pepe versuchte seine Augenlieder aufzuschlagen. Sie waren schwer wie Blei und ihn beschlich das albtraumhafte Gefühl, sie nie wieder öffnen zu können. Doch als er sich mit aller Kraft zwang und sie einen Schlitz weit aufdrückte, sah er einen hellen Sonnenschein am Ende des Tunnels. Das schreckliche Tosen lag hinter ihnen. Der Strom floss wieder ruhig und gluckerte friedlich.
„Gleich haben wir es geschafft“, murmelte Wald. „Ich glaube, du musst abbremsen, Pepe.“
Pepe ging in die Knie und verlangsamte mit dem Knochen die Fahrt.
Wald tauchte unter dem Floß hindurch und schob es mit kräftigen Paddelstößen langsam ans linke Ufer. Nass, durchfroren und müde erreichten sie die warme helle Öffnung, durch die sich der Fluss ins Freie ergoss.
Zitternd vor Kälte verließen Wald und Pepe das Floß und fanden Platz auf einem kleinen Felsvorsprung. Pepe verknotete das Floß mit dem modrigen Seil. Völlig erschöpft standen die zwei auf dem nassen Felsen, der aus der Höhle hinaus ins friedliche Tal hineinragte. Das kalte Wasser umspülte ihre Knöchel. Rechts von ihnen, aber weit genug weg, um ihnen nicht mehr gefährlich werden zu können, ergoss sich der unterirdische Seitenarm mit kräftigen Stromschnellen und Strudeln in einem breiten Wasserfall ins weite Flussbett der Bracht.
Die Sonne hatte den Horizont gerade erst erklommen und spiegelte sich auf der glitzernden Oberfläche des Flusses in Tausenden Farben. Das freundliche Zwitschern munterer Vögel klang durch das Rauschen des Wassers hindurch. Forellen tummelten sich im kristallklaren Flussbett und Libellen begrüßten den neuen Morgen mit schnellen Flügen dicht über der Wasseroberfläche.
Vor ihnen lag die weite Ebene des Brachtlandes, gespickt mit Obstbäumen, ausladenden Eichen und durch Hecken begrenztem Weideland. Pepe atmete tief ein.
Als Wald in die Weiten des Brachtlandes blickte, kannte er kein Halten mehr. „Spring auf, Junge!“, rief er ungeduldig.
Kaum saß Pepe auf seinem Rücken, stieß sich Wald mit seinen Hinterläufen vom Felsvorsprung ab. Er flog langgestreckt durch die Luft. Pepe klammerte sich an seinen Hals. Dann setzte er mit den Vorderläufen auf dem Boden auf. Er federte den waghalsigen Sprung ab und landete den Bruchteil einer Sekunde später auch mit seinen Hinterläufen. Wald drehte sich um und blickte nach oben zum Felsvorsprung.
„Verfluchter Knochensammler“, murmelte er. „Damit hättest du nicht gerechnet!“
Pepe klammerte sich an Walds warmes Fell. Der Welfe warf den Kopf in den Nacken, stieß einen kehligen Jauchzer aus und ließ seine Läufe weit ausgreifen. Immer schneller und schneller jagte er durch das satte Grün des morgendlichen Brachtlandes.






