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Gott beruft
Durch das gesamte Alte Testament hindurch wird deutlich, dass Gott sich Menschen sucht und sie zu Mittlern des Heils macht. Die Sprache der Berufung und Sendung durchzieht das ganze Alte Testament: Gott gibt seinem Volk Richter, um sie zu befreien (Ri 3,9). Gott sendet seine Propheten, um sein Volk zu warnen und zu leiten (Ri 6,8). Gott sendet Samuel, um mit der Salbung von Saul (1Sam 15,1) und David (1Sam 16,1) eine neue Ära einzuleiten. Das Sendungsmuster des Alten Testaments ist durchgängig dasselbe: Gott ist der Sendende, der Menschen zu seinen Gesandten macht, damit diese in seinem Namen reden und handeln.
Grundsätzlich für das Alte Testament ist, dass Israel ein gesendetes Volk ist, um zeichenhaft unter den Völkern zu leben. Israel existierte als priesterliches Volk um der Völker Willen (2Mo 19,5f).84 Als gehorsames Volk war es dazu bestimmt, unter den Segen Jahwes zu kommen, damit die Völker voll Staunen auf Israel und seinen Gott blickten (5Mo 4,6–8; 28,10). Auf diese Weise sollte Israel ein missionarisches Volk sein und Zeuge bis an die Enden der Erde werden (Jes 49,6).85
Die prophetischen Bücher machen am ausführlichsten von der Sprache der Sendung Gebrauch: Gott sendet seine Propheten zu seinem Volk und zu den Völkern (Jer 1,7). Gott sendet Gericht unter sein Volk (Hes 5,16) und unter die Völker (Hes 39,6). Gott sendet sein Wort, damit es bewirkt, was ihm gefällt (Jes 55,11). Gott sendet Ägypten einen Retter (Jes 19,20). Seinem Volk sendet er aus seinem Erbarmen Korn, Wein und Öl (Joel 2,18f).
In der Berufung der Propheten zeigt sich, dass Gott Werkzeuge sucht, die sein Heil vermitteln. Diese Werkzeuge sind gewöhnliche Menschen, die von Gottes Ruf so in Beschlag genommen werden, dass sie sich Gott völlig zur Verfügung stellen (2Mo 3,1ff; Jer 1,4–10). Sie hören Gottes Worte, sehen in Visionen seinen Willen für das Volk und treten mit der prophetischen Formel „so spricht der Herr“ in seinem Namen auf. Sie sind Gottes Gesandte, die er aus Mitleid zu seinem Volk sendet (2Chr 36,15f).
Dass Gott beruft, um zu senden, zeigt sich exemplarisch bei Jesaja. Gott offenbarte sich ihm in einer Vision im Tempel: „Danach hörte ich die Stimme des Herrn, der sagte: Wen soll ich senden? Wer wird für uns gehen? Ich antwortete: Hier bin ich, sende mich!“ (Jes 6,8). Gott beauftragte Jesaja zu gehen und trug ihm auf, was er dem Volk sagen sollte. Er wurde zum Mund Jahwes für sein Volk. Später ist die Rede vom Gesalbten Jahwes, den er durch seinen Geist zu seiner Sendung befähigt: „Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe und alle heile, deren Herz zerbrochen ist, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Gefesselten die Befreiung, damit ich ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe“ (Jes 61,1f). Hier sind alle wesentlichen Elemente biblischer Sendung vorhanden: Gott sendet aus Liebe und Barmherzigkeit, um das Elend der Menschen zu wenden. Er bedient sich dabei eines menschlichen Werkzeugs und befähigt ihn zu einer ganzheitlichen Mission durch die Salbung mit dem Heiligen Geist.
Als Jesus seinen Dienst antrat, bezog er in der Synagoge von Nazaret Jes 61,1f auf sich (Lk 4,16ff) und definierte so sein messianisches Selbstverständnis. Jesus ist der Gesalbte Jahwes, dessen Mission darin besteht, den Menschen Gottes rettende Gnade anzubieten. Dieser Text ist in der evangelikalen Bewegung im ausgehenden 20. Jahrhundert zu einem bedeutenden Missionstext geworden.86 Nimmt man Jes 61,1f als Missionstext ernst, dann gehören Verkündigung („ein Gnadenjahr ausrufen“) und Dienst („und alle heile, deren Herz zerbrochen ist“) zusammen.
Am Ende des Prophetenbuches weitet sich die Sendung zum weltweiten Geschehen: „Ich stelle bei ihnen ein Zeichen auf und schicke von ihnen einige, die entronnen sind, zu den übrigen Völkern: nach Tarschisch, Pul und Lud, Meschech und Rosch, Tubal und Jawan und zu den fernen Inseln, die noch nichts von mir gehört und meine Herrlichkeit noch nicht gesehen haben. Sie sollen meine Herrlichkeit unter den Völkern verkünden“ (Jes 66,19). In diesem Text haben wir in einzigartiger Weise Mission in neutestamentlichem Sinn vor uns: Gott sendet Entronnene aus seinem Volk, dass sie die Grenzen zur Heidenwelt überschreiten und Gottes Herrlichkeit unter den Völkern verkünden. Damit ist im Alten Testament eine Theologie der Sendung angelegt, die zur Konkretion drängt und so vorbereitend auf das Neue Testament wirkt.
2.5Mission in Christ‘s Way
Die im Alten Testament grundgelegte Theologie der Sendung wird im Neuen Testament expliziert und konstitutiv für die Kirche. In den synoptischen Evangelien spielt die Sendung Jesu eine zentrale Rolle: Jesus weiß sich von seinem Vater zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt (Mk 9,37). Jesus muss das Evangelium vom Reich Gottes verkündigen, denn dazu ist er gesandt (Lk 4,43). So wie Jesus gesandt war, sandte er die Zwölf (Lk 9,1–6) und später die Zweiundsiebzig (Lk 10,1ff) und wies sie an, den Vater zu bitten, weitere Arbeiter in die Ernte zu senden (Lk 10,2). Aus der Sendung Jesu ergibt sich so die Sendung der Kirche.
Der Vater sendet Jesus
Besonders die Schriften des Johannes enthalten eine ausgesprochene Sendungstheologie. Diese entfaltet sich in einem Dreierschritt: Der Vater sendet Jesus, Jesus sendet die Jünger, der Vater und der Sohn senden den Geist. Kein Evangelium ist so durchdrungen von der Sprache der Sendung wie das vierte Evangelium. Der grundlegende Text ist Joh 3,16f: „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird.“ „Hingeben“ (3,16) und „senden“ (3,17) bilden eine sachliche Parallele. Zentrales Motiv der Sendung Jesu durch den Vater ist die Liebe zur Welt. Diese Liebe drängt Gott dazu, seinen Sohn hinzugeben. Er sendet ihn nicht nur in die Welt, sondern er gibt ihn hin in die Hände der Menschen.
Hintergrund dieses Liebeshandelns Gottes bildet die Erwartung eines zukünftigen Weltgerichts, das in Joh 3,17 angedeutet wird und den Sinn eines noch nicht vollzogenen Gerichts hat. Eines Tages wird Gott für Gerechtigkeit sorgen, indem er zum Gericht erscheint (2Thess 1,6–10; Offb 20,11–15). Mission ist nur möglich, weil dieses Gericht noch nicht vollzogen wird, und sie geschieht im Hinblick auf dieses Gericht.
Der entscheidende Unterschied zwischen der allgemeinen jüdischen Endzeiterwartung in neutestamentlicher Zeit und der Botschaft Jesu bestand im Gericht. Die Juden erwarteten aufgrund der alttestamentlichen Verheißungen, dass Gott durch seinen Messias zum Gericht über die Gottlosen erscheinen würde. Auf diese Weise würde das Reich Gottes anbrechen und Israel erlöst werden. Nun kam Jesus und verkündete dieses Reich als herbeigekommen (Mk 1,14f), aber er vollzog das Gericht über die Sünder nicht. Er verkündete Gott als den, der auf das Recht der Vergeltung verzichtet und seine Souveränität erst im Endgericht wiederherstellt. Jürgen Moltmann hat in diesem Zusammenhang von einer Revolution im Gottesbegriff gesprochen: „Alles was man bei Jesus unter dem Stichwort ‚Gewaltlosigkeit‘ aufzählen kann, ist zuletzt auf diese ‚Revolution im Gottesbegriff‘ zurückzuführen, die er demonstrierte: Gott kommt nicht zur gerechten Rache an den Bösen, sondern zur gnädigen Rechtfertigung der Sünder, ob Zeloten oder Zöllner, ob Pharisäer oder Sünder, ob Juden oder Samaritaner, und in Konsequenz: ob Juden oder Heiden.“ 87
Das Gericht ist mit Jesus nicht aufgehoben, es wird auf die Zukunft verlegt und Jesus selbst, der als Richter erscheint, wird es vollziehen (Joh 5,22). Mission macht nur Sinn, wenn es ein Gericht gibt. Das wird auch in einem zweiten johanneischen Text deutlich: „Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, hat das ewige Leben; er kommt nicht ins Gericht, sondern ist aus dem Tod ins Leben hinübergegangen“ (Joh 5,24). Mission findet in der Zwischenzeit zwischen Kreuz und Wiederkunft statt. Diese Zwischenzeit ist Gnadenzeit, in welcher Gott alle Menschen zu Umkehr und Glaube ruft. Damit ist die Mission eschatologisch verankert, was ihr den rechten Sinn gibt. Ohne eine heilsgeschichtliche Betrachtung der Bibel wird die Mission letztlich in die Irre gehen. Denn die Heilsgeschichte läuft auf das Gericht zu. Aus diesem Grund ist die Mission „der zentrale heilsgeschichtliche Sinn der Zwischenzeit zwischen Himmelfahrt und Wiederkunft des Herrn“.88 Mission in neutestamentlichem Sinn kann darum niemals nur Hilfeleistung sein, sie ist immer mit einer Botschaft verknüpft und mit einer Aufforderung: Gott bietet rettende Gnade an, die durch Buße und Glauben ergriffen werden kann (Mk 1,15f). Der Ruf zum Glauben und die Aufforderung zu einem Herrschaftswechsel unter das Joch Christi (Mt 11,28–30) gehören untrennbar zur christlichen Mission.
Jesus sendet seine Jünger
In der Sendung Jesu zeigt sich, dass der Gesandte stets den Willen des Sender sucht und in seinem Namen handelt: Jesus kennt den, der ihn gesandt hat (Joh 7,29) und lebt in engster Gemeinschaft mit ihm (Joh 8,12–29). Jesus tut den Willen und die Werke dessen, der ihn gesandt hat (Joh 5,30; 9,4). Seine Worte kommen nicht von ihm selbst, sondern vom Vater, der ihn gesandt hat (Joh 7,16–18). Die Sendung Jesu durch den Vater setzt sich in der Sendung der Jünger durch Jesus fort. Der zentrale Text ist Joh 17,18–23:
Wie du mich in die Welt gesandt hast, so habe auch ich sie in die Welt gesandt. Und ich heilige mich für sie, damit auch sie in der Wahrheit geheiligt sind. Aber ich bitte nicht nur für diese hier, sondern auch für alle, die durch ihr Wort an mich glauben. Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast; denn sie sollen eins sein, wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir. So sollen sie vollendet sein in der Einheit, damit die Welt erkennt, dass du mich gesandt hast und die Meinen ebenso geliebt hast wie mich.
Dieser Text, der in Kurzform in Joh 20,21 wiederholt wird, verbindet die Sendung von Jesus durch den Vater mit der Sendung der Jünger durch Jesus. Die Missio Dei, aus der die Sendung Jesu hervorgeht, wird so zum Modell christlicher Sendung. Der Text enthält drei wesentliche Aussagen über die Missio Dei:
Erstens führt die Missio Dei durch die Tatsache, dass sich in der Sendung der Jünger die Sendung Jesu fortsetzt, zur Missio Ecclesiae. Durch das Wort „wie du mich in die Welt gesandt hast, so habe auch ich sie in die Welt gesandt“ verbindet Jesus die Mission Gottes mit der Mission der Kirche. Die Sendung des Sohnes durch den Vater führt zur Sendung der Jünger durch den Sohn. Die Missio Dei ist ohne die Missio Ecclesiae also nicht zu denken. Die Kirche ist das von Jesus erwählte Werkzeug zur Sendung bis an die Enden der Erde. Man kann nur unter Missachtung dieser biblischen Zusammengehörigkeit von Mission und Kirche davon reden, die Missio Dei mache die Sendung der Kirche unnötig.
Zweitens führt das Leben Jesu als Modell christlichen Handelns in der Welt zu Mission mit dienendem Charakter. Es geht in der Mission sowohl um die Verkündigung des Evangeliums als auch um die Nachahmung des Lebens Jesu. Das Kreuz und das Leben Jesu sind grundlegend für ein biblisches Sendungsverständnis: Das Kreuz ist Grund und Inhalt der Mission. Ohne das Kreuz gäbe es keine objektive Heilsgrundlage und keine Botschaft der Rettung zu verkünden. Das Leben Jesu ist das Modell der Mission. Es zeigt an, wie Mission zu geschehen hat: Sie ist Nachahmung des Lebens und des Dienstes Christi. Das wirkt sich sowohl auf den Inhalt als auch die Form der Mission aus. So wie Jesus sich mit den Menschen und ihren Nöten identifizierte, sind wir gerufen, zu den Menschen zu gehen und uns ihrer anzunehmen – mit ihren leiblichen, seelischen und geistlichen Bedürfnissen. Mission ist ihrem Wesen nach Dienst. In der jüngeren evangelikalen Missionsgeschichte ist diese Art von Mission mit dem Begriff „inkarnatorisch“ bedacht worden. Die Inkarnation zeigt, wie Mission zu geschehen hat, nämlich als liebevolle Suchbewegung zu den Menschen, um ihnen im Geist Jesu zu dienen. Seit dem Lausanner Kongress 1974 ist Mission in Christ‘s Way unter Berufung auf Joh 20,21 zu einem festen Bestandteil der evangelikalen Missionstheologie geworden.89
Drittens kann Mission nur als Zeugnis einer am Reich Gottes orientierten Gemeinschaft Wirkung entfalten. Jesus betet in Joh 17 im Kontext der Sendung in die Welt für die Einheit seiner Nachfolger. Die Einheit der Kirche ist es, die den Menschen vor Augen führt, dass Jesus von Gott gesandt ist. In einer Welt voller Hass und Unversöhnlichkeit darf die Einheit der Kirche kein bloßes Gedankenkonstrukt sein, sondern muss unbedingt gelebte Praxis werden. In der Einheit der Kirche kann die Botschaft des Evangeliums gesehen werden. Francis Schaeffer sieht in ihr die höchste Überzeugungskraft des Christentums.90 Mission besteht demnach nicht nur in der Verkündigung des Reiches Gottes und seines Königs Jesus, obwohl diese Botschaft zentral ist, sie besteht ebenso in der Demonstration dieses Reiches durch versöhnte Gemeinschaft (Röm 14,17).91 Mission ist das Zeugnis von Christus und seiner verändernden Kraft, und dieses Zeugnis ist das Zeugnis einer Gemeinschaft, sowohl im Alten als auch im Neuen Testament.92 Die Kirche ist in die Welt gesandt, um zeichenhaft zu leben. Aus diesem Grund sammelte Jesus in seiner Jüngergemeinschaft die unterschiedlichsten Leute und lehrte sie, als versöhnte Menschen miteinander zu leben. Jesus hatte Zeloten und Zöllner in den Reihen seiner Jünger und er lehrte sie, dass sie einander dienen sollten (Mt 20,20–28). „Diese neue Gemeinschaft von erlöstem Gesindel war eine lebendige Demonstration des heraufziehenden messianischen Königreiches, in dem Gerechtigkeit und Frieden herrschten. Ihre bloße Existenz bestätigte Jesu Ankündigung des Evangeliums vom Reich und stellte gleichzeitig einen zentralen Teil von ihm dar.“ 93 Biblische Sendung besteht nicht nur im Gehen zu den Menschen, sondern auch im Sein unter den Menschen. Paulus wandte in seinen Briefen viel Aufmerksamkeit darauf, die Christen zur Versöhnung anzuhalten. In Röm 14,1–15,13 kommt Paulus auf unterschiedliche Überzeugungen in Speisefragen zu sprechen. Diese Unterschiede waren für die Christen in Rom gemeinschaftsbedrohend. Paulus weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es im Reich Gottes um Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist geht (Röm 14,17). In der Gemeinschaft der Versöhnung, welche die Kirche lebt, manifestiert sich also das von den Propheten angekündigte Gottesreich. Der lange Abschnitt von Röm 14,1–15,13 ist nicht ein Anhängsel zur Rechtfertigungslehre, sondern stellt durchaus einen Höhepunkt dar: Die Gerechtfertigten können unter dem Kreuz ihre sozialen Beziehungen neu ordnen, einander als geliebte Geschwister erblicken und so einander trotz ihrer Unterschiede annehmen.94 Diese unbedingt gelebte Praxis ist eine Demonstration des Reiches Gottes in einer zerrissenen Welt und legt Zeugnis für Christus ab.
Der Heilige Geist befähigt zur Mission
Gott sandte seinen Sohn in der Kraft des Heiligen Geistes in die Welt (Lk 4,18). An Pfingsten wurden die Jünger mit derselben Kraft ausgerüstet, um die Mission Jesu fortzusetzen (Apg 1,8). Aber nicht nur an den Jüngern, sondern auch an der Welt würde der Geist Gottes wirken. Er würde das Zeugnis der Jünger gebrauchen und die Welt überführen (Joh 16,7–11).
Mission ist ohne die Kraft des Heiligen Geist eine „Mission: Impossible“. Das zeigt sich schon an der Sendung von Jesus.95 Jesus begann seinen Dienst, nachdem bei seiner Taufe der Heilige Geist auf ihn herabgekommen war (Lk 3,21f). Anschließend wurde er in die Wüste geführt, wo er versucht wurde (Lk 4,2–13). Nachdem er die Probe bestanden hatte, war er bereit für seinen Dienst: „Jesus kehrte, erfüllt von der Kraft des Geistes, nach Galiläa zurück. Und die Kunde von ihm verbreitete sich in der ganzen Gegend“ (Lk 4,14). Dem Vorbild von Jesus folgend mussten die Jünger in Jerusalem bleiben, denn erst nachdem sie mit der Kraft aus der Höhe angetan worden waren (Lk 24,49), konnten sie zu brauchbaren Zeugen des Christus werden (Apg 1,8).
Dass Mission in der Kraft des Heiligen Geistes geschieht und dass sich in der Mission der Kirche die Mission von Jesus fortsetzt, zeigt sich im Doppelwerk Lukasevangelium-Apostelgeschichte besonders deutlich. Durch die gesamte Apostelgeschichte hindurch leitet der erhöhte Herr durch seinen Geist seine Kirche in ihrer Sendung in die Heidenwelt hinein: Der Heilige Geist führt Philippus auf wunderbare Weise zum äthiopischen Finanzminister, damit er diesem das Evangelium erklären kann (Apg 8,26–40). Gott spricht auf vielfältige Weise zu Petrus und Kornelius, sodass sich der widerspenstige Apostel aufmacht, um Kornelius und seiner Familie die Tür zur Gemeinde zu öffnen (Apg 10,1ff). Der Heilige Geist spricht zur Gemeinde im syrischen Antiochien und fordert sie auf, Barnabas und Paulus ziehen zu lassen, sodass sie sich „vom Heiligen Geist ausgesandt“ auf den Weg machen (Apg 13,1–4). So breitet sich das Evangelium gemäß Apg 1,8 immer weiter aus, nicht selten gegen den Widerstand der urchristlichen Missionare. Denn diese müssen erst nach und nach überzeugt werden, dass Mission im Sinn von Jesus nicht bedeutet, jüdische Proselyten zu gewinnen, sondern Menschen im Glauben an Christus zu binden und an ihn allein.
Die urchristliche Mission ist unübersehbar Missio Dei. In Apg 1–15 initiiert Gott selbst jeden neuen missionarischen Vorstoß in die unerreichte Völkerwelt.96 Die ganze Apostelgeschichte ist von einer trinitarischen Sendungstheologie durchdrungen: Durch vielfältige Kraftwirkungen des Heiligen Geistes offenbart sich der erhöhte Herr, Jesus Christus, suchenden Menschen, damit diese den lebendigen Gott kennenlernen können. Die Kirche wandelt auf den Spuren des Heiligen Geistes, gibt Zeugnis von Christus und hat so Anteil an der Missio Dei.
2.6 Kopernikanische Wende?
Wir können nun die geschichtlichen Ausführungen und die biblische Betrachtung in Bezug zueinander setzen. Der Blick in das Alte und das Neue Testament zeigt, dass es sich bei der Missio Dei nicht um ein beliebig ausgestaltbares Konzept handelt. Es kann nicht mit je eigenen Anschauungen über Zweck und Ziel der christlichen Mission gefüllt werden, ohne wesentliche Inhalte einer biblischen Sendungstheologie zu ignorieren. Das aber ist in der ökumenischen Missionsgeschichte geschehen und hat so weit geführt, dass die Missio Dei sogar als Schlagwort gegen die Mission verwendet wurde. Wenn in der evangelikalen Missiologie das Konzept der Missio Dei in jüngster Zeit vermehrt aufgegriffen wird, dann wird es wichtig sein, der Missio Dei eine im Sendungsverständnis Alten und Neuen Testaments verwurzelte Gestalt zu geben. Nur so kann vermieden werden, dass das Konzept allen ehrenhaften Bemühungen zum Trotz die Mission unterminiert, statt sie zu fördern. Als Karl Hartenstein die Formulierung Missio Dei einführte, hoffte er „die Mission vor Säkularisierung und Verflachung schützen zu können und sie ausschließlich für Gott zu reservieren“.97 Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Die Missionstheologie von Willingen gab mit ihrer Vieldeutigkeit Anlass zu ursprünglich nicht beabsichtigten Entwicklungen. Das zeigt, wie wichtig es ist, sich Rechenschaft darüber zu geben, welche Schlagworte man gebraucht und wie man sie inhaltlich füllt.
Unterschiedliche Lesarten
Willingen wird mitunter als „kopernikanische Wende“ in der Missionstheologie bezeichnet.98 Dieser Ausdruck scheint mir hoch gegriffen, auch wenn von Willingen als einer „der theologisch fruchtbarsten Konferenzen“ gesprochen werden kann.99 Entscheidend war, dass das Konzept der Missio Dei die christliche Mission im Wesen Gottes verankerte. Mit dieser Verankerung wurde die westlich angeführte Mission theologisch ihres Überlegenheitsgefühls beraubt, weil sie ihre Existenz nicht mehr mit ihren Erfolgen begründen konnte, sondern der Grund der Mission außerhalb ihrer selbst, nämlich in Gott, lag.100
Die Missio Dei entfaltete eine beträchtliche Wirkungsgeschichte.101 Nach Willingen wurden in der ökumenischen Mission das verheißungsgeschichtliche und das trinitarische Missionsmodell zu einem „neuen“ Missionsverständnis mit humanistischem Programm verschmolzen. Man war nun nicht mehr, wie im heilsgeschichtlichen Modell, auf das kommende Reich ausgerichtet. Es ging jetzt darum, dem Reich Gottes auf Erden zum Durchbruch zu verhelfen. Die Mittel dazu waren nicht mehr die Verkündigung des Evangeliums, sondern der interreligiöse Dialog und der politische Kampf.102 Neuere ökumenische Missionserklärungen gehen wie selbstverständlich von der Missio Dei aus.103 Allerdings wird diese nicht mehr so radikal interpretiert wie in den 1960er- und 70er-Jahren. So versuchte das Dokument Mission und Evangelisation – eine ökumenische Erklärung aus dem Jahr 1982 ein neues Gleichgewicht zwischen Verkündigung und Verantwortung in der Welt zu erreichen.104
Die evangelikale Leseart der Missio Dei unterscheidet sich bis heute wesentlich von der ökumenischen. Hier entwickelte sich die Missionstheologie erst einmal ganz im Rahmen des heilsgeschichtlichen Modells, wie Walter Freytag und Karl Hartenstein es vertraten. Die Missio Dei – sowohl als Begriff als auch der Sache nach – spielte in der evangelikalen Bewegung bis zur Jahrtausendwende keine wesentliche Rolle. Das zeigt sich an den großen evangelikalen Missionserklärungen:105
In der Lausanner Verpflichtung (1974) ist in Artikel 1 vom Plan Gottes die Rede. Gott „hat sein Volk aus der Welt herausgerufen und sendet es zurück in die Welt, damit sie seine Diener und Zeugen sind.“ Im Zentrum des Artikels steht der sendende Gott, der die Kirche zum Zeugendienst beruft. Eine Begründung der Mission aus dem Wesen Gottes kommt nicht ins Blickfeld. Artikel 15 verortet die Mission in der Eschatologie und stellt sich damit in die Tradition des heilsgeschichtlichen Modells von Walter Freytag und Karl Hartenstein.
Im Manila Manifest (1989) wird der missionarische Auftrag der Kirche umfassend begründet und entfaltet. Absatz 5 mit der Überschrift „Gott, der Evangelist“ beginnt mit den Worten: „Die Schrift erklärt, dass Gott selbst der eigentliche Evangelist ist.“ 106 Es wird festgehalten, dass Evangelisation ohne den Heiligen Geist nicht möglich ist. Mehr ist in dem Absatz und im ganzen übrigen Manifest nicht in Erfahrung zu bringen. Eine systematische Einfügung der Missio Dei in den Missionsauftrag ist nicht vorhanden.
In der Kapstadt-Verpflichtung (2010) wird erstmals in einer repräsentativen evangelikalen Missionserklärung die Sendung der Kirche in der Missio Dei verankert. Die missionarische Aufgabe wird als Dienst an der Welt definiert, und dieser Dienst ist möglich, weil Gott uns zuerst geliebt hat.107
Erst in den neuesten evangelikalen Versuchen, ein missionales Verständnis von Kirche und Mission zu entwickeln, wird auf die Missio Dei zurückgegriffen. So entfaltet der Missionswissenschaftler und Gemeindegründer Johannes Reimer den Gemeindebau trinitarisch und schreibt der Missio Dei eine wichtige Grundfunktion zu. Er nimmt den ökumenischen Gedanken der Missio Dei auf, der besagt, dass Gott sich in seiner Liebe der Welt zuwendet: „Es geht Gott um die Welt, und um seine geliebte Welt zu gewinnen, bedient er sich der Gemeinde. Sie ist daher Gottes Missionsinstrument und von ihrem Wesen her missionarisch.“ 108 Der heilsgeschichtliche Ansatz einerseits und die verheißungsgeschichtlichen und trinitarischen Ansätze anderseits vereinen sich bei Reimer zu einer missionalen Theologie evangelikaler Leseart, die auf theologische Abschottung verzichtet.109
Missionales Potenzial