- -
- 100%
- +
Die in diesem Kapitel beschriebenen kulturellen, hermeneutischen, missiologischen und globalen Veränderungen haben dazu geführt, dass heute Mission zunehmend als Transformation verstanden wird. Transformation bedeutet, dass die Missionstätigkeit darauf zielt, den einzelnen Menschen und die gesamte ihn umgebende Lebenswirklichkeit umzuwandeln und in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes zu bringen.
Wenn wir von einer transformationsorientierten Mission sprechen, meinen wir eine Mission, die persönliche, kulturelle, soziale, gesellschaftliche, politische und ökologische Elemente einschließt. Alle diese Bereiche sollen unter die gute Herrschaft Gottes kommen und seinem Heil zugeführt werden. Mission ist so verstanden nicht etwas, das einzelne Christen tun, wenn sie in einem fernen Land aus dem Flugzeug steigen. Mission beginnt schon früher bei der Aufgabe des einzelnen Christen in seiner Umgebung und mit dem Auftrag der lokalen Kirche in ihrer Stadt oder Region. Mission ist nicht ein geografischer Begriff, sondern findet immer und überall statt. Dieses Missionsverständnis wird auch als ganzheitlich bezeichnet. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass Gott ganzheitliches Heil will und die Mission sich dieser Ganzheit verpflichten sollte.
Damit ist auch die Frage nach der Identität und dem Auftrag der Kirche in ihrem Umfeld berührt. Wenn die Mission die soziale Verantwortung einschließt, wenn sie inkarnatorischen Charakter haben muss und zur Transformation drängt, gilt das auch für die Kirche in ihrem Umfeld. Mission ist dann nicht nur das, wofür die Kirche Personal oder Finanzen zur Verfügung stellt. Mission ist so gesehen nichts anderes als die Identität der Kirche selbst. Kirche ist Mission. Ihr Einsatz für gerechte Verhältnisse in der Welt, ihre dienende Zuwendung zu bedürftigen Menschen in ihrem Umfeld, das Gebet für die eigene Stadt oder das Dorf, die Verkündigung des Evangeliums auf verständliche Weise – all das ist ihre Mission. In einer postmodernen Gesellschaft ist dies die Kirche der Zukunft.
Dieses umfassende Missionsverständnis hat neue Begriffe und Konzepte hervorgebracht. Der Begriff „missionale Kirche“ wird zur Umschreibung eines solchen ganzheitlichen Missionsverständnisses verwendet. Auch das Konzept der Emerging Church ist hier einzuordnen. Es handelt sich um eine kommende (emerging) Generation von Kirchen, die auf die Herausforderungen der Postmoderne mit Gesellschaftsrelevanz reagieren wollen. Emerging Kirchen verstehen sich als Kirchen für die Welt und wollen durch inkarnatorisches Handeln ihre Umgebung transformieren. Zu den vielfältigen Einflüssen, welche die Theologie der Emerging Church formen, gehören die Evangelikalen, welche seit den 1960er Jahren die evangelikale Mission zu mehr Weltzugewandtheit angestiftet haben.1 Nicht nur die evangelikale Mission hat sich im ausgehenden 20. Jahrhundert verändert. Mit etwas Verzögerung zeichnet sich dieselbe Veränderung auch in den evangelikalen Kirchen ab. Wir befinden uns mitten in der Entwicklung eines neuen missionarischen und kirchlichen Paradigmas.
Die Veränderungen, die ich in diesem Kapitel beschrieben habe zeigen an, dass in der evangelikalen Bewegung am Ende des 20. Jahrhunderts ein erweitertes Verständnis von Mission entstand. Dieses neue Verständnis wird Auswirkungen auf die missionarische Praxis, das Leben der Kirche und den einzelnen Christen haben. Die Stoßrichtung dieser Veränderung ist erstaunlich einheitlich. Es geht darum, dass die Kirche sich auf ihre missionarische Aufgabe besinnt und durch gesellschaftsrelevante Taten die Welt umwandelt. Mit diesem Buch will ich aufzeigen, wie die weltweite evangelikale Bewegung auf dem Weg zu einem ganzheitlichen Missionsverständnis ist. Es geht um eine biblische Begründung des Auftrags der Kirche angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.
Anmerkungen
1Die Rede ist von den so genannten radikalen Evangelikalen. Brian McLaren, einer der Hauptvertreter der Emerging Church in den Vereinigten Staaten, ist namentlich von radikalen Hauptvertretern wie Jim Wallis, Ronald Sider und René Padilla beeinflusst worden (McLaren 2006, 10; 227). Mehr zu den radikalen Evangelikalen in Kapitel 2 „Die radikale Anstiftung“.
2 | DIE RADIKALE ANSTIFTUNG
Die evangelikale Bewegung ist ein vielschichtiges Phänomen. In Europa werden die Evangelikalen als Segment in der Gesellschaft wahrgenommen, das traditionelle Werte vertritt. Die Evangelikalen stehen für konservative ethische Positionen und neigen zu einer konservativen politischen Haltung – sofern gesellschaftliche Fragen in ihrem Denken überhaupt eine Rolle spielen. Sie interessieren sich mehr für die Veränderung des Herzens als für die Umwandlung der Gesellschaft.
Dieses Bild trifft nicht auf alle Evangelikalen zu. Es ist wenig bekannt, dass sich in der weltweiten evangelikalen Bewegung in den 1970er Jahren ein radikales Segment gebildet hat. Seitdem am Kongress für Weltevangelisation in Lausanne 1974 eine Gruppe von sich reden machte, die sich „Radical Discipleship Group“ nannte, hat sich ein radikales Segment gebildet, das sich durch die Betonung der sozialen Verantwortung auszeichnet. Der Begriff „radikal“ besagt, dass diese Evangelikalen Jesus radikal nachfolgen und wie er sozial handeln wollen. Angestiftet durch diese radikale Gruppe hat sich in den auf Lausanne folgenden Jahrzehnten das Missionsverständnis der evangelikalen Bewegung auf Transformation hin verändert.
Die radikalen Evangelikalen treten nicht als gesonderte Gruppe in Erscheinung und sie sind auch nicht einer bestimmten Kirche oder Denomination zuzuordnen. Der Begriff charakterisiert vielmehr evangelikal gesinnte Christen, denen die soziale Verantwortung am Herzen liegt, weil nach ihrem Verständnis radikale Nachfolge zur Nächstenliebe führt. Der radikale Evangelikalismus ist am stärksten in der Zwei-Drittel-Welt verbreitet. In der südlichen Hemisphäre denkt der überwiegende Teil der Evangelikalen radikal. Das ist bedeutsam, weil durch das numerische Kräfteverhältnis zwischen Nord und Süd immer öfter Stimmen aus dem Süden auch im Norden gehört werden. Diese Stimmen werden unser Verständnis von Kirche und Mission in Zukunft prägen.
Den radikalen Kräften gehört die Zukunft. Wir tun gut daran, dieses Segment zu verstehen und darauf zu achten, wie seine Vertreter auf den Wandel der Welt reagieren. Das wird uns helfen zu verstehen, wie im weltweiten Leib Christi die gegenwärtigen Herausforderungen bewältigt werden. Es wird blinde Flecken in unserer Sichtweise aufdecken und so unseren Blick für unsere Aufgabe schärfen.
In diesem Kapitel werde ich die radikale Anstiftung, die in Lausanne ihren Anfang nahm, darstellen und den Prozess beschreiben, der zur Transformations-Orientierung der evangelikalen Mission geführt hat. Als Orientierungspunkt dienen die wichtigsten evangelikalen Missionskongresse von 1966 bis in die Gegenwart.
Wheaton und Berlin (1966)
Im April 1966 versammelten sich knapp 1000 Delegierte in Wheaton, in den Vereinigten Staaten, zu einem bedeutenden Missionskongress. Es war die Zeit, in der Billy Graham der evangelikalen Bewegung durch seinen Dienst neuen Aufschwung gab. In seiner Person repräsentierte sich die so genannte neue evangelikale Bewegung, die sich aus dem Pessimismus des Fundamentalismus hatte lösen können und durch ihre Weltoffenheit Kräfte für die Evangelisation freisetzte. In Wheaton stand die Evangelisation im Vordergrund des missionarischen Auftrags. Gleichzeitig wurde bedauert, dass man sich zu wenig um soziale Fragen gekümmert hatte. In der Wheaton-Erklärung heißt es:
Wir haben schlimm gesündigt. Wir sind einer unbiblischen Isolation von der Welt schuldig geworden, die uns nur zu oft davon abgehalten hat uns ehrlich mit den Angelegenheiten der Welt zu befassen … Während die Evangelikalen im 18. und 19. Jahrhundert führend in der sozialen Verantwortung waren, haben viele im 20. Jahrhundert die biblische Perspektive verloren und sich einzig darauf beschränkt, ein Evangelium der individuellen Erlösung zu predigen ohne sich genügend ihrer sozialen und gemeinschaftlichen Verantwortung hinzugeben. (Wheaton Declaration 1966)
Diese Passage macht deutlich, dass das soziale Gewissen der Evangelikalen erwacht war. Man wollte an das sozialethische Erbe der frühen evangelikalen Bewegung anknüpfen und Versäumtes aufholen. Dieses Bestreben war zu einem beträchtlichen Teil dem Einfluss der Delegierten aus der Zwei-Drittel-Welt zu verdanken. Das ist erstaunlich, denn aus Afrika, Asien und Lateinamerika nahmen nur etwa 50 Personen am Kongress teil.1
Im selben Jahr fand in Berlin ein Weltkongress über Evangelisation statt. An diesem Kongress begannen erstmals Theologen aus der Zwei-Drittel-Welt Kritik am Westen zu üben und der Westen verschloss sich dieser Kritik nicht (Steuernagel 1988, 99). Zum ersten Mal konnte davon gesprochen werden, dass die Teilnehmer aus dem Westen und aus den übrigen Ländern als gleichberechtigte Partner teilnahmen, und zum ersten Mal erkannte man, wie wichtig der Beitrag dieser Länder für die Weltevangelisation ist (Johnston 1984, 158).
Der Kongress in Berlin befasste sich nur am Rande mit der sozialen Aufgabe. Billy Graham sprach sich für die Priorität der Evangelisation aus: „Die sozialen, psychologischen, moralischen und geistlichen Nöte und Bedürfnisse der Menschen werden zu einer brennenden Motivation für die Evangelisation. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass die Kirche einen viel größeren Einfluss auf die sozialen, moralischen und psychologischen Bedürfnisse der Menschen haben würde, wenn sie zu ihrer Hauptaufgabe zurückkehrte, das Evangelium zu verkündigen und Menschen zu Jesus Christus zu bekehren“ (Johnston 1984, 162–163).
Nach Wheaton und Berlin wurde die soziale Frage für die Evangelikalen zu einem wichtigen Thema. Am stärksten wurde sie in der Zwei-Drittel-Welt diskutiert. An einem Kongress über Evangelisation in Bogotá 19692 sagte Samuel Escobar: „Jede Evangelisation, die den sozialen Problemen keine Beachtung schenkt und die das Heil und die Herrschaft Christi nicht in dem Kontext verkündigt, in dem die Zuhörer leben, ist eine mangelhafte Evangelisation; sie verrät die biblische Lehre und folgt nicht dem Beispiel, das Jesus Christus, der uns als seine Botschafter hinaussendet, uns gegeben hat“ (Escobar 2002, 249).
Escobars Aussage unterscheidet sich von Billy Grahams Position dadurch, dass er die soziale Verantwortung nicht als bloße Brücke zur Evangelisation betrachtet. Er forderte, dass wir in der Evangelisation dem Beispiel Christi folgen. Escobar begründete die Zuwendung zur Welt christologisch und gab der sozialen Verantwortung damit einen eigenständigen Wert. Die Schlusserklärung des Kongresses zeigt, dass in Lateinamerika ein neues Verständnis von Kirche und Mission entstanden war:
Wir haben zusammen die Notwendigkeit erkannt, das christliche Leben in seiner ganzen Fülle zu führen und dem lateinamerikanischen Menschen das ganze Evangelium im Kontext seiner zahlreichen Bedürfnisse zu verkündigen … Der Prozess der Evangelisierung muss in konkreten menschlichen Situationen stattfinden. Soziale Strukturen beeinflussen die Kirche und diejenigen, die das Evangelium empfangen. Wo diese Tatsache nicht erkannt wird, wird das Evangelium verraten, und das christliche Leben verarmt. Für uns Evangelikale ist die Zeit gekommen, unsere soziale Verantwortung ernst zu nehmen. Dabei müssen wir auf ein biblisches Fundament bauen, zu welchem eine evangelikale Lehre sowie das konsequent weitergedachte und verwirklichte Beispiel Christi gehören. Das Vorbild Jesu Christi muss in der gefährlichen Situation Lateinamerikas, die von Unterentwicklung, Ungerechtigkeit, Hunger, Gewalt und Verzweiflung gekennzeichnet ist, inkarniert werden. Der Mensch ist nicht in der Lage, das Reich Gottes auf Erden zu bauen. Aber das Handeln der Evangelikalen wird zur Schaffung einer besseren Welt beitragen, die das Reich vorausahnen lässt, für dessen Kommen wir täglich beten. (Escobar 2002, 250–251)
Vereinzelt machten auch im Westen ähnliche Vorstöße von sich reden. 1973 fand in Chicago ein Treffen über die soziale Verantwortung der Evangelikalen statt.3 In der Chicago Declaration of Evangelical Social Concern bekannten sich die Teilnehmer der Vernachlässigung der sozialen Verantwortung schuldig – nicht zuletzt unter dem Eindruck des Vietnamkrieges:
Wir bekennen, dass Gott Liebe verlangt. Wir aber haben die Liebe Gottes denen nicht gezeigt, die unter sozialer Ungerechtigkeit leiden … Wir haben Gottes Gerechtigkeit gegenüber der ungerechten amerikanischen Gesellschaft weder proklamiert noch gezeigt. Obwohl der Herr uns dazu aufruft, die sozialen und wirtschaftlichen Rechte der Armen und der Unterdrückten zu verteidigen, haben wir überwiegend geschwiegen. (Chicago Declaration I 1985 [1973])
Die Chicago-Erklärung war bedeutsam, weil sie einen für westliche Verhältnisse unüblich selbstkritischen Ton anschlug. „Noch nie war der Ruf nach sozialem Engagement in so scharfen Worten laut geworden“ (Berneburg 1997, 69). Dass das Dokument breite Zustimmung fand – unter anderem bei Billy Graham – verdeutlicht die veränderte Atmosphäre unter den Evangelikalen hinsichtlich ihres Weltbezugs. Der Brasilianer Valdir Steuernagel (1988, 131) hält fest, dass seit Berlin nur wenige Jahre vergangen waren, „aber die Evangelikalen waren einen weiten Weg gegangen – von einer zurückhaltenden Zustimmung in Wheaton hinsichtlich der sozialen Verantwortung der Christen … zu einer Art von Evangelisation, die darauf ausgerichtet ist, das ganze Evangelium der ganzen Person zu bringen … wie es in Bogotá zum Ausdruck kam.“
Die Missionstheorie des evangelikalen Mainstreams fußte zu Beginn der 1970er Jahre zwar immer noch auf der traditionellen Begründung von Mt 28. Aber man war sich bewusst, dass Antworten gefunden werden mussten auf die Herausforderungen einer nachkolonialen, globalisierten Welt. Den evangelikalen Missionstheologen stand eine große Aufgabe bevor. Sie mussten biblische Antworten finden auf Herausforderungen, die sich der Mission so noch nie gestellt hatten. In Lausanne begann man sich dieser Aufgabe zu widmen und gab damit Raum für eine der größten missionstheologischen Veränderungen in der modernen Mission.
Lausanne (1974)
Der Weltmissionskongress im schweizerischen Lausanne ist der bedeutendste Missionskongress der modernen evangelikalen Bewegung. Die Evangelikalen waren repräsentativ vertreten. Die Teilnehmer kam je zur Hälfte aus dem Westen und aus der Zwei-Drittel-Welt.
Die Frage der sozialen Verantwortung war von Anfang ein wichtiges Thema. Billy Graham (1974, 55) äußerte in seiner Eröffnungsrede den Wunsch: „Lasst uns freudig in der sozialen Aktion wirken und doch darauf bestehen, dass dies allein noch nicht Evangelisation ist und auch nicht Evangelisation ersetzen kann. Diese Zusammenhänge verunsichern manche Gläubige. Vielleicht kann Lausanne helfen, dieses zu klären.“ Die Lateinamerikaner René Padilla und Samuel Escobar plädierten in ihren Referaten für die Integration der sozialen Aufgabe in den Missionsauftrag – und traten damit ein Bewegung los, die im auf Lausanne folgenden Jahrzehnt zu großen Veränderungen in der evangelikalen Missionstheologie führen sollte.
Trotz der Aufmerksamkeit, die man der sozialen Verantwortung schenkte, erachteten viele der gegen 4000 Teilnehmer diese als zu gering. Aus diesem Empfinden heraus entstand während des Kongresses die „Radical Discipleship Group“, die eine Erklärung mit dem Titel „A Response to Lausanne“ entwarf. In dieser Erklärung wurde ein ganzheitliches Missionsverständnis vorausgesetzt und damit begründet, dass das biblische Heil die gesamte Schöpfung umfasst. Kernforderung der Erklärung waren die Worte: „Wir müssen den Versuch, einen Keil zwischen Evangelisation und soziale Aktion zu treiben, als dämonisch zurückweisen“ (Padilla und Sugden 1985, 9). Der scharfe Ton der Erklärung markierte den Beginn einer teilweise hitzig geführten Debatte, die sich erst ein knappes Jahrzehnt später merklich abkühlen sollte. Die Tatsache, dass die Erklärung während des Kongresses von fast 500 Teilnehmern unterzeichnet wurde zeigt, dass die Frage nach der Einordnung der sozialen Verantwortung in den Missionsauftrag zur Kardinalfrage der Evangelikalen geworden war.
Mit „A Response to Lausanne“ wurde deutlich, dass ein beträchtlicher Teil der Evangelikalen ein Missionsverständnis nach Lausanne mitbrachte, das sich vom evangelikalen Mainstream unterschied. Das Missionsverständnis dieser radikal gesinnten Theologen hatte die ganze Welt mit ihren Nöten im Blickfeld. Es fußte auf der Überzeugung, dass Mission mehr ist als die Rettung einzelner Menschen. Dieses erweiterte Missionsverständnis hatte Anstöße von der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, vom Missionsverständnis der Ökumene und von der kontextuellen Theologie aufgenommen.4
Der Vorstoß der Radical Discipleship Group war so beachtlich, dass die soziale und politische Betätigung im Artikel 5 der Lausanner Verpflichtung zur missionarischen Pflicht gezählt wurde. Dieser Umstand setzte manche Vertreter aus dem Westen in Aufruhr. Noch zehn Jahre nach Lausanne klagte der Missionswissenschaftler Peter Beyerhaus, der Artikel 5 habe den radikalen Evangelikalen Anlass für ein verändertes Missionsverständnis gegeben, das die biblische Lehre von der Erlösung verdunkle. Beyerhaus ging mit dieser Entwicklung scharf ins Gericht und bezeichnete sie als „verräterische Aufgeschlossenheit“ für die kontextuelle Theologie (Beyerhaus 1984, 12–13). In der Zwei-Drittel-Welt und bei radikalen Theologen im Westen wurde die Integration der sozialen Verantwortung in die missionarische Aufgabe hingegen begrüßt. Während die einen das Ergebnis von Lausanne als Anbruch eines neuen Missionszeitalters begrüßten (Costas 1977, 138), befürchteten andere, dass eine Angleichung an die ökumenische Position erfolgen und dies zum Ende der traditionellen Mission führen könnte (Johnston 1984, 20).
Der evangelikalen Bewegung stand nach Lausanne eine Zerreißprobe bevor, die sie bis in die 1980er Jahre hinein beschäftigen sollte. Zunächst aber wurden die Evangelikalen namentlich in Lateinamerika und Afrika vom Ergebnis von Lausanne beflügelt. Für viele war Lausanne „eine sehr wichtige Bestätigung für viele Dienste, welche die Evangelikalen, vor allem in der Zwei-Drittel-Welt, ausgeführt hatten, jedoch zum Teil hatten schweigen müssen, damit man sie nicht missverstand, sie würden die Hingabe an den Auftrag der Evangelisation abschwächen“ (Samuel und Sugden 1999, ix).
Die Lausanner Verpflichtung ist das wichtigste Kongressdokument der modernen evangelikalen Bewegung. Die Tatsache, dass die soziale Verantwortung zur missionarischen Pflicht gezählt wurde, bedeutete für die Evangelikalen in der Zwei-Drittel-Welt eine Legitimation ihres Standpunkts. Die Stimme der marginalisierten Christen aus den ehemals kolonialisierten Ländern war in Lausanne auf offene Ohren gestoßen. Dadurch wurden sie ermutigt, eine eigenständige evangelikale Theologie zu formulieren. Dieser Umstand kann als Meilenstein der Entwicklung einer kontextuellen evangelikalen Theologie gelten.5
Die Wirkung von Lausanne
Es ist nicht erstaunlich, dass die Ergebnisse von Lausanne vor allem in Lateinamerika erfreut zur Kenntnis genommen wurden. Zum einen waren die Beiträge der Lateinamerikaner René Padilla und Samuel Escobar interessiert aufgenommen worden. Zum anderen war Lateinamerika der Kontinent, der unter Anregung der Befreiungstheologie schon vor Lausanne begonnen hatte, eine eigenständige evangelikale Theologie zu entwickeln.
1979 fand in Lima ein Kongress über Evangelisation statt, an dem die Evangelikalen über die evangelistische Aufgabe in ihrem Kontext nachdachten.6 Die Teilnehmer beriefen sich namentlich auf die Lausanner Verpflichtung. So heißt es im Lima Letter, dem Brief, der die Kongressergebnisse den Kirchen zukommen ließ: „Wir bestätigen unser Festhalten an der Erklärung des Ersten Lateinamerikanischen Kongresses über Evangelisation und an der Verpflichtung des internationalen Kongresses über Evangelisation im schweizerischen Lausanne im Juli 1974“ (Lima Letter 1985 [1979], 15).
Auch in Asien zeigte der Geist von Lausanne Wirkung. Hier waren es vor allem der Inder Vinay Samuel und sein britischer Kollege Chris Sugden, die die Evangelikalen Asiens ermutigten, eine authentische asiatische Theologie zu entwickeln (Samuel und Sugden 1980, 50–51). Dass diese Anstiftung erfolgreich war, zeigt die Madras Declaration of Evangelical Social Action India, die an einer Konferenz indischer Evangelikaler verabschiedet wurde.7
In meiner Dissertation habe ich gezeigt, dass in der Madras Deklaration drei Themen als Ausdruck radikaler Theologie in den Vordergrund treten (Hardmeier 2008, 36–37). Erstens wurde in der Madras Deklaration das Eintreten für soziale Gerechtigkeit vom Alten Testament und vom Gesamtwerk Christi her begründet und das Geschehen am Kreuz soziologisch gedeutet. Letzteres bedeutet, dass das Kreuz nicht nur als Heilsgeschehen betrachtet wurde, sondern dass von ihm auch Folgerungen für die sozialen Beziehungen abgeleitet wurden. Zweitens wurde ein klares Bekenntnis zum sozial-politischen Handeln abgelegt und dieses mit der Pflicht des Christen zur Nächstenliebe begründet. Drittens wurden die strukturellen Verwerfungen Indiens beklagt und wurde die Verpflichtung auf sich genommen, sich für gerechte Strukturen einzusetzen. Damit waren wichtige Eckpfeiler eines transformatorischen Missionsverständnisses vordefiniert. In Madras wurde deutlich, dass sich auch in Asien ein evangelikales Segment gebildet hatte, dessen Theologie radikaler Natur war. Es unterschied sich schon wenige Jahre nach Lausanne erheblich von der Theologie der Evangelikalen im Westen.
Von Lausanne gelangten entscheidende Impulse auch nach Afrika. 45 der über 400 afrikanischen Delegierten in Lausanne versammelten sich während der Konferenz zu einem informellen Austausch und begannen mit den Vorbereitungen für einen afrikanischen Folgekongress. Der Lausanner Kongress hatte „die afrikanischen Teilnehmer darin bestärkt, die Evangelisation in Afrika voranzutreiben, aber diesmal durch Afrikaner, auf afrikanische Art und bezogen auf aktuelle Nöte, Fragen und Herausforderungen dieses Kontinents“ (Kapteina 2001, 112).
Die in Lausanne angeregte afrikanische Konferenz fand 1976 als Pan African Christian Leadership Assembly in Nairobi statt. Im Zentrum der Konferenz stand die Suche nach der Bedeutung des Evangeliums für den afrikanischen Kontext. Die Teilnehmer „suchten primär nach Gegenwartsrelevanz der christlichen Verkündigung und konzentrierten sich daher mehr auf die Identitätsthematik des modernen Afrikaners. Sie wollten mit der Übersetzungsaufgabe der Theologie ernst machen und widmeten daher Themen kontextueller Theologie einen weiten Raum … [Es] fand eine erste theologische Einbeziehung der inneren und äußeren Umwelterfahrung des modernen Afrikaners in die Afrikanische Evangelikale Theologie statt“ (Kapteina 2001, 125–126).
Nairobi war für die Evangelikalen Afrikas ein wichtiger Kongress. Er ermöglichte einen konstruktiven Austausch zwischen westlichen, afrikanischen und lateinamerikanischen Evangelikalen und man scheute auch den Dialog mit ökumenischen Theologen nicht. Die Anstiftung zur gesellschaftlichen Relevanz ging in Nairobi und auch bei späteren afrikanischen Kongressen zu wesentlichen Teilen von radikalen Theologen Lateinamerikas aus. Sie regten dazu an, eine auf Transformation ausgerichtete Missionspraxis zu entwickeln. So forderte Orlando Costas an einem der Folgekongresse, der South African Christian Leadership Assembly 1979 im südafrikanischen Pretoria: „Um Christus in unseren jeweiligen Situationen der Unterdrückung zu inkarnieren, muss die Kirche als Ganzes und durch ihre Mitglieder in diese Situationen eintauchen und für ihre Transformation arbeiten, denn Christus kam nicht in die Welt um die Dinge zu belassen wie sie waren, sondern um eine neue Lebensweise zu bringen“ (Adeyemo 1979, 6). Diese Forderung fiel in Afrika und in der Zwei-Drittel-Welt überhaupt auf fruchtbaren Boden.