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Im November 1918, als der Krieg zu Ende ist – einige seiner Freunde sind gefallen –, beginnt für ihn eine harte Zeit. Als Soldat hat er immerhin seinen Sold bekommen, jetzt aber hat er überhaupt kein Einkommen, auch keinen Offizierstitel und keine Uniform mehr. Er bemüht sich, an alte Bekanntschaften anzuknüpfen. Sein Münchner Kontakt, die Seele, führt inzwischen in Berlin ihrem verwitweten Bruder Alfred Dunsky den Haushalt. Der ist ein angesehener Innenarchitekt und betreibt eine Möbelfirma. Seele lädt Hans ein, nach Berlin zu kommen. Vielleicht kann er dort leichter eine Stelle finden. Sie hat ihm sogar schon bei Oertner, einem Angestellten von Dunsky, eine Unterkunft besorgt. Und der mittellose Hans fährt nach Berlin.
Gegen Ende des Jahres 1918 kommen Lona und Hans wieder in Kontakt. Denn Lona und ihre drei jüngeren Schwestern schreiben ihm einen Brief. Und er antwortet den Mädchen auf seine launige Art am 6. Dezember 1918 mit einem Gedicht, in dem er die Namen von Lona und ihren jüngeren Schwestern aneinanderreiht:
Fräulein Lonahildeursulaelisabeth Pieper
Das ist meine liebe Lona, die schreibt.
Sie ist und bleibt eine Perle.
Und Ihr drei Kleinen, Ihr seid und bleibt
Doch richtige Teufelskerle.
Du muschelverkalkte Perle, Du
Zupf an den Ohren die Kleinchen.
Und hilf mir zu meiner ländlichen Ruh
Und zu einem Häus'chen mit Schweinchen.
…
Er mildert das Bild von Lona als harter unzugänglicher Muschelkalk also ab, indem er sie jetzt als Perle in diesem Material betrachtet und damit ausdrückt, dass sie in ihrem Innern ein Schatz ist. So ist die muschelverkalkte Perle ein durchaus dichterisch zutreffendes Bild, auch wenn eine Perle im Muschelkalk aufgrund der stofflichen Gegebenheiten gar nicht erhalten geblieben wäre. Solche naturwissenschaftlichen Dinge weiß Hans bestimmt nicht, aber die Kombination »muschelverkalkte Perle« benutzt er nur dieses eine Mal und dann nicht mehr. Er bleibt bei dem Namen Muschelkalk, der für eine weibliche Person so ungewöhnlich ist. In späteren Briefen wird dieses Wort um Adjektive ergänzt: mal liebster Muschelkalk, mal urgeliebter, mal goldiger Muschelkalk. Und variiert: liebs Muschelkälkche, mein Muschelkälkchen, mein guter Kalk, lieber Kalk, mein geliebtes Kalk, Mi Muschel, Kalkchen und Kuschelmalk. Was alles Lona gefallen haben muss, denn sie hat sich nie dagegen gewehrt.
Nach der an die vier Schwestern gerichteten Karte schreibt er an Lona wenige Tage später noch einmal gesondert. »Mein lieber guter Muschelkalk«. Er berichtet, er wohne bei einer alten Tante und träume von einem Haus mit Garten. Wenn sie einmal von einem solchen Objekt (12 bis 14 Morgen Land, Preis bis 50.000 Mark) hören sollte, solle sie ihn gleich benachrichtigen. »Ich verbleibe mit tausend herzlichen Grüßen Dein getreuer Hans Bötticher.« Von einem Wiedersehen, was Lona beim Empfang des Briefes gehofft haben mag, schreibt er nichts.
Dann geht Anfang 1919 die Beziehung mit Bampf auseinander. Sie hat inzwischen Interesse an einem anderen Mann. Bötticher ist abgeblitzt. Das Jahr 1919, in dem er als Arbeitsloser manches Mal Hunger leidet, geht dahin. In Berlin gibt es Aufruhr und Tote. Eine Reichsverfassung wird ausgearbeitet. Friedrich Ebert wird Reichspräsident. Aus der Ferne bekommt Hans mit, dass es auch in München zu Unruhen kommt. Der Bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner wird erschossen, die Stadt erlebt zwei kurzzeitige Räterepubliken, Revolutionäre werden getötet, als Vergeltung auch Leute von der Gegenseite. Dann aber kehrt in München wie in Berlin zunächst einmal wieder Ruhe ein.
Briefe
Lona hat inzwischen ihr Examen gemacht und in Rastenburg eine Stelle als Sprachlehrerin angenommen. Sie wohnt wieder in ihrem Elternhaus. Ihr Vater ist nach dem Tod seiner Frau Elise vor einigen Jahren im Oktober 1919 eine dritte Ehe mit Maria Domin eingegangen.
Anfang November 1919 verabreden sich Lona und Hans zu einem Treffen in Berlin in einer Weinstube, werden aber bei ihrem Tête-à-Tête von Lonas Bruder gestört, was sie im anschließenden Briefwechsel beide sehr bedauern. Sie schreiben sich weiterhin. Hans will wissen, ob und wie viel Liebe sie noch für ihn empfindet. Lona wird jetzt grundsätzlich, da sie ahnt, dass es ernst werden könnte. Damit beginnt um die Jahreswende 1919/20 eine briefliche Diskussion über das Verhältnis von Mann und Frau. Bevor sie ihre Gefühle für ihn offenbart, will die vorsichtige Lona wissen, welche Meinung er von Frauen hat und ob sie ihn fürchten müsse.
Und Hans verspricht, ganz ehrlich zu ihr zu sein und schreibt: »Ich finde in der Frau vorwiegend Tier, daneben etwas – männlichen Geist – und ein Fünkchen Göttlichkeit oder gottverliehene Wunderkraft.« Möglicherweise ist er durch den zu dieser Zeit recht populären Philosophen Otto Weininger zu dieser Einstellung gekommen. »Und dem Tier muß, will ich untertan sein und ich liebe es schmutzig und grausam und überlegen. Ich liebe ihm so zu dienen, daß es mir zum Menschen und ich ihm zum Tier, zum weiblichen Tier werde.«
Es ist fraglich, ob Lona die sexuellen Wünsche versteht, die er andeutet. In diesem Punkt liegen Welten zwischen den beiden, wie aus Lonas Antwort deutlich wird: »Ungläubig staunend hörte ich Deine Worte, verlor ein wenig das Gleichgewicht … Daß alle Menschen männl. u. weibl. Geschlechtes mit Variationen sinnlich sind, ist Tatsache. Ist eine Frau es im landläufigen Sinne nicht, heißt es, sie ist pervers od. hysterisch … Was ich bisher an mir beobachtet habe, will ich Dir sagen. Am meisten verwundert hat's mich, als ich einem eigenartig schönen Mannesantlitz begegnete, der geistvolle Kopf zeigte feine edle Linien. Da habe ich öfters gedacht, von diesen schmalen, harten Lippen möchtest Du wohl gern einmal geküßt sein. Das ist ja wohl pervers?«
Hans kann sich nur wundern: »Hast Du so wenig über Sexuales gelesen, gesehen, so wenig über diese geheimnisvollen Kräfte nachgedacht, die die Erde und die Gestirne um die Erde kreisen machen? Ja Du bist so jung noch – und immer wieder mag ich vergessen, wieviel Leben mehr ich Dir voraus habe.« Und er kann sich nicht vorstellen, dass sie immer diese »feindliche, von Abscheu und Ekel erfüllte Stellung« einnimmt, die sie sich – wie er meint – zu Unrecht einredet. Und weil sie geschrieben hatte: »Ein lüsternes Verliebtsein ist mir widerlich, daß ich oft schlagen möchte«, sieht er darin einen möglichen Ansatz zu der von ihm offenbar bevorzugten sexuellen Praxis und knüpft an ihre Worte an: »Könntest Du einen Mann schlagen? – Könntest Du mich mit einer Ruthe schlagen, wenn ich Dich, zwischen einem schönen Theaterstück und einer großen ernsten ›Weinstunde‹ (schöner wie neulich) darum bitten würde? – – Oder würdest Du leiden oder mögen, daß ich Dich gelegentlich einmal wie ein unartiges Kind schlüge? Oder wie eine Sklavin demütigte?« Aber dann kommen ihm doch Bedenken, ob sie mit seinen Worten etwas anfangen kann und er fragt: »… glaubst Du, meinen Brief von neulich ganz verstanden zu haben?«
Möglicherweise hat Lona sich inzwischen etwas kundig gemacht und ahnt nun, was es alles für sexuelle Praktiken gibt. »Ob ich Dich mit einer Ruthe schlagen könnte? Nein, Hans, niemals … Wenn so etwas … nur dazu dienen soll, eine Stimmung, Erregung zu produzieren, geht es mir wider die Natur … Mögen würde ich es nie, daß Du mich schlägst … nur aus Laune – – niemals. – – Wie eine Sklavin demütigen, wie weit faßt Du den Begriff? Ich könnte Dir mit gewisser Trauer, daß es nicht anders ist, doch treu in allem dienen, als Magd, bis auf den Dienst, den der Mann von der Frau verlangt. Da magst Du zu anderen gehen.«
Sie fragt sich, was er überhaupt von ihr will. Zieht ihn vielleicht nur ihre »niedliche Unschuld« an, die er genießen und zerstören möchte? Aber Hans erwidert, das sei keineswegs der Fall, eine erfahrene Partnerin wäre ihm viel lieber. Und den Begriff Triebe, meint er, solle sie positiv sehen. Das Wort bekäme einen schöneren Klang, wenn man an Knospen, Frühling denke, an Zugvögel oder ein saugendes Fohlen. »Du bist noch ganz verstrickt in die schmutzige Wolle, mit dem die kleinliche Bourgeoisie ihre Kinder umspinnt.« Mit dem Blick des sexuell aufgeklärten frühen 20. Jahrhunderts macht er ihr klar: Nicht die Triebe seien eine Schande, sondern deren Verleugnung. Und von ihrer Unschuld werde er keineswegs angezogen. Er empfiehlt ihr die Lektüre der Sittengeschichte von Eduard Fuchs und der Bücher von de Sade. Und damit ihr klar ist, dass es für Frauen nicht nur die »schlimmen« Männer gibt, fragt er provokant, was sie denn von der sinnlichen Liebe zwischen Frau und Frau halte? Und dann noch: ob sie einmal ein Kind bekommen möchte?
Sie erklärt ihm in ihrem nächsten Brief zunächst, ihr Widerwillen gegen Dinge wie Triebe, Lüste etc. komme daher, dass sie mit sechs Jahren von schlechten frühreifen Kindern aufgeklärt worden sei. Und weiter: Von lesbischer Liebe habe sie vor Kurzem erfahren. Die Dadaisten hätten wohl auch damit zu tun. Die von ihm genannten Autoren und ihre Bücher kenne sie nicht. Ein Kind wäre ihr schönster Traum, es brauche aber gar kein eigenes zu sein. In seiner Antwort nennt Hans sie »Naivica«, weil sie Lesben und Dada zusammenbringt.
Im Übrigen aber will Lona ihrem Hans das Heim bereiten, das er sich ersehnt. Denn er hatte doch auch geschrieben, im schwülstigen Stil der Zeit und ziemlich unliterarisch: »Wie schön wäre es, hätten wir gemeinsam eine kleine Wohnung, darin Du sorgtest und waltetest mit Deiner schönen Mütterlichkeit und wie würde es mich zu meinem Arbeiten anspornen und liebe Freunde kämen zu uns – und Kunst und Glauben und Redlichkeit wüchsen in unserem Tempel …« Das war eine Vorstellung des gemeinsamen Lebens, die ihr durchaus gefallen hat. Und Hans versichert, er liebe sie und könne mit ihr leben, ohne sie körperlich zu berühren. »Wir würden sein gleich zwei innigsten Freunden, die sich zuwinken und sehen und sprechen von Balkon zu Balkon.« Aber schließlich gibt er ihr auch in einfühlsamer Weise zu verstehen, dass er ihr die Augen für das öffnen möchte, was sie zu der Zeit noch ängstigt. Und sie lässt sich überzeugen, trotz aller Vorbehalte. Sie mag ihn sehr. Und die Zeit ist reif. Er hat gewonnen.
Nachdem diese grundsätzlichen Dinge jetzt zwischen den beiden geklärt sind, machen sie sich an die Realisierung des Zusammenlebens. Für diesen Zeitpunkt ist noch ganz wichtig zu erwähnen: Hans benutzt seit Dezember 1919 das Pseudonym Joachim Ringelnatz. Er startet jetzt entschlossen durch als Dichter. Nahezu alles, was er erlebt und sieht, verwertet er literarisch, macht er zum Gedicht oder zu Prosa.

Mein richtiges Herz. Das ist anderwärts,
Irgendwo
Im Muschelkalk.
Konkretisierungen
Seit Mitte Januar 1920 hat Ringelnatz im Verlag Scherl in Berlin einen Job für zehn Mark pro Tag. Doch die Demobilisierung verlangt, dass ehemalige Soldaten wieder dort wohnen, wo sie vor dem Krieg gelebt haben. Also darf Ringelnatz nicht in Berlin bleiben, er muss zurück nach München. Lona dagegen hat ab April eine Stelle als Fremdsprachenlehrerin in Godesberg bei Bonn am Rhein angenommen. Ringelnatz ist in Berlin bereits im Aufbruch. Ende April wird er nach München umziehen, wo er im »Simpl« nicht mehr nur einfacher Hausdichter ist, sondern ein richtiges Engagement für den Monat Mai hat. Die Chefin Kathi Kobus übernimmt seine Reisekosten und zahlt 1.200 Mark Gage. Schon will er von Lona wissen, welche Kündigungsfrist sie in der gerade angetretenen Stelle hat. Und sie soll sehen, dass sie die Papiere für die Hochzeit zusammenbekommt, sich also insbesondere ihre Geburtsurkunde und einen Staatsangehörigkeitsnachweis beschafft.
Aber zuvor ist noch das Unvermeidliche zu erledigen: Der Brief an Wilhelm Pieper in Rastenburg. Auch wenn Lona inzwischen volljährig ist, wollen sie doch nicht ohne den Segen des Vaters heiraten. Da wird die Herkunft der beiden aus bürgerlichen Elternhäusern deutlich. Ringelnatz entwirft ein entsprechendes Schreiben: »Hochverehrter Herr Bürgermeister«. Ziemlich geschickt stellt er darin seine bisherigen Tätigkeiten heraus, weist aber ehrlich auf seine minimalen finanziellen Mittel hin, nennt Zeitschriften, die Texte von ihm gebracht haben, sowie seine Buchveröffentlichungen. Er bespricht den Brief mit einer mütterlichen Berliner Freundin und schickt den Entwurf dann nach Godesberg, damit Lona dazu Stellung nehmen kann. Schließlich wird der Brief an Pieper abgeschickt. Sobald der Vater einverstanden ist, soll Lona in Godesberg kündigen.
Hans macht seiner Lona im Übrigen klar, dass er eine ganz bestimmte Frau braucht und haben will: »Was ich thue, wenn Muschelkalk in meinen Händen nicht wird, was ich erhoffe? – – Dann knete ich Muschelkalk mal härter mal weicher, mal sanft und mal hitzig und Muschelkalk wird, was ich erhoffe, denn ich pflege meine großen Ziele nicht leicht aufzugeben. Aber freilich muß Muschelkalk auch wollen und eiserne Energie dort haben, wo es von ihr erwartet wird. Muschelkälkchen wird anfangs manchmal traurig zu sich selber sprechen: ›Ach ich bin doch so dumm gewesen und werd ich wohl erreichen, was er meint und was er mir zeigt.‹ Aber wenn Muschelkalk tapfer aushält und auch schiefe Zeiten hindurch treulich bleibt – dann – – (I wo, ich werd mich hüten zu versprechen, was dann lohnen soll). Und dein dichtender ewiger Seemann wird so gern so gern Dich als liebes sorgendes Hausgeistchen wissen, und er wird ruhig werden, da er jemanden weiß, der sein Haus bestellt und ihn bei Mißerfolgen tröstet oder bei einem Stückchen Ruhm sich als Mithelfer freut.« Lona weiß also, was sie erwartet, und sie geht diese Verbindung bewusst ein.
Der künftige Wohnort
Schon jetzt aber, so drängt Ringelnatz, sollten sie die Frage klären, wo sie sich niederlassen. Seit dem 30. April hält er sich in München auf und sucht hier nach einer Wohnung, was nach dem Krieg äußerst schwierig ist. Der Wohnungsmarkt wird wegen Raummangels in München – wie in anderen deutschen Städten auch – bewirtschaftet, es werden Wohnungen also nach bestimmten Kriterien von städtischen Behörden vergeben. Selbst wenn die erforderlichen Papiere vorliegen, ist wohl vor Ablauf eines Jahres mit der Zuteilung einer Wohnung nicht zu rechnen.

Doch Lona kann sich durchaus auch vorstellen, mit Ringelnatz in Rastenburg zu leben. Es fällt ihr offensichtlich schwer, sich vom Vater und den Geschwistern zu trennen. Nachdem ihr Vater zum dritten Mal geheiratet hat, ist vor allem die jetzt zehnjährige Schwester Lisabeth eigentlich gut versorgt, und es besteht keine Notwendigkeit mehr für sie, in Rastenburg zu bleiben. Aber ganz wichtig ist für sie, was ihr Vater dazu sagt, dass sie einen Mann heiraten will, der beruflich mit Mitte dreißig keineswegs den Vorstellungen der bürgerlichen Kreise entspricht, aus denen sie stammt. Für eventuelle Konflikte in dieser Richtung rät Ringelnatz ihr: »Aber wenn es sein müßte, daß Du einmal Dich gegen den Willen Deines Vaters in Deiner eigenen Überzeugung oder aus Treue zu mir behaupten müßtest – Muschelkalk, ich hoffe, nein ich baue fest darauf, daß Du dann Dich bewährst«. Ein weiterer Grund für Lonas zögerliche Haltung ist aber sicher auch, dass sie manchmal leichte Beklemmungen beschleichen, denkt sie an das ganz neue Leben, das sie jetzt erwartet, wenn sie mit einem Mann in eine ihr unbekannte süddeutsche Großstadt zieht. Ringelnatz bemüht sich, sie mit vielen Worten von München zu überzeugen. Er macht ihr klar: München sei »so viel viel schöner, froher als Rastenburg«, er habe dort mehr Anregungen und Verbindungen, und sie wäre dort in einer ganz neuen Umgebung; zur Not könne man auch erst nach Rastenburg ziehen und dann nach München, aber das wäre doch sehr umständlich und sehr teuer! Trotzdem tendiert Lona immer noch nach Rastenburg. Aber Ringelnatz will das nicht. Eine Kleinstadt, wo er nichts ist, kommt für ihn nicht in Betracht. Auch bringt er noch das Argument, dass es nach seiner Ansicht nicht gut sei, wenn ein junges Paar in der Nähe der Eltern wohnt. Ganz klar: Er will aus München nicht mehr weg.
Aber Lona mahnt zur Geduld. Zudem schreibt sie von Zahnproblemen. Diese mag sie auch etwas übertrieben schildern, um seiner drängenden Frage, an welchem Ort sie denn nun wohnen will, zu entgehen. Letztlich aber hat sie München nichts entgegenzusetzen. Dann ist als Hochzeitstermin der 1. September im Gespräch. Den empfindet Ringelnatz aber als sehr spät. Er hat wohl schon länger den 7. August, seinen Geburtstag, im Auge. Sie warten immer noch auf die Antwort ihres Vaters. Und es gibt weitere praktische Probleme zu lösen. Ringelnatz spricht davon, er habe bei Dunsky in Berlin seine Möbel untergestellt. Der Innenarchitekt hat ihm vermutlich Möbel aus seinem Sortiment überlassen und sie zunächst einmal in seinem Lager untergebracht. Vielleicht handelt es sich auch um in Zahlung genommene Stücke seiner Kunden. Diese Möbel müssen möglichst schnell nach München transportiert werden, sonst knöpfe ihm Dunsky noch das eine oder andere Stück wieder ab, schreibt er an Muschelkalk. Schließlich handelt es sich um Sachen, die sie dringend für ihre gemeinsame Wohnung brauchen: Bett, Diwan, Schreibtisch, Buffet, Schrank, Waschtisch, Truhe, Tisch, Spiegel und zwei Regale.
Dann kommt endlich Post von Vater Pieper. Er äußert, wie zu erwarten war, einige Bedenken, aber die kann Ringelnatz in einem weiteren Brief an ihn ausräumen. Hat er doch gerade in dieser Zeit eine Arbeit in der Postüberwachungsstelle München, wo Briefe von und nach Österreich und in die Schweiz auf Geldverschiebungen hin zu überprüfen und eventuelle Geldscheine zu beschlagnahmen sind. Er verdiene 500 bis 600 Mark monatlich, schreibt er. Außerdem kämen im Mai durch Vorträge (mit diesem stets von Ringelnatz gebrauchten Begriff sind seine kabarettistischen Auftritte gemeint) Einkünfte von 1.300 Mark dazu. Und Pieper hat wohl auch die Frage nach Kindern gestellt, worauf Ringelnatz ihm klarmacht, daran dächten sie in den ersten Jahren noch nicht. Und der Vater ist schließlich mit der Heirat einverstanden. Also, wann kommt sie denn nun endlich nach München?
Ringelnatz wird mit Muschelkalk immer ungeduldiger. Schließlich hat er die Stelle bei der Post, den »Simpl« und die Wohnungssuche am Hals. Wäre sie doch endlich da und könnte mithelfen! Ihre Stelle in Godesberg sei das »übelste Hindernis«. Zum Dichten kommt er in diesen Wochen überhaupt nicht. Immerhin hat Kathi Kobus den Vertrag im »Simpl« für den Monat Juni verlängert. Dann geht es um die Ausgestaltung der Hochzeitsfeier. Darüber habe sie noch gar nicht nachgedacht, schreibt Lona. Aber er »denke von früh bis spät daran!«, schreibt Ringelnatz. Sie müsse nun aber wirklich kommen. Als dann der Hochzeitstermin auf den 7. August festgesetzt ist und sie erst am 3. August in München eintreffen will, ist Ringelnatz ziemlich verzweifelt.
Im »Simpl« sind seine Freunde schon sehr gespannt auf die Frau, die er heiraten will. Hier trägt er allabendlich seine Ballade Seemannstreue vor. Die handelt von einer gestorbenen Matrosenbraut namens Alwine, die der Matrose nach der Beerdigung immer wieder aus- und eingräbt, wobei die fortschreitenden Stadien der Verwesung anschaulich geschildert werden. Das Gedicht wollen die Gäste immer wieder hören, ist es doch so schön eklig und morbide. Aber dann kündigt er eine echte, lebendige Braut an. Und die kommt dann endlich auch. Marietta di Monaco, eine Münchner Kabarettistin, die ebenfalls im »Simpl« auftritt, berichtet: »Wir waren gespannt und warteten. Eines Abends führte er sie uns vor. Eine Weile betrachteten wir sie stumm. Nach einigen zögernden Redewendungen stellten wir fest, daß sie uns gefiele – und flüsterten einander zu: ›Das ist Muschelkalk!‹– Dann bestätigten wir es laut, wie aus einer Kehle, und alle waren damit einverstanden.«
Die Hochzeitsfeier
Am 7. August 1920 findet die Hochzeitsfeier bei Margot Fichtner statt, einem schwindsüchtigen Wesen, das gut kochen und offenbar Räumlichkeiten für private Feiern zur Verfügung stellen kann.
Ringelnatz hat einen kleinen Kreis von Leuten eingeladen. Muschelkalk lernt seine Schwester Ottilie kennen und Fräulein Friedl, wohl die Tochter seiner Vermieterin. Der sympathische Arzt Ernst Levin mit seiner netten rumänischen Frau Annikuzza ist da und Erich Winter, ein Leutnant der Reserve. Gast ist auch Willy Seidel mit Frau, Schriftsteller und viel in der Welt herumgekommen. Er kann ferne Länder packend schildern, was Ringelnatz natürlich gefällt. Ebenso ist der Autor Reinhard Koester gekommen, der ebenfalls seine Frau mitgebracht hat. Er hat im Jahr zuvor einen Roman und zwei Stücke veröffentlicht, die dem literarischen Expressionismus nahestehen. Außerdem ist er Übersetzer von Molière-Komödien und hat sich bestimmt mit Muschelkalk auch auf Französisch unterhalten. Koester hält die Hochzeitsrede und wird ein lebenslanger Freund der beiden. Schließlich ist noch Carl Georg von Maassen da, bibliophil, gebildet, wohlhabend, Edles liebend und die meiste Zeit seines Lebens mit der anerkannten aber unvollendet gebliebenen Herausgabe des Werkes von E. T. A. Hoffmann beschäftigt. Sein Hochzeitsgeschenk ist eine Kaffeemühle, und dazu liefert er auch gleich ein zotiges Gedicht mit. Das mag Muschelkalk bei ihrer problematischen Einstellung zu sexuellen Dingen zu dieser Zeit unangenehm berührt haben, an diesem Abend aber doch nur ganz kurz, denn es strömen so viele neue Eindrücke auf sie ein. Spät kommt noch Kathi Kobus, die Wirtin des »Simpl«, zur Hochzeitsgesellschaft, die weiß, was sie an Ringelnatz hat und sich deswegen bei seiner Feier sehen lassen muss.
Als Festessen gibt es Suppe, Braten, Fisch, Reis, Schokoladencreme, als Getränke Burgunder, Rheinwein und Schnaps. Von Maassen schreibt leicht überheblich in sein Tagebuch über das Essen, es sei zwar reichlich gewesen, aber wenig gastrophil, so sei zum Beispiel der Fisch zerkocht gewesen. Das hat aber die übrigen Gäste sicher nicht gestört. Man bleibt bis tief in die Nacht zusammen.
Einen Tag später wird bei Kathi Kobus im »Simpl« gefeiert. Und am 17. August 1920 findet – wegen noch fehlender Papiere verzögert – endlich die standesamtliche Trauung statt, und sie sind jetzt auch offiziell Mann und Frau. Nach dem Standesamt sitzen Lona und Ringelnatz im Wein-Restaurant »Alt-Wien« in der Barer Straße. Dort trägt er ihr das Gedicht vor mit dem langen Titel Ansprache eines Fremden an eine Geschminkte vor dem Wilberforcemonument. Es ist eine Liebeserklärung an seine Frau und endet:
Das ist nun kein richtiger Scherz.
Ich bin auch nicht richtig froh.
Ich habe auch kein richtiges Herz.
Ich bin nur ein kleiner, unanständiger Schalk.
Mein richtiges Herz. Das ist anderwärts, irgendwo
Im Muschelkalk.

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