Die Rache des Inquisitors

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Johanna stieg die wenigen Stufen zur Stadthalle hoch und blickte sich ängstlich um. Sie wusste nicht, warum, aber ein unangenehmes Gefühl gesellte sich plötzlich zu der Angst vor den Soldaten hinzu. Vorsichtig schob sie den Riegel der Tür hoch und ging hinein. Sie sah, dass ihre Hand zitterte, als sie die Klappe der Lampe hob, um mehr Licht in den Raum zu lassen, riss sich aber zusammen. Bis die Bauern auf den Feldern waren, wollte sie die Stadthalle ausgefegt haben. Doch noch bevor sie den Besen aus der kleinen Kammer holen konnte, erblickte sie die Gestalt an der Decke. Sie ließ die Lampe fallen und kauerte sich hinter eine Bank, schreiend vor Entsetzen.
Friedrich war sofort wach. Die Müdigkeit fiel von ihm ab, und er sprang aus dem Bett. Noch während er sich eilig anzog, hörte er, wie sich Fensterläden öffneten und Stimmen durch die Gassen hallten. Er zog im Hinunterlaufen seine Jacke über, sprang in seine Stiefel und riss den Riegel der Tür zurück. Als er aus dem Haus rannte, stieß er mit einem jungen Mann zusammen, der gerade in seine Hose schlüpfte. Er wollte ein paar Worte der Entschuldigung murmeln, als er seinen Sohn Peter erkannte.
Friedrich schüttelte den Kopf. Für einen Moment war die Angst, die ihm bei dem Schrei durch Mark und Bein gefahren war, vergessen. Offensichtlich hatte Peter die Nacht wieder bei einer Frau verbracht, die ebenso wenig ehrbare Absichten hatte wie sein Sohn.
Peter grinste nur verlegen und lief weiter, während er versuchte, seine Hose nicht zu verlieren. Dieser kleine Umstand ermöglichte es Friedrich, vor seinem Sohn auf dem Marktplatz anzukommen. Das flackernde Licht der Lampen blendete den Stadtrat für einen Moment. Er hob die Hände vor die Augen und versuchte, etwas zu erkennen. Er kannte viele der Stimmen, die aufgeregt durcheinandersprachen, doch konnte er den Grund für den Schrei nicht erkennen.
Er trat etwas näher und sah Johanna auf den Stufen der Stadthalle sitzen. Eine Freundin hielt sie in den Armen, während sie ihr Gesicht in einem Taschentuch vergrub. Ihr Körper schüttelte sich in Weinkrämpfen.
Die Tür zur Stadthalle stand offen, und Friedrich wusste, dass die Ursache für diesen Schrei dort drin zu finden war. Er nahm sich eine Lampe und ging hinein. Mit jedem Schritt wuchs seine Unruhe. Er wusste nicht, was ihn erwartete, aber er wollte vor den immer zahlreicher zum Marktplatz strömenden Bürgern keine Schwäche zeigen.
Drinnen angekommen, hob er die Lampe über den Kopf. Vorne, gegenüber der Anklagebank, an der Agnes während der Verhandlung gestanden hatte, hing der schlaffe Körper einer Frau. Friedrich musste nicht näher gehen, um zu erkennen, dass Maria Höfner ihrem Leben hier ein Ende bereitet hatte. Ihr Gesicht war in Schmerzen verzerrt. Gott hatte ihr nicht den gnädigen Tod durch Genickbruch geschenkt, sondern sie qualvoll ersticken lassen.
Friedrich bekreuzigte sich, als er hinter sich eine Stimme vernahm.
»Wer ist die Tote?«, fragte der junge Dominikaner Thomas.
Friedrich zuckte zusammen. Er ballte seine Faust und versuchte, keine Schwäche zu zeigen. Er drehte sich um, hatte aber nicht die Kraft, dem Inquisitor in die Augen zu sehen. Der junge Mann war in sein weißes Gewand gekleidet, und seine kurzen Haare waren sauber gekämmt. Neben ihm stand Pater Baselius, dessen graue Augen auf Friedrich gerichtet waren.
»Maria Höfner«, antwortete Friedrich leise. »Sie war eine gute Frau mit einem großen Herzen.«
»Sie ist eine Mörderin!«, rief der Prior erbost. »Wir gehören alle Gott. Nur Gott darf Leben nehmen! Die Frau hat sich einer Todsünde schuldig gemacht, und ihre Seele wird für immer in der Hölle schmoren. Hängt sie ab, schlagt ihr den Kopf ab und verscharrt sie an einem Kreuzweg«, sagte er mit kalter Stimme. »So kann ihre Seele nicht mehr zurückkehren und die Lebenden heimsuchen.« Dann legte er seine Hand auf Thomas’ Arm und ließ sich aus dem Saal führen.
Für einen Moment stand Friedrich allein in dem großen Saal. Er schloss die Augen und verachtete sich wegen seiner Feigheit. Maria Höfner war eine gute Frau gewesen, und sie hätte ein würdevolles Begräbnis verdient gehabt. Sicher hätte er Vater Liborius davon überzeugen können, sie mit christlichen Ehren zu begraben, doch er wollte sich nicht gegen den Willen der Inquisition stellen. Er liebte sein Leben und durfte sich und seine Familie nicht in Gefahr bringen. Er hoffte, dass Maria ihren Frieden gefunden hatte und Gott gnädig über sie richten würde.
Friedrich ging hinaus und sprach einen der Männer an: »Holt eine Leiter, eine Schaufel und einen Wagen.« Er würde Maria an eine alte Kreuzung zum Nachbardorf bringen. Dort war sie auf die Welt gekommen, und dort hatte sie auch ihre Kindheit verbracht. Vielleicht würde es ihrer Seele ein wenig Frieden schenken, wenn sie nahe bei ihrem Geburtsort begraben läge.
Markus hatte die ganze Nacht neben dem Bett von Klara gewacht. Sie hatte kaum geschlafen und in den kurzen Zeiten des Schlafs hatten schlimme Albträume sie heimgesucht. Sie hatte sich dann umhergewälzt und Agnes’ Namen gerufen. Ihr Gesicht war schweißüberströmt, und ihr ganzer Körper zitterte. Markus strich ihr mit einem feuchten Tuch über die Stirn und verschaffte ihr ein wenig Linderung. Wenn sie wach war und ihre Augen wieder starr nach oben gerichtet waren, sprach Markus mit ihr. Er versuchte, mit seiner Stimme zu ihr durchzudringen und ihr das Gefühl zu geben, dass sie in dieser dunklen Welt nicht allein war. Außerdem hatte er ihr einen Kamillentee gekocht und neben das Bett gestellt. Er hoffte, dass der Geruch der Kamille, den sie so sehr liebte, sie wieder zu ihm zurückbringen würde. Doch außer während ihrer Albträume hatte sie noch kein Wort gesprochen.
Schließlich wurden Klaras Atemzüge ruhiger, und ihre Augen fielen zu. Markus legte das Tuch zur Seite und betrachtete die junge Frau. Sie schien endlich wieder traumlos zu schlafen. Markus lächelte zufrieden und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er wollte nur für einen Moment die Augen schließen.
Friedrich begleitete den kleinen Wagen mit Marias Leiche. Es war schwer für ihn zu glauben, dass eine so sanfte Frau eine solch verzweifelte Tat begangen hatte. Sie war gläubige Christin gewesen, daher hatte sie gewusst, dass der Freitod eine unverzeihliche Sünde war, doch schien der Gram über ihren Glauben gesiegt zu haben. Sie war von den Inquisitoren zu ihrer Aussage gezwungen worden. Jeder in dem Raum hatte das gesehen, und doch hatte sie sich am grausamen Tod von Agnes so schuldig gefühlt, dass sie nicht mehr leben wollte. Egal, was sie gesagt hätte, es hätte nichts am Schicksal der alten Kräuterfrau geändert. Doch diese Erkenntnis hatte ihr Leid nicht mildern können.
Friedrich bekreuzigte sich. Wie verzweifelt musste ein Mensch sein, in der dunklen Nacht in einen kalten, abweisenden Raum zu gehen, einen Strick um einen Balken zu werfen und sich eine Schlinge um den Hals zu legen, fern von Freunden und Verwandten, mit dem Wissen, dass die eigene Seele der ewigen Verdammnis anheimfallen würde? Er blickte auf den Wagen. Marias kleiner Körper war unter einer alten Pferdedecke verborgen. Gleichwohl konnte er ihren letzten Gesichtsausdruck nicht verdrängen, die Augen im Schrecken geöffnet und die Zunge grotesk aus ihrem Mund hängend. Friedrich versuchte, sich die schönen Erinnerungen an Maria ins Gedächtnis zu rufen, ihre zuvorkommende Art, ihren Fleiß bei allem, was sie tat. Doch sosehr er sich bemühte, diese Bilder wurden ständig von der hängenden Maria abgelöst, die ihrem Leben auf eine solch grausame Art ein Ende gesetzt hatte.
Bei dem Begräbnis eines Selbstmörders durften keine Gebete gesprochen werden, und niemand würde den toten Körper segnen, daher faltete Friedrich die Hände und begann leise mit dem Vaterunser. Er hoffte, dass Gott in seiner Gnade die Wahrheit hinter dieser Tat verstehen und Marias Seele nicht der ewigen Verdammnis aussetzen würde. In dieser Nacht galten seine Gebete ihr.
Peter saß auf einem Baumstumpf oben auf dem kleinen Hügel. Von dort aus hatte man eine gute Sicht über das Dorf. Hierhin zog er sich immer zurück, wenn er seine Ruhe wollte. Einzig mit Klara hatte er diesen Ort geteilt. Dann hatten sie zum Himmel geblickt, die Augen geschlossen und sich von der Sonne das Gesicht wärmen lassen. Doch heute waren graue Wolken aufgezogen, die den Wald in ein kaltes, abweisendes Licht tauchten.
Er vermisste Klara, ihre sture Art und ihre ständigen Nörgeleien. Er sehnte sich nach den kleinen Predigten über Anstand und Moral, die sie ihm hielt, wenn sie ihn wieder bei einer amourösen Liebschaft ertappt hatte, und nach ihren kleinen Zornausbrüchen, wenn er darüber eine anzügliche Bemerkung gemacht hatte. Wie oft hatte sie schon Steinchen nach ihm geworfen oder versucht, ihn mit einem Ast zu schlagen! Jedes Mal war er dann lachend weggelaufen, mit dem zufriedenen Wissen, ihren wunden Punkt getroffen zu haben. Er wünschte sich, wie früher einfach zu ihrem Haus gehen, sich in die Küche setzen und, unter den strengen Blicken ihres Onkels, den ganzen Abend ihren Erzählungen lauschen zu können. Heute Morgen war er bis vor ihr Haus gegangen. Dann hatte ihn der Mut verlassen. Er hatte sich geschworen, sie erst zu besuchen, wenn er ihr von einem Ende dieses Schreckens berichten konnte. Heute wollten die Inquisitoren abreisen, daher harrte er hier aus, um den Moment ihrer Abreise nicht zu verpassen. Vielleicht würde diese Nachricht den Schmerz über Agnes’ Tod ein wenig lindern.
Peter nahm einen Ast vom Boden, zog sein Messer aus seiner Hosentasche und begann, kleine Stücke aus dem Holz herauszuschnitzen. Er arbeitete ohne Ziel und ohne das Wirtshaus am Marktplatz aus dem Auge zu lassen. Der Waldboden vor seinen Füßen war von Spänen übersät, als der erste Soldat das Gebäude verließ. Sein Weg führte in den angeschlossenen Stall, in dem die Pferde und die Kutsche standen. Anscheinend wurde alles für die Abreise vorbereitet.
Peter ließ den Ast fallen und lief den Hügel hinunter. Er schlich die Straße entlang, bis er am Marktplatz angekommen war. Dort verbarg er sich in einer dunklen Ecke und beobachtete die Vorbereitungen des Aufbruchs. Der Wirt kam heraus. Schweiß tropfte von seiner Stirn, als er das Gepäck der Inquisitoren nach unten trug. Trotz seines beeindruckenden Gewichtes rannte Rainald ständig hinein und hinaus, als könnte er es selbst kaum erwarten, dass seine Gäste ihn wieder verließen. Der Markplatz war leer. Peter spürte unzählige Blicke hinter verschlossenen Läden oder aus verwinkelten Nebengassen, doch niemand schien der Inquisition noch einmal vor die Augen treten zu wollen. Der junge Inquisitor Thomas kam aus dem Wirtshaus und führte den blinden Prior in die Kutsche. Er wollte dem älteren Mann hineinfolgen, als ein Soldat gelaufen kam und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Peter ballte die Fäuste und hätte vor Zorn beinahe aufgeschrien.
Sicher hat es nichts mit uns zu tun, redete er sich ein. Vielleicht besprachen sie den Weg zu ihrem nächsten Ziel oder unterhielten sich über Belangloses. Das Gespräch schien sich zu einer Ewigkeit zu dehnen, bis Thomas dem Soldaten zunickte. Er besprach sich mit dem Prior in der Kutsche. Dann ließ er zwei Soldaten absitzen und winkte sie zu sich. Peter ahnte, dass irgendetwas vorgefallen war. Kaum dass die Soldaten von ihren Pferden gestiegen waren, lief er los. Sein Weg führte ihn über den Marktplatz tiefer in das Dorf hinein.
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