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Aber: wir sind nicht deine Eltern. Wir haben dich im Alter von zwei Wochen von einer jungen Mutter bekommen und dich adoptiert. Sie muss sehr jung gewesen sein, 14 oder 15. Sie konnte dich wohl nicht behalten. Besonders ich habe es einfach nicht über mein Herz gebracht, dir die Wahrheit zu sagen, dein Vater wollte das immer. Ich hatte fürchterliche Angst, dass du uns verlässt und deine leibliche Mutter suchen wirst. Sie wird, wenn ich diese Zeilen schreibe, Mitte dreißig sein. Glaub mir bitte, ich habe keine Ahnung wie sie heißt, geschweige denn wo sie lebt. Mir ist durchaus bewusst, dass du beim Lesen dieser Zeilen viel durchmachen musst, denke aber bitte daran, dein Leben geht weiter, wirf es bitte nicht weg. Sprich mit unserem Notar, Herrn Dr. Ralf Schmidt und regle alles. Und behalte uns bitte in guter Erinnerung, vergiss uns nicht.
Marc legte den Brief auf die Seite, ein Ruck ging durch seinen Körper. Er blickte seine beiden Freunde an, bedankte sich für die Hilfe und versprach, sein Leben wieder zu ordnen. Hartmut machte einen Vorschlag, der beide, Marc und Gerhard geradezu paralysierte.
„Was haltet ihr davon, im Spätsommer eine Kajak-Expedition in Kanada zu machen?“
Erst ungläubiges Schweigen, dann nahmen beide begeistert den Vorschlag auf.
„An welche Flüsse hast du dabei gedacht? Mensch Hartmut, das ist eine Superidee. Marc, davon träumen wir doch schon lange, was meinst du?“
Marc nickte nur unterstützend, er hatte Kopfschmerzen.
„Ich habe einen fürchterlichen Kater. Ich glaube, ich muss mich erst mal hinlegen und wieder richtig nüchtern werden. Dann kümmere ich mich um das Haus hier und meine privaten Sachen. Lasst uns doch am Mittwoch im Vereinsheim zusammensitzen und mal grob planen.“
Am darauffolgenden Tag suchte Marc den Notar auf, betraute ihn mit der Regelung seiner Vermögensverhältnisse und beauftragte einen Immobilienmakler zum Verkauf des Hauses und der beiden Eigentumswohnungen. Schon jetzt stellte sich heraus, dass die Vermögenswerte bei deutlich über 2 Millionen DM lagen, da kurz zuvor der Euro eingeführt wurde, besaß er ungefähr 1,5 Millionen Euro an aktuellen Vermögenswerten. Nach Erledigung der Pflicht folgte die Kür, zum ersten Mal seit dem Tod seiner Eltern und von Ella freute sich Marc auf das Treffen mit seinen Freunden. Mit Absicht fuhr er zwei Stunden früher zum Vereinsheim der Ulmer Kanuten, welches direkt am Flussufer der Donau unterhalb der Eisenbahnbrücke lag.
Marc betrat, nachdem er Neoprenanzug, Helm und Schwimmweste angelegt hatte, die große zweigeschossige Bootshalle im Erdgeschoss, ging zu den Boxen der Wildwasserkajaks und zog seinen knallgelben Gattino aus dem Regal. In Paddlerkreisen galt dieses Kajak als Dickschiff und nicht mehr zeitgemäß. Marc war die Meinung der anderen egal. Das Boot war für ihn immer wieder richtig, egal ob schweres oder leichtes Wildwasser, selbst für Wanderfahrten war es einsetzbar. Das Kajak lässig über die rechte Schulter gehängt, das Paddel in der linken Hand marschierte er die 150m zur Kiesbank an der Donau. Normalerweise war diese mehrere Meter breit, aufgrund des leichten Hochwassers aber nur mehr einen halben Meter. Nachdem er das Boot abgelegt hatte, blickte er zufrieden auf die Eisenbahnbrücke. Bedingt durch das Hochwasser bildeten sich an der unteren Seite der großen Steinpfeiler kräftige Kehrwasser.
Mit Kehrwasser bezeichnet man im Wildwasser Bereiche, in denen sich die Strömung flussaufwärts kehrt oder zumindest stark verlangsamt. Diese „Umkehr“ (oder Verlangsamung) der Fließrichtung des Wassers wird durch Wirbelbildung hinter angeströmten Hindernissen in Fließgewässern hervorgerufen. Die Technik des Hineinfahrens in ein Kehrwasser ist die wichtigste Voraussetzung zur Befahrung eines sportlichen Flusses.
Noch war niemand außer ihm auf dem Wasser, er hatte die ganze Brücke für sich alleine. Er zog das Boot hangaufwärts auf den Grashang, setzte sich auf dem Trockenen in das Kajak, schloss die Spritzdecke und rutschte mit Tempo in die Donau. Auf dem Wasser war es sofort wieder da, dieses unglaublich gute Gefühl! Er und das Kajak bildeten eine Einheit. Mit kräftigen Schlägen drückte er das Kajak dicht am Ufer entlang langsam flussaufwärts. Ein kleines Kehrwasser ausnutzend, legte er beim Ausfahren in die schnelle Strömung das Boot auf die Kante, hielt sich mit einer hohen Paddelstütze sicher im Wasser und fädelte mit einem kräftigen Ziehschlag in das Kehrwasser hinter dem ersten Brückenpfeiler ein. Auf diese Weise überquerte er die gesamte Breite der Donau bis zur Mündung eines Nebenarmes der Blau. So pendelte er ein paarmal über die Donau, immer wieder neue Spielarten austestend. Die früher vorhandene Sicherheit stellte sich langsam wieder ein. Nach zwei Stunden intensiven Trainings kehrte er zwar ausgepowert, aber glücklich an das Ufer zurück.
Am Ufer wurde er bereits von seinen beiden Freunden Hartmut und Gerhard erwartet, die ihn freudig begrüßten. Er wurde langsam wieder der alte. Marc zog sich noch schnell um, räumte Boot und Material auf und ging zu seinen beiden Freunden in die Gaststätte des Vereinsheimes. Die hatten sich bereits zwei Weißbiere bestellt. Lachend nahm er am Tisch Platz, „Ich kann's noch, ein super Gefühl. Ihr habt schon bestellt?“
Marc legte nach und bestellte sich ebenfalls Bier und etwas zu essen. Mit wichtigem Gesicht begann Hartmut:
„So Jungs, ich habe mir einiges überlegt. Unser Ziel ist Kanada, der äußerste Nordwesten, Wildnis pur und traumhafte Flüsse.“
Gerhard hakte ein, „an welchen Fluss dachtest du denn?“
„Zuerst an den Yukon, 780km von Whitehorse bis Dawson City.“
Marc ergänzte noch, „nicht schlecht, auf den Spuren Jack Londons und des Goldrausches.“
„Genauso habe ich auch gedacht, bei weiterem Studium bin ich dann auf den South Nahanni gestoßen. 600km pure Wildnis, kein einziger Ort. Wir müssen uns mit dem Wasserflugzeug zum Einstieg einfliegen lassen. Die ersten vier Tage Wildwasser, ein Hochgenuss von leichtem bis mittlerem Schwierigkeitsgrad, dann der höchste Wasserfall Kanadas mit fast 100m und vier Canyons, einer großartiger als der andere. Ich schlage den South Nahanni vor. Wir brauchen für die Befahrung gute zwei Wochen. Was meint ihr?“
Zur Bestätigung seiner Ausführungen legte er noch Kartenmaterial und Reiseführer auf den Tisch. Marc begeisterte sich von Minute zu Minute mehr.
„Das ist ja Wahnsinn. Ich bin dabei. Wann wolltest du starten?“
Hartmut lächelte, „wenn ihr Urlaub bekommt, Ende August diesen Jahres. Dann ist der Wasserstand niedrig und der erste Frost setzt bereits ein. Und das ist gut für uns und schlecht für die Mosquitos. Außerdem brauchen wir die Zeit. Ich muss sofort morgen die Permits für den Nationalpark reservieren, damit wir überhaupt fahren dürfen. Die Parkverwaltung lässt nämlich pro Monat nur eine bestimmte Anzahl Menschen auf den Fluss. Das ist beim Yukon anders, der ist fast schon zur Autobahn mutiert. Außerdem müssen wir das Material beschaffen und uns vorbereiten.“
Aufmerksam schaute Hartmut seine beiden Freunde an. Gerhard fasste als erster nach.
„Wie meinst du das? Material? Wir haben doch alles, bis auf einige Kleinigkeiten vielleicht.“
Hartmut schüttelte den Kopf.
„Falsch mein Lieber, wir haben fast nichts. Oder wie wolltest du die Boote transportieren, per Schiff und LKW?“
Marc ergänzte, „ich vermute, du spielst auf ganz andere Boote an, oder? Ich könnte mir vorstellen, dass Faltboote hierfür ideal sind. Sie sind eingeschränkt wildwassertauglich, schnell und fassen viel Gepäck.“ Er grinste dabei breit, „und ich bin der stolze Besitzer eines solchen Bootes, ein Klepper T 65, damit ist mein Vater früher schon Wildwasser gefahren.“
Auch Hartmut lachte.
„Marc, endlich wieder wie früher. Du hast es erfasst. Wir brauchen Faltboote. Ich tendiere dabei zu einem neuen Aerius 450 und für Gerhard habe ich einen T9 von einem Bekannten. Wir müssten die beiden alten Boote aber noch auf ihre Fahrtüchtigkeit überprüfen.“
„Da hast du Recht, das ist unbedingt notwendig. Ich habe keine Ahnung, wie lange das Kajak nicht benutzt wurde. Ich bin dafür, dass Hartmut die Koordination der Planung übernimmt, was meinst du dazu, Gerhard?“
Dieser erklärte sofort sein Einverständnis.
Als erstes legten sie die Zeit fest, Hartmut gelang es, im Nationalpark die drei Permits für die Durchfahrt vom 26.August bis 15.September zu reservieren. Um diesen Zeitraum wurde die gesamte Reise aufgebaut. Als nächstes wurden die Hotels und Flüge gebucht. In den kommenden Wochen ging es nur noch um die Ausrüstung. Marc musste feststellen, dass sein altes Faltboot runderneuert werden musste. Nach kurzer Überlegung entschied er sich, eine vollkommen neue Bespannung zu kaufen. Hartmut und er hatten sich in Rosenheim bei Klepper angemeldet. Er nahm das Gerüst seines Bootes mit, Hartmut dagegen liebäugelte mit dem neuen Aerius, ein vollkommen anders aufgebautes Boot. Ausgerüstet mit einem Luftschlauch war es wesentlich stabiler, im Wasser leichter und hatte eine höhere Zuladung. Hartmut musste jedoch zu seinem Bedauern feststellen, dass der T9 seines Bekannten nicht mehr fahrbereit gemacht werden konnte. Gerhard wollte jedoch auf keinen Fall für diese eine Reise ein Boot kaufen und mehrere 1000 Euro investieren, zumal die Fixkosten der Reise allein schon an der 3000 Euro Grenze kratzten.
Die drei Freunde entschieden sich dann, gemeinsam nach Rosenheim zum Faltboothersteller zu fahren. Dort angekommen, testeten sie verschiedene Boote. Gerhard war kurz davor auszusteigen. Das Angebot von Marc, die Kosten für das Faltboot zu übernehmen, lehnte er ab. Die Variante, einen Zweier zu nehmen, schien beiden nicht zu schmecken. Im Einer war auf jeden Fall mehr Stauraum vorhanden. Haut und Persenning hatte Marc bereits bestellt, so konnte er sein altes Boot runderneuert einfahren. Der Stauraum war aber auch in diesem Boot eher knapp bemessen. Marc testete noch den Aerius 490, einen Kajak-Einer mit Luftschläuchen, kam aber zu dem Ergebnis, dass sein T65 wesentlich agiler ist und sich eher wie ein Wildwasserboot fahren lässt als der Aerius. Auch Gerhard und Hartmut versuchten die unterschiedlichsten Boote, schließlich erlöste Hartmut die Gruppe, indem er den Aerius XXL mit 5,85m Länge kaufte, ein Boot, welches notfalls auch mit bis zu vier Personen gefahren werden konnte und sehr viel Gepäck aufnahm. Marc beteiligte sich ohne Wissen von Gerhard an den Kosten, die allein mit 3500 Euro zu Buche schlugen.
Das Material wurde vervollständigt. Da Marc am wenigsten Stauraum in seinem Boot hatte, galt es, äußerst platzsparendes und leichtes Material zu wählen. Er entschied sich dabei für ein leichtes nur 1,7kg wiegendes Zweimann-Zelt von sehr geringen Abmessungen. Das gleiche galt für alle anderen Utensilien. Nach zwei Monaten war die Ausrüstung vollständig. Jeder konnte nur zwei Gepäckstücke mit maximal 46 kg mitnehmen. Von vornherein war klar: ein Gepäckstück waren jeweils die Boote, das zweite der Rucksack mit allen persönlichen Sachen. Marcs Boot wog 21 kg, der Rucksack 24 kg. Bei seinen beiden Freunden war das Verteilungsgewicht etwas günstiger, da sich das Boot auf zwei Personen verteilte.
Sie bereiteten sich intensiv auf die Reise vor. Am Anfang benötigte Marc für das Aufbauen des Faltbootes fast 45 Minuten, zum Schluss nur noch 15 Minuten. Gepaddelt wurde nur noch mit den Faltbooten.
Die Generalprobe stand an. Als Fluss wählten sie die Durance in den Seealpen in Frankreich. Wasserwucht, Kiesbankschwälle, kleinere Verblockungen waren ideales Trainingsgelände. Marc merkte sehr schnell, dass seine Wahl in jedem Fall richtig war. Das Boot ließ sich hervorragend fahren, selbst mit Ballast. Er konnte es extrem auf die Kante legen, was mit dem riesigen Aerius schlichtweg nicht möglich war. Gerhard und Hartmut mussten erkennen, dass sie eine verblockte Engstelle mit wenig Wasser auf keinen Fall fahren konnten.
Endlich war es soweit, die Reise stand bevor.
Das Abenteuer beginnt
Flughafen Stuttgart, der Neubau des Terminals 3 war noch nicht abgeschlossen. Die drei Freunde mussten in den alten Hallen einchecken. Gerhards Frau Susanne hatte sie mit einem großen Kombi von Ulm zum Flughafen Leinfelden-Echterdingen gefahren. Im Land nur kurz L.E. genannt, dabei ausgesprochen wie das amerikanische L.A. Um 11.00 Uhr war Abflug, bereits um 8.30 Uhr stoppte der Kombi direkt am Eingang Abflug. Der Abschied war kurz und schnell, wobei Gerhard seiner Frau versprechen musste, sie nach Möglichkeit einmal in der Woche anzurufen. Währenddessen organisierte Marc zwei große Gepäckwagen für die Rucksäcke und Boote. Einchecken und Gepäckaufgabe geschah ohne Probleme.
Endlich im Flugzeug. Das Abenteuer konnte beginnen.
Zuvor stand aber noch zweimaliges Umsteigen in Frankfurt und Vancouver an. Ab Frankfurt ging es weiter im Jumbojet, sie saßen alle in gleicher Reihe. Marc am Gang, Gerhard in der Mitte und Hartmut am Fenster. Die Zeitzonen wurden passiert und das berühmte Jetlag entstand. Inzwischen war es dunkel geworden, die meisten Passagiere schliefen oder dösten. Marc konnte nicht schlafen, immer war er bei Reisen nervös, dieses Mal jedoch etwas mehr. So entschloss er sich zu ein bisschen Bewegung und erkundete das Flugzeug mit seinen zwei Etagen. Vor der Businessklasse wurde ihm der Zutritt verwehrt. Als er sich schon abwenden wollte, bekam er ein paar Wortfetzen von zwei Männern mit, die sich lautstark unterhielten und wohl nicht einer Meinung waren. Es schien um eine junge Frau zu gehen, der man habhaft werden wollte. Das machte ihn neugierig und er stellte sich unauffällig an einen Zeitungsständer, um mehr zu erfahren. Der ältere der beiden Männer schien der Vorgesetzte des etwas jüngeren Mannes zu sein.
Seine tiefe Stimme war schneidend und ließ keinen Widerspruch zu.
„Bekommen Sie das Problem endlich in den Griff? Oder muss ich mich darum kümmern. Ich habe endgültig genug von diesen Halbwilden …“
Der jüngere unterbrach ihn, „es ist aber nun mal ihr Land und wir zerstören es. Vielleicht sollten wir ihnen ein bisschen Entgegenkommen zeigen.“
Der Ältere wurde zornig.
„Entgegenkommen? Die haben hier Wald ohne Ende. Flächen so groß, dass man die Schweiz ein paar Mal hineinstecken könnte und dann leben dort eine Handvoll Menschen. Nein, das Maß ist endgültig voll, ich will eine Entscheidung. Keine Ausflüchte mehr, verstanden?“
Der Jüngere war sichtbar einige Zentimeter kleiner geworden, versuchte einzulenken.
„Soviel ich weiß ist die junge Frau, die Tochter von Littlefoot, mit ihrem Bruder jetzt in Jade City am Cassiar Highway, einem winzigen Ort mit nur zwanzig Einwohnern. Wir hätten alle Möglichkeiten. Ein Entkommen ist da nicht mehr möglich.“
Der Ältere dachte kurz nach, ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
„Tun Sie, was Sie tun müssen. Ich will eine endgültige Lösung.“
In diesem Augenblick fiel Marc eine Zeitung auf den Boden. Der jüngere der beiden Männer kam sofort zu ihm.
„Was machen Sie hier?“
Marc heuchelte Überraschung, antwortete in der deutschen Sprache, irritierte den Frager.
„Was haben Sie gesagt? Ich verstehe nicht, kann kein Englisch.“
Der winkte nur ab, begab sich zurück zu seinem Vorgesetzten, während Marc sich schnell zurückzog. Völlig durcheinander kehrte Marc an seinen Platz zurück.
War das jetzt ein Mordauftrag? Ich muss irgendwas unternehmen!
Er weckte seinen Sitznachbarn Gerhard und erzählte ihm von seinen Beobachtungen. Gerhard weckte wiederum Hartmut. Alle drei beratschlagten die weitere Vorgehensweise. Insbesondere Hartmut wiegelte ständig ab und verharmloste den Vorfall, er wollte auf keinen Fall die Reise gefährden.
Marc stand schließlich mit seiner Meinung alleine. Er konnte sich damit, alles einfach so zu lassen wie es ist, überhaupt nicht anfreunden. Zuerst musste er wissen, wo dieses Jade City lag. In seinem Reiseführer wurde er schnell fündig. Der winzige Ort lag ganz in der Nähe von Watson Lake, ihrem Reiseziel. Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. Natürlich, die beiden Männer wollen nach Watson Lake, dann ist die junge Frau jetzt in Jade City. Er nahm sich vor, nach Jade City zu gehen und die junge Frau zu suchen, egal was seine beiden Freunde dazu meinten.
In Vancouver angekommen, hielten sie sich fast drei Stunden im Flughafenbereich auf, um direkt den Anschlussflug nach Whitehorse zu nehmen. Whitehorse, ein moderner viel zu großer Flughafen für eine Stadt mit 18000 Einwohnern, ist eine Drehscheibe im äußersten Norden Kanadas. Dort angekommen suchten sie zuerst ihr gebuchtes Hotel auf.
Am Abend im Hotel beim Abendessen war Marc sehr einsilbig, während seine beiden Freunde dem Aufbruch förmlich entgegen fieberten. Marc dagegen beschäftigte vorrangig immer noch das Gespräch im Flugzeug, dessen Zeuge er geworden war. Am liebsten wäre er sofort nach Watson Lake aufgebrochen, doch ihr Bus fuhr erst am nächsten Morgen.
Hartmut ergriff schließlich die Initiative, sein Desinteresse bereitete ihm Sorge. Jedoch interpretierte er dies vollkommen falsch. Hartmut dachte eher an einen Rückfall von Marc.
„Mensch Marc, freust du dich nicht auf die Tour. Was ist los? An was denkst du?“
Marc schreckte aus seinen Gedanken auf, er wollte seine beiden Freunde nicht beunruhigen.
„Klar freu ich mich, ich bin nur ein bisschen müde. Wann fährt der Bus?“
Der Bus, ein Greyhound, brauchte knapp sechs Stunden bis Watson Lake. Früh am Morgen fanden sie sich am Busbahnhof ein. Ein typischer silbergrauer Bus stand vor ihnen, das Logo des rennenden gestreckten Hundes an der Front aufgemalt. Das Gepäck verschwand im riesigen Stauraum des Busses. Die Fahrt war sehr entspannend und der Bus selbst außerordentlich komfortabel mit viel Fußraum. Die Fahrtstrecke ging über den berühmten Alaska Highway Nr. 1. Auf freier Strecke stoppte der Bus plötzlich.
Über Lautsprecher drang die Stimme des Busfahrers krächzend durch das Mikrofon: „Sehr geehrte Fahrgäste, leider müssen wir eine nicht geplante Zwangspause einlegen, eine große Herde Karibus wird gleich den Highway kreuzen. Wer will, kann fotografieren.“ Schon schwang die Tür auf die Seite und die ersten Fahrgäste liefen ins Freie. Marc und seine Freunde mit gezückten Fotoapparaten hinterher.
Die ersten Tiere traten vorsichtig aus dem Wald, so als ob sie sich zuerst überzeugen wollten, ob die Straße auch tatsächlich frei war. Drei prächtige Exemplare, eines davon besonders groß mit braunem Fell und heller fast weißer Halskrause betraten die Straße und … blieben stehen. Alle drei besaßen riesige Geweihe mit gewaltigen Schaufeln an den Enden. Bei den Fahrgästen surrte und klickte es ununterbrochen. Was für ein Schauspiel, als auf breiter Front hunderte von Tieren den Wald verließen und den Leittieren folgten. Die setzten sich gemächlich in Bewegung und verschwanden im lichten Wald auf der anderen Seite der Straße. Eine gewaltige Staubwolke hüllte die Tiere ein, ein nicht endend wollender Strom querte den Highway, wahrscheinlich waren es Tausende. Fast alle Fahrgäste waren ausgestiegen, um sich dieses einzigartige Spektakel anzusehen.
Für Marc und seine Freunde sollte dies das einzige Mal bleiben, bei der sie eine solche Anzahl zu Gesicht bekamen. Im weiteren Verlauf der Fahrt trottete eine Braunbärenmutter mit zwei Jungtieren gemächlich über die Fahrbahn, auch hier musste der Bus stoppen, nur durfte dieses Mal keiner der Passagiere den Bus verlassen.
Nach jeder dieser Unterbrechungen stieg der Lautstärkepegel im Bus stark an, gekrönt durch eine Ansage des Busfahrers: „Sehr geehrte Fahrgäste, wollen Sie Wild Life sehen, fahren Sie mit dem Greyhound und Sie sehen jedes Mal Tiere, versprochen!“ Endlich, nach sechs Stunden Fahrzeit erreichten sie ihr Hotel in Watson Lake.
Shonessi
Hier hatten sie einen zusätzlichen Tag Aufenthalt geplant, um sich zu akklimatisieren. Marc jedoch packte noch nicht einmal seine Sachen aus, sondern orderte über die Hotelrezeption einen Mietwagen und fuhr mit diesem ohne sich mit seinen Freunden abzusprechen die fast 100km bis Jade City. Der Ort bestand im Prinzip aus zwei Geschäften, deren einer Produkte aus Jade verkaufte.
Marc stürmte in den ersten, fragte die Verkäuferin zu der von ihm gesuchten Person aus. Die konnte ihm jedoch nicht weiterhelfen. Hoffnungslosigkeit übermannte ihn.
War wohl doch eine Schnapsidee, hierher zu fahren und nach einer Frau zu suchen, von der ich nichts weiß.
Er überlegte nochmals, wie er fragen sollte und machte sich wenig zuversichtlich auf in den zweiten Laden. Am Tresen stand eine ältere Frau, die ihn beim Betreten sogleich freundlich begrüßte.
„Hallo, wie kann ich Ihnen helfen?“
Marc räusperte sich, „ich suche eine junge Frau indigener Abstammung, die aber nicht von hier ist. Haben Sie eine solche Frau hier gesehen?“
Die Frau schaute den jungen Mann verständnislos an. Sie konnte wohl mit dem Ausdruck „indigen“ nichts anfangen, wahrscheinlich falsch übersetzt, dachte er bei sich. So versuchte er es erneut.
„Sorry, ich meine eine junge Frau der First Nations.“
Noch immer reagierte sie nicht, im Gegenteil, misstrauisch fragte sie ihn: „warum suchen Sie diese Frau?“
Marc sah ein, dass er wohl etwas mehr sagen musste, er überlegte und sprach dann leise weiter.
„Sie schwebt in großer Gefahr! Ich muss sie unbedingt warnen, ich will sie schützen. Bitte glauben Sie mir. Haben Sie diese Frau gesehen?“
Die Frau schwieg und blickte Marc lange genau an, seine Augen bettelten um Hilfe.
„Kennen Sie diese Frau?“, wollte sie wissen. Er schüttelte den Kopf.
„Nein, ich habe nur unabsichtlich ein Gespräch belauscht. Und da haben zwei Männer sie bedroht. Ich habe keine Ahnung, wer diese Frau ist, geschweige denn, wie sie aussieht.“
Für die Frau eine unglaubliche Geschichte. Aber warum sollte er lügen? Sie überlegte, lächelte ihn breit an.
„Dann gehen Sie mal da hinten in den rechten Gang zwischen den Regalen, das müsste sie sein.“
Er bedankte sich, wollte noch wissen, ob ihr hier Männer aufgefallen waren, die sich auffällig benahmen und ebenfalls Fragen stellten. Das verneinte sie. Sie meinte nur, bei den vielen Touristen passe sie nicht mehr auf. Er ging schnell in den hinteren Bereich des Ladens und sah vor sich eine zierliche höchstens 165 cm große junge Frau mit glatten langen schwarzen Haaren, die ihr weit über die Schultern, fast bis zur Hüfte fielen. Bekleidet war sie mit einer Jeans und einem eng anliegenden langärmligen dunkelgrünem Sweatshirt. Er verlangsamte seinen Schritt und trat an sie heran.
„Verzeihen Sie bitte, dass ich Sie anspreche …“
Sie drehte sich zu ihm um, Marc konnte seinen Satz nicht mehr zu Ende reden. Er stockte, schluckte. Rehbraune Augen schauten zu ihm auf, ein offenes freundliches Lächeln empfing ihn und er hörte eine glockenhelle Stimme. „Ja bitte, was gibt es denn?“
Noch immer bekam er kein Wort heraus. Wie alt mochte sie sein? Höchstens Anfang zwanzig. Ihn faszinierten diese makellosen ebenmäßigen Gesichtszüge, die schmalen sehr markanten Augenbrauen, eine zierliche wohlgeformte Nase und ein sanft geschwungener Mund. Er konnte kaum glauben, dass vor ihm eine 'Indianerin' stand, sie hätte eher als Model durchgehen können. Die indigene Abstammung war wohl erkennbar.
Was für eine schöne Frau!
„Halloo, was ist, was wollen Sie von mir?“
Das langgezogene 'Hallo' ließ ihn erwachen.
„Entschuldigung, es war nicht meine Absicht, sie so anzustarren. Kennen Sie einen Littlefoot?“
Jetzt bekam sie große Augen. Ihr Lächeln verschwand. Was wollte dieser Mann von ihr, der nach seiner Aussprache kein Kanadier war.
„Ja, das ist mein Vater. Aber woher wissen Sie?“
Sie war es tatsächlich. Er hatte sie gefunden.
„Entschuldigung. Ich habe ein Gespräch belauscht, es ging um eine junge Frau der First Nations, die…“
Er brach ab, wollte nichts Falsches sagen, nichts dramatisieren. Aufmerksam, gespannt wartete sie.
„…die sie, …die sie…“
Marc stockte, sie wurde ungeduldig.
„Was? Nun reden Sie schon!“
„Die wollten Ihnen was antun, hier in Jade City, was weiß ich nicht. Ich habe das Schlimmste befürchtet, wollte das einfach verhindern. Dabei ist auch der Name von Littlefoot gefallen. Deswegen bin ich nach unserer Ankunft in Watson Lake auch sofort losgefahren, um Sie zu suchen.“