- -
- 100%
- +
Der Westen
Im Westen wurde den sozialen und gesellschaftlichen Fragen weniger Aufmerksamkeit geschenkt als in der Zwei-Drittel-Welt. Vor allem aber führten sie zu etlichen Kontroversen, die in den nächsten Jahren die evangelikale Bewegung beschäftigen sollten.
Einer der Auslöser der Kontroverse war die Konsultation über den einfachen Lebensstil in Hoddesdon bei London, die im Jahr 1980 stattfand. Das Treffen wurden von den radikalen Theologen Ronald Sider, Vinay Samuel, Chris Sugden und René Padilla geprägt. Das Resultat des Konsultation, die Londoner Verpflichtung, widerspiegelt den radikalen Einfluss deutlich.8 So heißt es in der Präambel: „Wir sind betroffen von der Ungerechtigkeit der Welt, besorgt um ihre Opfer und tun Buße für unsere Mitschuld.“ Im ersten Absatz über die Schöpfung heißt es: „Gottes Schöpfung ist gekennzeichnet durch reiche Fülle und Mannigfaltigkeit, und er will, dass ihre Güter zum Wohl aller sorgsam verwaltet und geteilt werden. Wir verurteilen deshalb die Zerstörung der Umwelt, die Verschwendungssucht und gewinnsüchtige Vorratshaltung. Wir beklagen das Elend der Armen, die unter den Folgen dieser Übel leiden.“
Die weiteren Absätze sprechen sich für einen einfachen Lebensstil und für konkrete Nächstenliebe aus. Die Beschäftigung mit der sozialen Verantwortung in Lausanne hatte das soziale Gewissen der Evangelikalen im Westen nachhaltig wachgerüttelt. Der massive Reichtum des Westens wurde als Schuld und als missionarische Verpflichtung empfunden. Allerdings gehen ganze Passagen weit über das eigentliche Thema der Konferenz hinaus. In Abschnitt 7 über Gerechtigkeit und Politik heißt es:
Armut und übermäßiger Wohlstand, Militarismus und Rüstungsindustrie und die ungerechte Verteilung von Kapitel, Land und Rohstoffen werden bestimmt von Macht und Ohnmacht. Ohne eine Veränderung der Machtverhältnisse durch strukturellen Wandel können diese Probleme nicht gelöst werden. Die christliche Kirche ist zusammen mit dem ganzen Rest der Gesellschaft unvermeidlich in politisches Geschehen mit einbezogen, welches ja die „Kunst des Zusammenlebens“ ausmacht. Diener Christi müssen Gottes Herrschaft mit ihrem politischen, sozialen und wirtschaftlichen Einsatz und in ihrer Liebe zum Nächsten zum Ausdruck bringen durch ihre Mitarbeit an politischen Prozessen.
Noch nie war im Westen eine Konferenz mit so radikalen Ergebnissen zu Ende gegangen. Entsprechend unterschiedlich waren die Reaktionen auf die Londoner Verpflichtung: „Von den Teilnehmern wurde die Konferenz als historischer Wendepunkt im sozialen Bewusstsein der evangelikalen Bewegung gepriesen. Die Ergebnisse lösten jedoch bei der Leitung der Lausanner Bewegung nicht geringe Bestürzung aus“ (Berneburg 1997, 101). Vor allem der Mangel an Ausgleich zwischen evangelistischem und sozialem Dienst zugunsten des sozial-politischen Engagements stieß auf Ablehnung. Die sozialpolitische Schlagseite der Londoner Verpfichtung und die gegensätzlichen Reaktionen auf das Dokument ließen in der evangelikalen Bewegung eine Kluft in der Frage des Missionsverständnisses zu Tage treten:
Der Vergleich zwischen Lateinamerika, Asien und Afrika einerseits und dem Westen anderseits zeigt, dass in den unmittelbar auf Lausanne folgenden Jahren die evangelikale Theologie in der Zwei-Drittel-Welt sich auf eine radikale Position zubewegte, während man im Westen dieser Entwicklung abwartend bis ablehnend gegenüberstand. Die radikalen Impulse von Lausanne hatten eine unumkehrbare Entwicklung innerhalb der evangelikalen Bewegung in Richtung einer vermehrten Beschäftigung mit sozial-politischen Fragen und deren Einbezug in die Missionstheorie in Gang gesetzt. (Hardmeier 2008, 43)
Nach der Konsultation in Hoddesdon war klar, dass sich die evangelikale Bewegung um eine schnelle und gründliche Klärung ihres Missionsverständnisses bemühen musste.
Pattaya (1980)
Die erste Gelegenheit sich mit der brennenden Frage der Einordnung der sozialen Verantwortung in den Missionsauftrag zu befassen, hatte die evangelikale Bewegung am Weltevangelisationskongress in Pattaya, Thailand. Die Verantwortlichen des Kongresses erkannten die Zeichen der Zeit jedoch nicht und stürzten die evangelikale Bewegung damit in eine veritable Krise. In der Vorbereitungsphase des Kongresses wurde die soziale Frage bewusst ausgeklammert (Steuernagel 1988, 188–189) und strategische Überlegungen in den Mittelpunkt gerückt.
Die Sondererklärung
Die Vertreter eines ganzheitlichen Missionsverständnisses fühlten sich durch die Ausklammerung der sozialen Frage übergangen und ließen als Reaktion auf ihre Zurücksetzung eine Sondererklärung zirkulieren, die innerhalb eines Tages von einem Drittel der Teilnehmer unterzeichnet wurde. In der Erklärung wurde bemängelt, dass dem Umstand nicht genügend Rechnung getragen wurde, dass in der Lausanner Verpflichtung nebst der Evangelisation auch die politische und soziale Betätigung zur christlichen Pflicht gerechnet wurde:
Es ist jedoch eine Tatsache, dass, abgesehen von einigen wenigen edlen und lobenswerten Bemühungen, das Lausanner Komitee für Weltevangelisation sich nicht ernsthaft mit den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Fragestellungen in vielen Teilen der Welt beschäftigt hat, die ein großer Stein des Anstoßes für die Verkündigung des Evangeliums sind. Dies wird sehr deutlich hier in Pattaya. (Costas 1987, 15–16)
Konkret wurde bemängelt, dass man sich zwar einigen sozialen Problemen annahm, aber nicht bereit schien, sich mit den strukturellen Ursachen dieser Probleme zu befassen:
Wir haben eine Arbeitsgruppe „Flüchtlinge erreichen“, aber keine, die sich mit denjenigen befasst, die zum großen Teil verantwortlich für die Flüchtlingssituation in aller Welt sind: Politiker, Militärs, Befreiungskämpfer, nationale Oligarchen und die, die die internationale wirtschaftliche Macht kontrollieren. (Costas 1987, 16)
Es ging den Kritikern in Pattaya nicht um eine Herabsetzung der evangelistischen Aufgabe, sondern um deren Sicherstellung. Es wurde darauf hingewiesen, dass Evangelisation gehindert wird, wenn sich ihr politische, wirtschaftliche und soziale Barrieren in den Weg stellen:
Weil die Welt nicht nur aus Volksgruppen besteht, sondern auch aus Institutionen und Strukturen, muss die Lausanner Bewegung, wenn sie eine andauerne und tiefe evangelistische Wirkung in den sechs Kontinenten der Welt haben will, eine besondere Anstrengung unternehmen, Christen, örtliche Gemeinden, Denominationen und Missionsgesellschaften zu helfen, nicht nur Volksgruppen zu identifizieren, sondern auch die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Institutionen, die ihr Leben determinieren, und die Strukturen hinter ihnen, die die Evangelisation behindern. (Costas 1987, 16)
Das Lausanner Komitee wurde aufgefordert, Studiengruppen zu bilden, um die drängenden sozialen Fragen zu diskutieren. Vor allem wurde darauf gedrängt, dass das Komitee den Teil der Lausanner Verpflichtung ernst nehmen soll, der die soziale und politische Tätigkeit als christliche Pflicht bezeichnet (Costas 1987, 17).
Im Westen sind die Vertreter eines sozialpolitischen Missionsverständnisses fast durchwegs auf Widerstand gestoßen. Man befürchtete, sie arbeiteten an einer Ersetzung des evangelikalen Missionsverständnisses durch politische Aktionen. Es ging jedoch zu keinem Zeitpunkt um eine Ersetzung, sondern um eine Erweiterung des Missionsverständnisses. Man wollte der evangelistischen Aufgabe die Pflicht zum sozialen und politischen Handeln zur Seite stellen. Das Ziel dieses erweiterten Missionsbegriffs lag darin, angemessen auf die sozialen Probleme und politischen Möglichkeiten zu reagieren.
Die Zerrissenheit
Es war offensichtlich in Pattaya, dass ein beträchtlicher Teil der evangelikalen Bewegung mit der Entwicklung seit Lausanne nicht zufrieden war. In Pattaya prallten zwei Welten aufeinander. Auf der einen Seite stand das Lausanner Komitee, in deren Köpfen das Zeitalter des Kolonialismus noch nicht völlig Vergangenheit war. Es waren immer noch die westliche Sichtweise und westliche Themen, welche die Agenda der evangelikalen Bewegung bestimmten. Doch diese Sichtweise wurde der evangelikalen Realität längst nicht mehr gerecht. Samuel liegt richtig, wenn er sagt, dass die Sondererklärung in Pattaya die Position der Mehrheit der Evangelikalen in der Zwei-Drittel-Welt repräsentierte (Samuel und Sugden 1984, 154).
Nach Pattaya war die evangelikale Bewegung zerrissener denn je. Das wird an der Ersten Konferenz evangelikaler Missionstheologen aus der Zwei-Drittel-Welt in Bangkok 1982 deutlich. Sie verstand sich als Reaktion auf die Enttäuschung von Pattaya. Im Konferenzband scheint denn auch immer wieder eine kritische Distanz zur westlichen Sichtweise durch.9 In ihm wird deutlich, dass man die missionarische Arbeit des Westens als unzureichend für den Kontext der Zwei-Drittel-Welt empfand:
Die westlichen missionarischen Bemühungen … ließen sich im allgemeinen nicht auf eine ernsthafte Begegnung mit der religiösen Suche und den sozialen Realitäten in unseren jeweiligen Kontexten ein. Daher sind die Kirchen in der Zwei-Drittel-Welt in der Gefahr, fremdartigen Kategorien verpflichtet zu sein. Diese erlauben es ihnen nicht, den Problemen und Herausforderungen, die in der Verkündigung Christi in unseren Kontexten entstehen, in angemessener Weise zu begegnen. (Konferenzergebnisse 1987 [1982], 276)
Der Kontext der Zwei-Drittel-Welt mit seinen sozialen Problemen und der starken Präsenz von nicht-christlichen Religionen verlange danach, dass die Evangelikalen ihre eigene Art und Weise entwickeln müssten, das Evangelium weiterzugeben:
In diesen Kontexten ist es dringend geboten, die biblische Leidenschaft für Gerechtigkeit, das biblische Anliegen der ‚Ganzheitlichkeit‘ des Heils und das biblische Konzept der Universalität Christi zu bedenken. Es ist notwendig für uns, uns eingehend und theologisch nicht nur mit der Realität der Unterdrückung, Machtlosigkeit und Armut einzulassen, sondern auch mit anderen Religionen in ihren verschiedenen Dimensionen, die in manchen unserer Kontexte einen starken Rückhalt besitzen. Die Konferenzberichte, die Referate und auch die Diskussion spiegeln unser Anliegen wider, dass unsere Hermeneutik dem historischen Christentum gegenüber treu zu sein hat und zugleich dem Engagement in unseren jeweiligen Situationen entspringt. Die Aufgaben, denen wir gegenüberstehen, erfordern, dass wir neue Wege suchen, unseren Glauben an Christus Jesus als Herrn zu artikulieren. (Konferenzergebnisse 1987 [1982], 275)
Die in Lausanne losgetretene Bewegung war in volle Fahrt gekommen. Die Positionen zwischen dem Westen und der Zwei-Drittel-Welt drifteten auseinander, der Ton war scharf, das Misstrauen groß. Es musste ein Weg gefunden werden, um die Gräben in der evangelikalen Bewegung zuzuschütten. Dieser Versuch wurde zwei Jahre später in Grand Rapids unternommen – und er war erfolgreich.
Grand Rapids (1982)
Das kritisierte Lausanner Komitee für Weltevangelisation und die Weltweite Evangelische Allianz beriefen auf den Juni 1982 die Consultation on the Relationship of Evangelism und Social Responsibility im nordamerikanischen Grand Rapids ein. Das anfängliche Misstrauen wich während der eine Woche dauernden Konsultation allmählich gegenseitigem Respekt. Der scharfe Ton milderte sich und man bemühte sich, einander zuzuhören.
Der Konferenzbericht
Das Ergebnis der Konferenz ist der Bericht über Verkündigung und soziale Verantwortung, der auf Deutsch von Klaus Bockmühl herausgegeben wurde. Einige Aussagen werfen ein gutes Licht auf den Stand des Missionsverständnisses in den frühen 1980er Jahren. Im Bericht heißt es:
Wir sind entsetzt, dass 800 Millionen Menschen – ein Fünftel der Menschheit – in äußerster Armut existieren … Nur das Evangelium kann Menschenherzen verändern, und kein Einfluss macht Menschen menschlicher als das Evangelium. Dennoch können wir nicht bei der Wortverkündigung stehen bleiben. Zusätzlich zur weltweiten Evangelisation sollte sich das Volk Gottes energisch bei Hilfsaktionen, in der Entwicklungshilfe und in der Suche nach sozialer Gerechtigkeit und Frieden engagieren. (Verkündigung und soziale Verantwortung 1983 [1982], 17)
Kernstück des Berichts ist die Frage, wie Verkündigung und soziales Handeln sich zueinander verhalten. Während die einen im Vorfeld von Grand Rapids die Position vertreten hatten, Mission sei im Wesentlichen Evangelisation, hatten die anderen die Integration des sozialen Handelns in den Missionsauftrag gefordert. Man erkannte, dass das Beharren auf absoluten Positionen keine verwertbaren Ergebnisse erzielen würde. So legten sich die Teilnehmer darauf fest, dass das Verhältnis zwischen Evangelisation und sozialem Handeln dreifach definiert werden könne (Verkündigung und soziale Verantwortung 1983 [1982], 23–25):
• Erstens bezeichnete man soziales Handeln als Folge der Evangelisation. Menschen, die zum Glauben kommen, würden ihr neues Leben in den Dienst für andere stellen. Dieser Dienst sei eines der Hauptziele der Verkündigung, denn Christsein müsse immer zu guten Werken führen. Allerdings geschehe dies nicht automatisch und deshalb müsse die Kirche die soziale Verantwortung lehren.
• Zweitens definierte man soziales Handeln als Brücke zur Verkündigung. Soziales Handeln könne Vorurteile abbauen, geschlossene Türen öffnen und dem Evangelium Gehör verschaffen.
• Drittens begleite das soziale Handeln die Verkündigung als Partner. Jesus habe den Menschen gedient und ihnen gepredigt. Die gute Nachricht von der Liebe Gottes müsse durch die Sorge für die Bedürftigen verdeutlicht werden, was jedoch nicht heiße, „dass man sie als identisch ansehen sollte, denn Verkündigung ist nicht soziale Verantwortung, und soziale Verantwortung ist nicht Verkündigung. Aber jedes bringt das andere mit ein“ (Verkündigung und soziale Verantwortung 1983 [1982], 25).
Schließlich wurde die Frage der Vorrangigkeit der Verkündigung behandelt – ein Anspruch, den die Vertreter eines ganzheitlichen Missionsverständnisses zunehmend bestritten. Man berief sich in Grand Rapids auf die Lausanner Verpflichtung, in der es heißt: „Bei der Sendung der Gemeinde zum hingebungsvollen Dienst steht die Verkündigung an erster Stelle.“ Diese Vorrangigkeit wurde einerseits damit begründet, dass die soziale Verantwortung nur wahrgenommen werden könne, wenn durch Verkündigung und Belehrung in der Jüngerschaft Menschen zu sozial verantwortlichen Christen werden. Anderseits sei das ewige geistliche Heil der Menschen wichtiger als ihr zeitliches materielles Wohl (Verkündigung und soziale Verantwortung 1983 [1982], 27).
Die Reaktion aus der Zwei-Drittel-Welt
Die Freude der Vertreter eines ganzheitlichen Missionsverständnisses am Ergebnis von Grand Rapids hielt sich in Grenzen. Man nahm mit Genugtuung zur Kenntnis, dass der sozialen Verantwortung auf Kongressebene erstmals Aufmerksamkeit geschenkt und ihre Bedeutung anerkannt worden war. Damit war der Standpunkt der Vertreter eines ganzheitlichen Missionsverständnisses offiziell legitimiert. Eigentlich war das bereits in Lausanne durch den Artikel 5 über die soziale Verantwortung geschehen. Die Auseinandersetzungen, die auf Lausanne folgten, machten eine Konferenz wie Grand Rapids jedoch nötig, damit die Pflicht zum sozialen Handeln als gültige missiologische Position anerkannt wurde. Die Gräben waren zugeschüttet worden.
Allerdings ging vielen Evangelikalen aus der Zwei-Drittel-Welt der Bericht von Grand Rapids zu wenig weit. Der Kommentar von Valdir Steuernagel gibt dem Empfinden der sozial gesinnten Evangelikalen eine angemessene Stimme. Steuernagel kritisierte drei Umstände an Grand Rapids: Erstens sei die Konsultation den Evangelikalen keine Hilfe gewesen, die täglich mit Armut und Unterdrückung konfrontiert seien (Steuernagel 1988, 212). Es sei immer noch nötig, dass sich die evangelikale Bewegung um ein Dokument bemühe, dass die Frage von Verkündigung und sozialem Handeln aus der Sicht der Leidenden behandle. Zweitens habe man zu viel Rücksicht auf die Evangelikalen genommen, die eine konservative Theologie vertreten. Drittens seien die radikalen Vertreter aus der Zwei-Drittel-Welt zu wenig stark in leitende Positionen der Lausanner Bewegung eingebunden. Die evangelikale Theologie sei immer noch zu stark eine westliche Angelegenheit.
Steuernagels Kritik macht deutlich, dass sich das Missionsverständnis der Evangelikalen an einem kritischen Punkt befand. Noch nie hatte es sich so divers präsentiert. Die Evangelikalen im Westen hielten am traditionellen Missionsverständnis fest und zeigten immer noch gewisse koloniale Tendenzen in ihrer Einstellunggegenüber der Zwei-Drittel-Welt. Diese ihrerseits fühlte sich durch Lausanne in ihrer theologischen Position gestärkt. Das radikale Segment weitete sich zusehends aus, so dass am Anfang der 1980er Jahre gesagt werden konnte, dass der größte Teil der weltweiten evangelikalen Bewegung ein ganzheitliches Missionsverständnis vertrat. In einer Welt voller Hunger und Unterdrückung war es für diese Evangelikalen einfach nicht mehr möglich, das traditionelle Missionsverständnis zu akzeptieren, das sich vorwiegend auf die Verkündigung beschränkte. Auch die Tatsache, dass evangelikale Missionare sich von je her der Barmherzigkeit und der Hilfeleistung verpflichtet fühlten und sie auch praktizierten, genügte ihnen nicht. Sie wollten die soziale Aktion nicht länger als etwas Zweitrangiges verstanden wissen, das begrüßt wurde, weil es die Menschen für das Evangelium offen machte. Sie wollten mehr: Eine Erneuerung der evangelikalen Missionstheorie und ihrer Praxis, die relevant für den Kontext der Zwei-Drittel-Welt ist.
Der größte Teil der Evangelikalen aus der Zwei-Drittel-Welt hatte sich unterdessen auf den Standpunkt gestellt, dass Evangelisation und soziale Aktion zwei unterschiedliche aber gleich wichtige Aspekte der einen Mission der Kirche sind (Adeyemo 1986a, 54–56). Mit dem Begriff der sozialen Aktion werden Aktivitäten persönlicher Hilfeleistung, sozialer Betätigung und politischen Einsatzes beschrieben, die das Ziel haben Lebensumstände zu verbessern. Ronald Sider spricht für die genannte Position, wenn er sagt: „Evangelisation und soziale Aktion sind gleich wichtige aber unterschiedliche Aspekte der gesamten Mission der Kirche“ (Sider und Stott 1977, 17). Er betont, dass es nur durch den Glauben an Jesus Christus persönliche Erlösung gibt, „aber das bedeutet nicht, dass Evangelisation wichtiger ist als soziale Aktion … Die Evangelien geben uns keine Anhaltspunkte, weder theoretisch noch durch den Raum, den sie beiden einräumen, dass Jesus die Verkündigung der Guten Nachricht als wichtiger erachtete als die Heilung der Kranken. Er hat uns aufgetragen, die Hungrigen zu speisen und das Evangelium zu predigen ohne hinzuzufügen, dass Letzteres vorrangig sei und Ersteres getan werden könne, wenn Zeit dafür zur Verfügung stehe oder Geld vorhanden sei“ (ebd.). Das Verhältnis zwischen Verkündigung und sozialer Aktion müsse am Beispiel von Jesus definiert werden: „Jesus ist unser einziges vollkommenes Vorbild. Wenn er als Mensch gewordener Gott dachte, er sollte – ja vielmehr müsste – einen großen Teil seiner potenziellen Zeit der Verkündigung der Heilung der Kranken widmen, dann sind wir ganz bestimmt untreue Nachfolger, wenn wir es versäumen, ihm in seinen Fußstapfen zu folgen“ (ebd.).
Die Integration der sozialen Verantwortung in den Missionsauftrag war für einige eine Kröte, die es zu schlucken galt. Für andere war es ein Schritt zu einem ganzheitlichen Missionsverständnis, das sie ausdrücklich begrüßten. Vom Einfluss der Mission auf gesellschaftliche Strukturen und staatliche Institutionen – von einer Transformations-Orientierung der Mission – war bis zu diesem Zeitpunkt nur am Rande die Rede gewesen. Zu sehr war man mit Grundsatzdebatten über die Legitimität der sozialen Verantwortung beschäftigt. Das sollte sich nur ein Jahr nach Grand Rapids mit der Konferenz in Wheaton ändern.
Wheaton (1983)
Die Konferenz in Wheaton fand unter dem Thema „Ich will meine Gemeinde bauen“ statt und wurde in drei so genannten „Tracks“ mit jeweils eigenständigem Verlauf durchgeführt. In allen Tracks wurde das Verhältnis zwischen Evangelisation und sozialer Verantwortung erläutert (Berneburg 1997, 178). Man wollte sich eingehend mit der Antwort des Evangeliums auf die Not der Welt befassen.
Transformation
Es waren die Beiträge in Track 3 unter dem Thema „Die Antwort der Kirche auf die menschliche Not“, welche eine neue Dimension in die evangelikale Mission einbrachten: die Dimension der Transformation. Was mit diesem Begriff gemeint ist, zeigt sich im Schlussbericht, der den Titel „Transformation: The Church in Response to Human Need“ trägt. Transformation wurde wie folgt definiert:
Transformation meint die Umwandlung eines Zustandes der im Gegensatz zu Gottes Absichten steht, in eine Situation, in der die Menschen die Fülle des Lebens in Harmonie mit Gott erleben können (Joh 10,10; Kol 3,8–15; Eph 4,13). Diese Umwandlung kann nur durch den Gehorsam von einzelnen Menschen und Gemeinschaften gegenüber dem Evangelium von Jesus Christus geschehen, dessen Kraft das Leben von Männern und Frauen verändert, indem es sie von der Schuld, der Macht und den Konsequenzen der Sünde befreit und sie befähigt, mit Liebe zu Gott und zum Nächsten zu reagieren (Röm 5,5) und zu neuen Kreaturen in Christus zu werden (2Kor 5,17). (Transformation 1987 [1983], II.11)
In Wayne Braggs Beitrag „From Development to Transformation“ finden sich weitere Definitionen von Transformation. Bragg verbindet den Transformationsgedanken mit dem Alten Testament:
Das Ziel der Transformation besteht darin, dass Gottes Absicht realisiert wird, wie sie im alttestamentlichen Konzept des Schalom – Harmonie, Friede, Gesundheit, Wohlergehen, Wohlstand, Gerechtigkeit – und im neutestamentlichen Bild des Reiches Gottes, das sowohl gegenwärtig als auch zukünftig ist, offenbart wird. Transformation ist darauf ausgerichtet, die bösen sozialen Strukturen des gegenwärtigen Zeitalters zu bekämpfen und durch die Mission der Kirche die Werte des Reiches Gottes im Gegensatz zu den Werten der „Fürsten und Gewalten“ dieser Welt einzusetzen. (Bragg 1987, 39)
Nach Bragg (1987, 40–46) hat Transformation damit zu tun, dass gerechte Beziehungen angestrebt werden und Völker in Freiheit gesetzt werden. Dies sei nur möglich, wenn durch Buße eine geistliche Transformation des einzelnen Menschen geschehe. Diese müsse aber weiter gehen und das soziale Leben der Menschen und die gesamte Schöpfung umfassen. Braggs Forderung, der Entwicklungsgedanke müsse vom Transformationsgedanken abgelöst werden, wurde im Schlussbericht von Track 3 aufgenommen. Der Begriff der Transformation sei historisch nicht belastet und theologisch besser geeignet, Gottes Absichten mit der Welt zum Ausdruck zu bringen (Transformation 1987 [1983], II.8–13). Bragg selbst meinte dazu:
Die so genannte „entwickelte“, moderne Welt braucht Transformation, um sich von ihrem säkularen, materialistischen Zustand zu befreien, der durch zerbrochene Beziehungen, Gewalt, wirtschaftliche Unterjochung und die Zerstörung der Umwelt gekennzeichnet ist. Und die „unterentwickelte“ Welt braucht die Transformation ihres unmenschlichen Zustandes von Armut, niedriger Lebenserwartung, Hunger, Schutzlosigkeit, Unterdrückung, Krankheit und Angst. Während „Entwicklung“ ein Begriff ist, welcher der Westen gerne auf die Dritte Welt anwendet, ist Transformation sowohl für die „überentwickelte“ als auch die „unterentwickelte“ Welt anwendbar. (Bragg 1987, 40)
Der Bericht von Track 3 führt aus, dass die gesamte Gesellschaft umgewandelt werden solle, so dass die Menschen in der Lage seien, so zu leben, wie Gott sich das Leben gedacht habe. Ungerechtigkeit müsse beseitigt werden und die Kirche müsse sich am Protest gegen diese beteiligen. Soziale Strukturen, ja die gesamte Kultur einer Gesellschaft müssten transformiert werden. Jesus sei das Vorbild der Transformation. Durch seine Taten der Barmherzigkeit und die Verurteilung von Ungerechtigkeit habe Jesus eine prophetische Leidenschaft gezeigt, die zu einer Gemeinschaft geführt habe, welche im Gegensatz zum Establishment gestanden habe.