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Aus der Tatsache, dass Gott seinen Sohn sendet und diese Sendung durch den Heiligen Geist in der Kirche fortführt, folgert Vicedom:
Damit ist die Mission der Kirche an die Mission Gottes selbst angeschlossen. So steht die Kirche im Dienste Gottes zur Ausbreitung seines Evangeliums. Sie kann nicht Kirche sein, wenn sie nicht an der Sendung seines Sohnes beteiligt ist. Mission wird damit zur Grundfunktion der Kirche.“ 45
Unter dem Begriff „Sendung“ versteht Vicedom alles, was die Kirche zur Vermittlung des Heils zu tun gerufen ist:
Es wäre jedoch eine Verengung der Missio Dei, wollte man den Begriff nur auf die Sendung beziehen. Zu ihr gehört alles, was um der Heilsmitteilung willen getan werden muss und was Gott tut. Berufung, Vorbereitung, Sendung der Arbeiter wie die Durchführung ihrer vielfältigen Dienste sind Verwirklichung der von der Missio bestimmten Liebe Gottes.46
Georg Vicedom und Karl Hartenstein haben wesentlich zur Prägung des Begriffs Missio Dei und zu dessen Verbreitung beigetragen. Insbesondere haben sie die Missio Dei mit der Sendung der Kirche verknüpft und sie in einem heilsgeschichtlichen Ansatz untergebracht. Allerdings haben sie nach Schirrmacher den „wunderbaren Scheck“, den sie ausgestellt haben, nie eingelöst.47 Bei Hartenstein könne das auf die Kürze der von ihm stammenden Texte über die Missio Dei zurückgeführt werden. Vicedom hingegen habe trotz ausführlicher Beschäftigung mit dem Thema exegetische und systematische Ausführungen „über das innertrinitarische Sendungsverhältnis, über die Verbindung von Gott als Gesandtem zum Menschen als Gesandter, über das Verhältnis des Geistes Gottes, der seit Pfingsten Mission betreibt, zum missionalen Handeln der Kirche“ weitgehend vermissen lassen.48
So bleibt nach Willingen und dem Beitrag Vicedoms die Erkenntnis: Die christliche Mission wurzelt im Wesen Gottes, der ein sendender Gott ist. Die Mission der Kirche ist Teilhabe an der Mission Gottes. So wichtig diese Erkenntnis war, so vieldeutig blieb das Konzept seiner Unschärfe wegen.
Ein „neues“ Missionsverständnis
Das Konzept der Missio Dei wurde an den auf Willingen folgenden ökumenischen Weltmissionskonferenzen aufgenommen und weiterentwickelt.49 Allerdings nicht im Sinne Hartensteins, der die Missio Dei eng mit der Missio Ecclesiae verband: „Die Sendung des Sohnes zur Versöhnung des Alls durch die Macht des Geistes ist Grund und Ziel der Mission. Aus der ‚Missio Dei‘ allein kommt die ‚Missio Ecclesiae‘. Damit ist die Mission in den denkbar weitesten Rahmen der Heilsgeschichte und des Heilsplanes Gottes hineingestellt.“ 50 Für Hartenstein und die deutsche Delegation in Willingen gehörte das missionarische Handeln der Kirche untrennbar zur Missio Dei in der Welt.
Nun aber kam es in der ökumenischen Diskussion zu einer einseitigen Weiterentwicklung des an sich so wertvollen Konzepts. In den 1960er-Jahren übernahmen immer mehr ökumenische Theologen den Begriff der Missio Dei im Sinn des holländischen und des amerikanischen Modells.51 Der missionstheologische Fokus richtete sich weg von der Kirche auf das Wirken Gottes in der Welt – ein Umstand, der in der ökumenischen Bewegung nicht nur auf Zustimmung stieß, sondern auch substanzielle Kritik hervorrief.52 Die Mehrheit aber hatte zu einem „neuen“ Missionsverständnis gefunden: An Gottes Mission teilhaben bedeute, in der Welt mit Gott zusammenzuarbeiten. Ziel sei es, Gottes Schalom aufzurichten. Die Rolle der Kirche sei es, „diese Mission zu bezeugen – weil von ihr zu erwarten ist, dass sie weiß, was vor sich geht – und sich ihr anzuschließen, und zwar in dem Sinne, dass sie mit den Bewegungen in der Welt zusammenarbeitet, die den Schalom fördern, sei es nun, dass sie eine christliche Basis haben oder nicht.“ 53
Die Unterscheidung von Heilsgeschichte und Weltgeschichte, die in Willingen auf Drängen der deutschen Delegation noch aufrechterhalten worden war, wurde nun ganz aufgegeben.54 Damit einher ging ein verändertes Heilsverständnis und als Folge davon eine inhaltliche Neuausrichtung der Mission. Das Ziel war jetzt nicht mehr die Aufrichtung der Herrschaft Jesu durch die Verkündigung des Evangeliums, sondern die Herbeiführung des innerweltlichen Schalom durch christliches Handeln. Die Kirche war nicht mehr beauftragt, das Evangelium zu bezeugen und zum Glauben zu rufen, sie war jetzt nur noch Partnerin im Kampf für Befreiung aus gesellschaftlichen Zwängen und politischer Unterdrückung.
Zur vollen Blüte kam dieses veränderte Heilsverständnis an der siebten ökumenischen Weltmissionskonferenz von Bangkok 1973. Das Eintreten für das Heil wurde zum politischen Kampf, durch den der Mensch Anteil habe am Erlösungswerk Gottes in der Welt. Heil bedeute Friede in Vietnam oder Nordirland. Im Bericht der Sektion II „Heil und soziale Gerechtigkeit“ heißt es:
In dem umfassenden Heilsbegriff erkennen wir vier soziale Dimensionen des Erlösungswerkes: 1. Das Heil wirkt im Kampf um wirtschaftliche Gerechtigkeit gegen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. 2. Das Heil wirkt im Kampf um die Menschenwürde gegen politische Unterdrückung durch Mitmenschen. 3. Das Heil wirkt im Kampf um Solidarität gegen die Entfremdung der Menschen. 4. Das Heil wirkt im Kampf um die Hoffnung gegen die Verzweiflung im Leben des Einzelnen.55
Heil wird hier seiner eschatologischen Dimension beraubt und auf ein zwischenmenschliches Ereignis reduziert. Bangkok führte zu einer Umdeutung des Heilsverständnisses und damit zu einer radikalen Neuorientierung der Mission. Nicht mehr der Glaube an Christus und der Ruf zum Glauben standen im missionarischen Fokus. Es ging jetzt um die Verwirklichung des Heils im Diesseits durch den politischen Kampf. Die Missio Dei war auf Grund gelaufen.
Es kommt nicht von ungefähr, dass der Begriff der Missio Dei als „Containerbegriff“ bezeichnet wird, in den jeder das hineinlesen kann, was er will. So erstaunt es nicht, dass sich in der ökumenischen Missionstheologie das Schlagwort Missio Dei zwischen Willingen und Bangkok von seiner ursprünglichen Bedeutung emanzipierte und seine eigentliche Bedeutung ins Gegenteil verkehrt wurde. Diese Emanzipation hatte eine dreifache Auswirkung:
Erstens wurde mit der Umdeutung des Missio Dei-Begriffs zu einem innerweltlichen Kampfgeschehen die Tür zum Religionspluralismus aufgestoßen. Man war jetzt überzeugt, dass Gott sein Heil in der Welt auch ohne die Kirche wirkt. Gott sei in der Welt befreiend am Werk und bediene sich dazu auch revolutionärer Bewegungen. Gott sei auch in den nicht christlichen Religionen Heil schaffend am Werk. Islam, Hinduismus und Buddhismus seien legitime Heilswege. Verkündigung müsse durch Dialog ersetzt werden.56
Zweitens wurde die Kirche durch die einseitige Fokussierung auf Gottes Wirken in der Welt ihrer missionarischen Bedeutung beschnitten. Wenn Gott für die Mission verantwortlich ist, wenn sie von ihm ausgeht und wenn sie sein Werk ist, dann ist die Kirche nicht für die Missio Dei zuständig und wird dazu auch nicht benötigt. „Eine kirchenorientierte Mission mit dem Ziel einer Einfügung von Menschen in den Leib Christi und der Sammlung der Glaubenden, wie sie noch in der Vergangenheit praktiziert wurde, kann es somit nicht mehr geben.“57
Drittens kam die von den westlichen Ländern angeführte Mission zu einem Stillstand. Angesichts der missionstheologischen Entwicklungen wundert es nicht, dass in Bangkok ein Moratorium (Aufschub) für die Aussendung westlicher Missionare verlangt wurde.58 Die Krise von Willingen führte zum totalen Stillstand von Bangkok. Die Missio Dei hatte keines der drängenden missionstheologischen Probleme lösen können und war selbst zum Problem geworden.
Innerhalb von nur zwei Jahrzehnten war die Missio Dei ins Gegenteil ihrer ursprünglichen Bedeutung verkehrt worden. Zumindest gilt das für das heilsgeschichtliche Verständnis von Mission, wie es Walter Freytag und Karl Hartenstein in Willingen vertraten. Nur so ist es zu verstehen, dass das Konzept der Missio Dei zur Begründung dafür wurde, die Kirche müsse überhaupt keine Mission mehr treiben.
2.3Die evangelikale Alternative
Man kann von einer Säkularisierung des Missio Dei-Begriffs zwischen Willingen 1952 und Bangkok 1973 reden. Mission wurde als Befreiung und Humanisierung verstanden, nicht mehr als das Angebot der Rechtfertigung durch den Glauben an Christus.59 Diese Veränderung im Missionsverständnis zeigte eine weitere Auswirkung: Die evangelikalen Kräfte schieden aus dem ökumenischen Prozess aus. Zwischen 1966 und 1974 fanden intensive Diskussionen zwischen Evangelikalen und Ökumenikern statt, in der Hoffnung, die sich öffnenden missionstheologischen Differenzen überbrücken zu können – ohne Erfolg.60 Der Bruch zwischen beiden Lagern trat immer sichtbarer zu Tage.61
Die Wheaton Erklärung 1966
Je mehr sich die Ökumeniker einem humanistischen Ziel der Mission verpflichtet fühlten, desto stärker begannen die Evangelikalen, eine Alternative zu entwickeln. Sie wollten das traditionelle Missionsverständnis beibehalten, es gleichzeitig aber mit den Herausforderungen der modernen Welt in Verbindung bringen. Zu diesem Zweck, und um die evangelikal gesinnten Kräfte zu bündeln, begannen sie, eigene Missionskonferenzen abzuhalten.
Vom 9. bis 16. April 1966 versammelten sich 938 Delegierte aus 71 Nationen in Wheaton, Illinois, um über die Aufgabe der Kirche in der Welt nachzudenken. Angesichts der Entwicklung in der ökumenischen Bewegung hin zu einem sozialen Evangelium, stand die Frage nach dem Verhältnis von Verkündigung und sozialer Verantwortung als ungelöste Frage im Raum. Die Delegierten in Wheaton räumten der Evangelisation Vorrang vor der sozialen Verantwortung ein und setzten damit einen Parameter, der über die Jahrtausendwende hinaus Gültigkeit haben sollte.62 Gleichzeitig wurde bedauert, dass sich die Evangelikalen zu wenig um soziale Fragen gekümmert hatten. In der Wheaton-Erklärung heißt es:
Wir haben schwer gesündigt. Wir haben uns einer unbiblischen Isolation von der Welt schuldig gemacht, die uns nur allzuoft davon abhält, ihren Anliegen offen ins Auge zu sehen und sie anzugehen (…) Während die Evangelikalen im 18. und 19. Jahrhundert führend waren in der sozialen Verantwortung, haben im 20. Jahrhundert viele die biblische Perspektive verloren und sich ausschließlich auf die Verkündigung eines Evangeliums der individuellen Erlösung beschränkt, ohne ausreichend ihre soziale und gesellschaftliche Verantwortung wahrzunehmen. Als der theologische Liberalismus und der Humanismus in die protestantischen Kirchen eindrangen und ein „soziales Evangelium“ proklamierten, wuchs unter den Evangelikalen die Überzeugung, es bestünde ein Gegensatz zwischen sozialer Aktion und der Verkündigung des Evangeliums. Heute hingegen sind die Evangelikalen zunehmend davon überzeugt, dass sie sich in die großen sozialen Probleme involvieren müssen, denen wir gegenüberstehen. Sie kümmern sich um die Bedürfnisse des ganzen Menschen wegen des Vorbilds ihres Herrn, seiner sie drängenden Liebe, ihrer Verbundenheit mit der menschlichen Rasse und der Herausforderung ihres evangelikalen Erbes. Evangelikale suchen in der Schrift nach Anleitung, was zu tun ist und wie weit sie gehen sollten, um ihre soziale Verantwortung auszuleben, ohne die Priorität der Verkündigung des Evangeliums der individuellen Erlösung einzuschränken.63
Die Wheaton-Erklärung macht deutlich, dass das soziale Gewissen der Evangelikalen aus seinem Tiefschlaf erwacht war. Dieser Umstand war einerseits auf die Herausforderung zurückzuführen, welche der missionstheologische Kurs der Genfer Ökumene darstellte. Anderseits waren es evangelikale Theologen aus der Zwei-Drittel-Welt, welche eine positive Einstellung zur sozialen Verantwortung einforderten.64 In Wheaton wurde ein vorsichtiger Anfang in der Aufnahme der sozialen Frage gemacht, doch „eine theologische Integration der sozialen Verpflichtung in den Missionsauftrag war in Wheaton noch nicht in Sicht“.65 Dennoch war Wheaton bedeutsam:
Wheaton ist bedeutsam durch die Tatsache, dass hier erstmals die sonst mehr auf Abgrenzung bemühten Evangelikalen in einem Kongress zusammenkommen und eine gemeinsame Erklärung zu den Fragen der Weltmission verabschieden, dass sie damit den Anschluss an die theologische und methodische Reflexion der Mission suchen, dass sie erstmals die sozialen Nöte und deren Bedeutung in der Mission ansprechen (…) und dass man sich von der seit 1961 in der Ökumene gängigen sichtbaren und universalen Interpretation der Heilsgeschichte distanzierte.66
Die Frankfurter Erklärung 1970
Ein weiterer Schritt in Richtung eines an die Bibel gebundenen Missionsverständnisses war die Frankfurter Erklärung zur Grundlagenkrise der Mission von 1970.67 War die Wheaton-Erklärung eine Standortbestimmung für die sich sammelnden Evangelikalen selbst gewesen, suchte man mit der Frankfurter Erklärung die Konfrontation mit der Ökumene.
Positiv bejaht sie das Eintreten für Gerechtigkeit und Frieden im Sinne einer Begleitung und Beglaubigung der Mission. Auch die humanisierenden Konsequenzen der Bekehrung wurden gewürdigt. Diese könnten aber nichts mehr als Hinweise auf den kommenden messianischen Frieden sein. Allerdings machen die bejahenden Aspekte nur einen kleinen Teil der Erklärung aus, denn sie geht von einer Situation der „inneren Zersetzung“ der Missionstheologie aus, auf die geantwortet werden musste.68
Negativ bemängelt wurde der missionstheologische Kurs der Genfer Ökumene. Dir „Irrlehre“, wonach die Religionen und Weltanschauungen „Heilswege neben dem Christusglauben seien“, müsse verworfen werden.69 Humanisierung sei nicht vorrangiges Ziel der Mission, sie könne nur Folge davon sein. Der immer stärker hervortretende Heilsuniversalismus der ökumenischen Bewegung wurde scharf kritisiert und als unvereinbar mit dem biblischen Zeugnis betrachtet:
Wir bestreiten, dass „christliche Präsenz“ unter den Anhängern der Fremdreligionen und wechselseitiger religiöser Austausch mit ihnen im Dialog ein Ersatz für die zur Bekehrung drängende Verkündigung des Evangeliums seien, statt allein eine gute Form missionarischer Anknüpfung. Wir bestreiten, dass die Entlehnung christlicher Ideen, Hoffnungsziele und sozialer Verhaltungsweisen – auch abgesehen von deren ausschließlicher Beziehung auf die Person Jesu Christi – die Fremdreligionen und Ideologien zu einem Ersatz für die Kirche Christi machen können. Sie geben ihnen vielmehr eine synkretistische und damit antichristliche Ausrichtung.70
Ursprünglich als Gesprächsgrundlage für die Verhandlungen mit der Abteilung für Weltmission und Evangelisation des Ökumenischen Rates der Kirchen gedacht, führte die Frankfurter Erklärung mit ihrer kategorischen Absage an die ökumenische Missionstheologie zu einer starken Polarisierung. Während Evangelikale wie Klaus Bockmühl die Frankfurter Erklärung für eine „notwendige und verdienstliche Thematisierung des berechtigten Unbehagens an der Genfer Linie“ begrüßten,71 kritisierte eine Minderheit die scharfe Abgrenzung, welche die Erklärung provozierte.72 Von den Ökumenikern, welche die Genfer Linie vertraten, wurde die Frankfurter Erklärung abgelehnt. Peter Beyerhaus, der die Federführung der Frankfurter Erklärung hatte, verteidigte sie, indem er darauf hinwies, dass durch den ökumenischen Kurs die Mission an sich gefährdet sei. Die Verfasser seien überzeugt, „dass es hier um das Sein oder Nichtsein nicht nur des gegenwärtigen Missionsbetriebs, sondern der christlichen Kirche und des christlichen Glaubens überhaupt geht“.73 Die Frankfurter Erklärung wolle „den bibeltheologischen Konsensus über Grund, Aufgabe und Ziel der Mission erneuern“.74
Die Frankfurter Erklärung erzielte insbesondere in der evangelikalen Missionslandschaft in Deutschland eine nachhaltige Wirkung. Sie ermöglichte eine missionstheologische Standortbestimmung in deren Folge „sich gegenüber der ökumenischen Missionstheologie eine eigenständig evangelikale Missionstheologie in Deutschland“ entwickelte.75 Einerseits trug die Frankfurter Erklärung so zur Bewahrung des missionstheologischen Erbes lutherisch-pietistischer Tradition bei. Anderseits wurde ihre anti-ökumenische Haltung zu einem identitätsbildenden Element evangelikaler Missionstheologie in Deutschland und zementierte so den Bruch zwischen Evangelikalen und Ökumenikern.76
Lausanne in Sicht
Als im Jahr 1974 der große evangelikale Weltevangelisationskongress in Lausanne stattfand, an welchem rund 4.000 Missionare, Theologen und Leitungspersönlichkeiten teilnahmen, hatten die Evangelikalen definitiv ihren eigenen Weg unter die Füße genommen. Der Bruch zwischen dem ökumenischen und dem evangelikalen Lager war vollzogen. Der Lausanner Kongress wurde von der Billy Graham Evangelistic Association aus dem Bewusstsein ins Leben gerufen, dass sich die ökumenische Missionstheologie immer weiter von ihren biblischen Grundlagen entfernte. So hält Billy Graham in seiner Autobiografie mit Blick auf Bangkok 1973 fest: „Man konzentrierte sich noch stärker auf Themen wie soziale und politische Gerechtigkeit. Die erlösende Kraft des Evangeliums für eine verlorene Welt spielte kaum noch eine Rolle (…) Dieser Trend alarmierte die evangelikalen Christen, die daraufhin begannen, sich um ein gründlicheres Verständnis der biblischen Theologie der Evangelisation zu bemühen.“77 Fortan wurde in der aus dem Kongress hervorgegangenen Lausanner Bewegung intensiv über Grundlage und Praxis der christlichen Mission diskutiert. Der Begriff der Missio Dei spielte dabei keine tragende Rolle. Er war für den ökumenischen Diskurs reserviert und sollte erst zu Beginn des neuen Jahrtausends auch für Evangelikale Bedeutung erlangen.
2.4Ein Gott, der sendet
Die Missio Dei ist ein aus der Missionstheologie nicht mehr wegzudenkendes Konzept. Auch missional gesinnte Theologen aus dem evangelikalen Segment beginnen neuerdings, ihn für ihre Sichtweise zu reklamieren. Ein besonderes Problem in der Entstehungsgeschichte des Konzepts bestand in seiner Vieldeutigkeit. So konnte es geschehen, dass unterschiedliche und zum Teil gegensätzliche Ansichten in das Konzept hineingelesen wurden. Diese Unschärfe bedarf der Korrektur. Noch zu Beginn der 1980er-Jahre konnte David Bosch sagen, „dass die Trinitätslehre in Kirche, Mission und Theologie eine nur recht vage Funktion ausübt“. Es sei daher notwendig, „detaillierter auszuführen, was wir unter einer trinitarischen Grundlage der Mission verstehen“.78 Deshalb halte ich es für angebracht, im Folgenden einige biblische Grundzüge der Missio Dei herauszuarbeiten.79
Gott sendet
Obwohl wir den Begriff „Mission“ zu Recht mit dem Neuen Testament – und dort insbesondere mit dem sogenannten Missionsbefehl in Mt 28 und Parallelen – in Verbindung bringen, ist Mission nicht auf das Neue Testament beschränkt. Das neutestamentliche Missionsverständnis hat tiefe alttestamentliche Wurzeln.
Das Alte Testament offenbart einen sendenden Gott, der sich aus Liebe offenbart und Menschen zu Werkzeugen seines Heils macht. Gott selbst ist der erste Missionar. Nach dem Sündenfall geht er zu den Menschen und kündigt ihnen Gericht und Rettung an: „Feindschaft setze ich zwischen dich und die Frau, zwischen deinen Nachwuchs und ihren Nachwuchs. Er trifft dich am Kopf, und du triffst ihn an der Ferse“ (1Mo 3,15). Mit diesem Versprechen kündigt Gott den Menschen die Überwindung des Bösen an. An diesem Punkt in der Geschichte beginnt inmitten der menschlichen Unheilsgeschichte die Heilsgeschichte Gottes. Hier werden die Grundzüge biblischen Heils sichtbar:80 Gott geht aus sich heraus und sucht das Heil des Menschen. Das Heil ist Gottes Werk, die Selbsterlösung steht schon hier ganz am Anfang im Gegensatz zum Wirken Gottes. Das Heil wird Satan, den Feind der Menschen, zerstören. Damit ist angedeutet, dass die Geschichte nicht endlos weitergeht. Sie hat mit der Schöpfung einen Anfang und mit Gericht und Neuschöpfung ein Ende (Offb 21,1ff). Das Heil wird durch einen Menschen kommen, den „Nachwuchs“ Evas. Dies ist ein verhüllender Hinweis auf Jesus Christus. Durch sein Leiden („du triffst ihn an der Ferse“) verwirklicht er das Heil. Damit wird schon auf den ersten Seiten der Bibel klar: Gott gebraucht Menschen als seine Werkzeuge, um sein Heil zu verwirklichen. Die Initiative geht von Gott aus und das Heil, das er anbietet ist ein Geschenk. Doch dieses Geschenk muss vermittelt werden. Die Vermittlung des Heils, die sowohl im Alten als auch im Neuen Testament eine wichtige Rolle spielt, klingt hier bereits an. Denn wo es keiner menschlichen Vermittlung bedarf, ist auch keine Mission nötig. Und auch das Zusammengehen von Gericht und Gnade findet sich hier: „Gott selbst kommt und verkündigt ihnen [Adam und Eva] das Gericht. Das gehört immer zur Mission dazu. Denn wenn das Gericht nicht wäre, brauchten wir nicht von Gnade und Vergebung zu sprechen.“81
Die Grundzüge der Missio Dei sind auf den ersten Seiten der Bibel also bereits vorgezeichnet. Entlang dieser Linien entfaltet sich im Alten Testament eine immer deutlicher werdende Theologie der Sendung, in welcher Gott der Handelnde ist. Einige Beispiele: Gott sendet einen Engel, um Abrahams Knecht zu helfen, eine Frau für Isaak zu finden (1Mo 24,7). Gott sendet Josef nach Ägypten, um seine Familie zu retten (1Mo 45,7). Gott sendet Mose zum Pharao, um die Freilassung seines Volkes zu fordern (2Mo 3,10). Gott sendet einen Engel, um sein Volk in das verheißene Land zu führen (2Mo 23,20).
Gott liebt
Die zentrale Motivation der Sendung Gottes ist seine Liebe, die sich in seiner Barmherzigkeit zeigt. Nirgends im Alten Testament wird das deutlicher als im Exodus, der paradigmatischen Erfahrung Israels. Das rettende Eingreifen Gottes wird zweifach begründet:
Zum einen gründet Gottes heilbringendes Handeln in seiner Bundestreue, die auf das Versprechen an Abraham zurückgeht, aus ihm ein Volk zu schaffen. „Gott hörte ihr Stöhnen und Gott gedachte seines Bundes mit Abraham, Isaak und Jakob. Gott blickte auf die Söhne Israels und gab sich ihnen zu erkennen“ (2Mo 2,24f), steht wie eine Überschrift über dem Exodus. Gott hatte Abraham versprochen, dass seine Nachkommen Gottes Volk sein sollten und dass er ihnen das Land Kanaan zum Pachtbesitz geben würde (1Mo 12,1–3). In der Befreiung aus Ägypten begann Gott dieses Versprechen einzulösen.
Zum andern ist es die in Gottes Wesen begründete Barmherzigkeit, die ihn zur rettenden Tat drängt. „Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne ihr Leid. Ich bin herabgestiegen, um sie der Hand der Ägypter zu entreißen“ (2Mo 3,7f). In diese Situation des Elends sendet Gott Mose, um die Israeliten zu befreien: „Jetzt ist die laute Klage der Israeliten zu mir gedrungen und ich habe auch gesehen, wie die Ägypter sie unterdrücken. Und jetzt geh! Ich sende dich zum Pharao. Führe mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten heraus!“ (2Mo 3,9f). Sowohl hier als auch in den mosaischen Gesetzen offenbart sich Gott als ein aus Barmherzigkeit handelnder Gott.82 Am Ursprung jeglicher Sendung steht Gott, seine Liebe, seine Barmherzigkeit und seine Treue zu seinen Verheißungen.
Im Exodus zeigt sich exemplarisch Gottes Handeln mit der Welt.83 Gottes Plan ist es, Heil zu schaffen, und dieses Heil betrifft den Menschen ganzheitlich. Israel wurde durch das Passa von seinen eigenen Sünden erlöst, aber im Exodus ebenso von der an ihnen begangenen Sünde der Unterdrückung befreit. Aus dem Exodus lassen sich Grundzüge missionalen Handelns mit Gültigkeit für die christliche Mission ableiten: In der Mission wendet sich Gott den Menschen ganzheitlich zu und begegnet der ganzen Bandbreite menschlicher Bedürfnisse. Christliche Sendung muss, wenn sie sich Gottes Sendung anschließen will, immer den ganzen Menschen im Blick haben.