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„Tee, gut und gesund.“ Sprach´ s und gab die Kräuter in den Kessel. Der Fisch wurde aufgeteilt, schmeckte allen vorzüglich. Ahmik zollte Hartmut Respekt, der den Fisch zubereitet hatte. Nach dem Essen wandte sich Gerhard an Hartmut. Sie zogen sich auf den höchsten Punkt der Insel, auf den Felsen, zurück. Ahmik blieb am Feuer und Shonessi und Marc saßen im Sand, direkt am Fluss.
Nur widerwillig folgte Hartmut Gerhard, er machte sich Luft. Mit grimmigem Unterton und zutiefst gekränkt schleuderte er Gerhard die Worte ins Gesicht:
„Was willst du? Du bist mein Freund, das dachte ich bis jetzt jedenfalls. Ihr habt alles zerstört. Insbesondere Marc. Er ist doch dieser Schlampe verfallen. Langsam verstehe ich die Amerikaner. Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer…“
Gerhard sah den Hass im Gesicht von Hartmut.
„Hartmut, ich verstehe dich nicht. Er hat sich verliebt, ich denke, sie liebt ihn auch. Beide haben dir nichts getan. Wir sollten uns über Marc freuen.“
„Ha, nichts getan? Er hat mir Ella weggenommen. Sie ist eine Hure, hat unsere Freundschaft zerstört, wird Marc vernichten. Das weiß ich! Wie lange kennen sie sich? Zwei Tage, zehn Stunden? So ein Schwachsinn. Am liebsten würde ich sie… Nein, ich sage es lieber nicht.“
Gerhard änderte die Taktik.
„Mal angenommen, sie wäre auf dich eingegangen und die wärst in der Rolle von Marc. Würdest du dann auch so denken?“
Er blickte Hartmut dabei genau an. Der schwieg, stierte auf den Boden.
„Ist sie aber nicht. Die fasse ich nicht mal mit der Kneifzange an. Verrecken soll sie …“
Er stand ohne ein weiteres Wort zu verlieren auf und verzog sich in sein Zelt.
Gerhard ging nachdenklich zurück zum Feuer und zu Ahmik, er bekam es unterschwellig mit der Angst zu tun. Er musste sich mit jemandem austauschen. Marc auf keinen Fall, blieb nur noch Ahmik.
„Hi, Gerry. Du siehst bedrückt aus. Willst du reden?“
Gerhard nickte. Er erzählte ihm von seiner Unterhaltung mit Hartmut, von seinen Ängsten Shonessi betreffend.
„Danke für dein Vertrauen zu einem 'Indianer', der Hass ist groß bei ihm. Wir müssen achtsam sein. Solange ich bei ihm schlafe, wird er nichts unternehmen. Noch hat er zu viele Hemmungen. Wenn diese Schwelle fällt, dann wird es gefährlich. … Halte bitte die Küchenmesser gut unter Verschluss.“
„So schlimm?“
„Sicher ist sicher.“
Shonessi und Marc bekamen von diesen Gesprächen nichts mit. Sie hatte sich dicht an ihn gekuschelt. Ihr Kopf lag auf seiner Schulter, beide schauten verträumt in den sternenklaren Himmel.
„Lakota?“
„Mhmm?“
„Ist Deutschland schön? Wo lebst du, in einer Stadt? Erzähl mir von deinem Leben.“
Marc zog Shonessi noch fester an sich.
„Ja, ich lebe in einer Stadt, für eure Verhältnisse hier eine sehr große Stadt…“
„Größer als Yellowknife?“
„Ja, bestimmt siebenmal so groß. Sie liegt im Süden von Deutschland, die Stadt heißt Ulm. Direkt an einem schönen Fluss. Hast du schon einmal von der Donau gehört?“
Sie schüttelte den Kopf, auch Ulm sagte ihr nichts.
„Die Donau ist noch länger als der Yukon…“
Shonessi unterbrach ihn, „ich kenne in Deutschland nur drei Städte, das sind Berlin, Frankfurt und München. Ist eine davon in der Nähe von deiner Stadt?“
„Ja, München.“
„Wie weit weg?“
„Ungefähr einhundertdreißig Kilometer…“
„Mehr nicht? Das liegt ja direkt daneben.“
„Äh, ja. … Nein, nicht ganz. Für dich ist das direkt daneben. Für uns nicht. Weißt du, Deutschland ist klein, noch nicht einmal halb so groß wie British Columbia. Das kann man so nicht vergleichen. Du musst es einfach kennenlernen. Wir haben viel Wald, Wasser, Berge und Städte.“
„Ja, das möchte ich sehr gerne, Lakota. Ich will mit dir zusammen sein, will mit dir leben. Ich liebe dich. Wir gehören zusammen“, sie blickte in den Himmel und zeigte auf die Sterne, „wie diese beiden sich anleuchtenden Sterne. Siehst du das?“
Marc verschlug es die Sprache. Was für ein Gleichnis!
„Lakota? Was fühlst du?“
„Was ich fühle? So … ich kann es gar nicht sagen. … Ich versuche es.“ Er sah sie dabei direkt an, ihre braunen Augen schienen zu leuchten. „Shonessi, ich fühle sie, deine Liebe zu mir. Wenn ich dir in die Augen sehe, tauche ich tief in dein Innerstes hinein. Wenn du mit mir sprichst, bekommt deine Stimme eine andere Klangfarbe. Wenn du mich berührst, fühle ich deine Zärtlichkeit in jeder Fingerspitze. Wenn du…“
„Ohh, Lakota, hör auf. Das halte ich nicht aus. So hat mit mir noch kein Mann gesprochen. Genau das will ich dir geben, Tag für Tag. Ich liebe dich, wie eine weiße Wölfin ihren weißen Wolf. Sie lassen sich nie im Stich.“
Marc war etwas verwirrt, „der weiße Wolf?“
Sie nickte, „die weiße Wölfin und der weiße Wolf sind unzertrennlich, wenn wir Menschen an sie glauben, beschützen sie uns, helfen uns aus hoffnungslosen Lagen.“
„Ist das so? Bisher habe ich an so etwas…“
„Pscht, Lakota. Lass dich darauf ein. Das ist uralt. Wir Kinder wachsen damit auf. Glaub mir, eines Tages wirst auch du den weißen Wolf brauchen und ihn sehen.“
Sie lächelte ihn dabei so überzeugend an, dass er nickte und einfach fortfuhr.
„Lass mich deine Frage wenigstens noch beantworten. Ich bin so glücklich … mit dir! Auch ich möchte mit dir mein Leben verbringen. Egal wo, hier oder in Deutschland, das ist mir egal.“
„Du redest wie ein First Nation, könntest einer von uns sein mit deinen Vergleichen. Mit mir wirst du einer von uns, daran glaube ich fest. Dann wirst du auch an die weißen Wölfe denken.“
Das hatte er schon wieder verdrängt, zu fremd für ihn die Vorstellung an Wölfe zu glauben. Das kannte er nur unter Aberglauben. Shonessi las ihm seine Gedanken in den Augen ab. Sie lächelte, sprach leise, „eines Tages wirst auch du es verstehen.“
Er drehte sich zu ihr, konnte seine Augen nicht von ihr lassen. Dieser Augenblick brannte sich in sein Gehirn ein, unauslöschlich. Sie lächelte nicht mehr, war ernst, ihre Augen strahlten eine Zuneigung aus, die ihn bannte. Er beugte sich zu ihr, seine Lippen berühren die ihren, ein nicht endend wollender Kuss beglückte ihn bis in sein tiefstes Inneres.
Ohne ein Wort zu sagen, erhob sie sich, ging zum Wasser, bis dieses ihre Fußspitzen berührte. Sie breitete die Arme aus, begann wie an den heißen Quellen mit einem Singsang, drehte sich dabei. Nur diesmal sehr leise und sich immer weiter steigernd bis hin zu einer unendlichen Harmonie, dann plötzlich abbrechend und mit noch leiseren Tönen beginnend sich dreimal wiederholend. Sie drehte und wirbelte, stützte sich endlich mit beiden Armen an einen Baum, legte den Kopf in den Nacken, dass ihre langen schwarzen Haare bis zu den Hüften fielen. Hob das linke Bein im Stile einer Balletttänzerin so gewinkelt an, dass ihre Fußspitze die Haarspitzen berührte. Ihre Stimme verhallte über dem Fluss, die Natur schien den Atem anzuhalten. Ein Zauber lag flirrend in der Luft, eine leichte Brise wehte über sie hinweg und ließ ihre Haare fliegen. Scharf geschnitten, einem Schattenriss gleich hob sie sich vor dem Hintergrund der orangeroten Sonne ab, ihr Körper wirkte dabei grazil und anmutig. So verharrte sie einige Sekunden, drehte sich langsam in den leicht auffrischenden Wind hinein: 'Der Tanz mit dem Wind'.
Hartmut schlug die Augen auf, er konnte nicht schlafen. Da hörte er diese Stimme, er streckte den Kopf aus dem Zelt und hörte fasziniert zu. Nachdem die Stimme verstummte, ballte er die Fäuste, sein Gesichtsausdruck nahm den einer unnatürlichen Fratze an.
Ahmik und Gerhard waren ebenfalls gekommen und setzten sich neben Marc in den Sand um zu lauschen. Auch Gerhard war gefangen von dieser Stimme, für ihn unvergesslich. Mit einem „Gute Nacht“ verabschiedeten sich Shonessi und Marc Richtung Zelt. Ahmik blickte ihnen nachdenklich hinterher. „Gerry, so habe ich meine Schwester noch nicht erlebt.“
„Ja? So etwas habe ich auch noch nie erlebt, das werde ich niemals vergessen. Dieser Gesang und der Tanz dazu, unglaublich.“ Er unterbrach kurz, „die beiden haben sich gesucht und gefunden. Ich glaube, das war Schicksal.“
Ahmik nickte, beide gingen ebenfalls in ihr Zelt. Die Nacht war kurz. Früh am Morgen, nach einem kräftigen Frühstück setzten sie ihre Tour fort und erreichten bereits am Nachmittag den Campingplatz an den Virginia Falls.
Weiße Wasser
Der Campingplatz war sehr komfortabel ausgestattet, mit hölzernen Podesten, Tischen und Sitzbänken. Sie waren die einzigen Gäste, entschlossen sich aber, die Zeit zu nutzen und noch am Nachmittag die Ausrüstung und Boote um die Fälle zu tragen. Der Weg selbst war hervorragend ausgebaut, bestehend aus eng aneinander gefügten Holzplanken. Dennoch galt es 140 Höhenmeter und 1,5km Weglänge zu meistern. Zweimal mussten sie gehen, bis schließlich alles Material unterhalb des Wasserfalls abgelegt werden konnte. Beim zweiten Weg wollten doch alle wenigstens einmal einen Blick auf die Fälle werfen.
Die Virginia Falls sind die höchsten Wasserfälle Kanadas und mit 96m doppelt so hoch wie die Niagarafälle. Direkt hinter dem Campingplatz war der Fluss noch ruhig. Die Wasserfallstrecke beginnt kurz darauf mit kleineren Stufen und Kaskaden, dann erst folgt der Wasserfall und stürzt über die Abbruchkante fast 100m in die Tiefe. Gewaltige Wassermassen verursachen ein Donnern, das aus großer Ferne hörbar ist.
Sie bogen von dem Plankenweg auf einen Pfad, der zwar eng, aber gut begehbar war. Ahmik ging voraus. Hartmut folgte als letzter. Folgte man seinen Blicken, schien ihn die Natur in keiner Weise zu interessieren. Sein Blick hatte nur ein Ziel: Shonessi. Sein Hass galt nur noch ihr, nicht Marc, der ihm Ella weggenommen hatte, denn sie nahm ihm jetzt auch seinen Freund, zerstörte ihren gemeinsamen Traum.
Der Wald hörte auf, vor Marc war eine kahle Felsnadel zu erkennen. Er nahm Shonessi an die Hand, gemeinsam betraten sie Felsnadel, Ahmik machte kurz Platz. Das Donnern der Wassermassen war so laut, dass man sich allenfalls schreiend verständigen konnte.
Was für ein Panorama: Weißes Wasser, Gischt, Nebelschwaden. In der Mitte des Falles ein riesiger turmhoher spitz zulaufender Felsenkoloss, der den Fall in zwei Hälften teilte. Die Sonne ließ das Wasser leuchten wie glitzernde Kristalle. Ein Regenbogen spannte sich über den Fluss.
„Schade, dass wir das nicht unbeschwert genießen können.“
Marc war anderer Ansicht, „doch, genieße es. Nimm es auf und halte es in deinen Gedanken fest.“
Marc ließ Shonessi los, ging zu Ahmik und drückte ihm seinen Fotoapparat in die Hand.
„Bitte Ahmik, mach ein Bild von Shonessi und mir, oder besser zwei.“
Auch Gerhard ließ sich noch fotografieren, einmal allein. Er wollte jedoch unbedingt ein Bild mit Marc und Shonessi. Beide Männer nahmen die zierliche Frau in die Mitte.
Marc und Shonessi kletterten noch ein Stück den Hang hoch und setzen sich, um still den Wasserfall jetzt in diesem Augenblick genießen zu können. Shonessi blickte verträumt auf die weiße Wucht. Marc schaute zur Seite, der Wasserfall wurde uninteressant, ihr Profil zog ihn in seinen Bann. Was für eine Schönheit sie doch war: Wie Seide schimmerten ihre fast schwarzen Haare im Sonnenlicht, ihre hohe Stirn, die ebenmäßige gerade Nase und die etwas volleren Lippen ihres Mundes zogen seinen Blick magisch an.
Sie lachte und drehte ihren Kopf zu ihm hin, „wolltest du nicht den Wasserfall anschauen?“
„Wollte ich auch. Aber als ich das Panorama rundum in Augenschein genommen habe, bist du mir ins Bild gekommen. … Da musste ich einfach hängenbleiben. Ich komme an dir nicht vorbei. Geht nicht!“
„Schön hast du das gesagt. Davon kann ich nicht genug bekommen.“ Sie lachte.
Ahmik war plötzlich neben ihnen.
„Ich will euch nur ungern unterbrechen. Aber wir sollten dringend weiter. Spätestens Morgen wird das Flugzeug wieder kommen.“
Widerwillig machten sie sich auf den Weg zu den Booten.
„Jetzt folgt der vierte Canyon, der sogenannte 'Painted Canyon', ist nur acht Kilometer lang. Den sollten wir in jedem Fall heute noch meistern.“
Marc hatte wieder das Kommando übernommen. Sie bestiegen ihre Boote, das Wasser war jetzt nicht mehr braun, sondern hatte eine graue Farbe. Der Wasserstand war bereits spürbar gesunken. An den Ufern wurden langsam die Kiesbänke wieder sichtbar. Flott ging es flussabwärts. Viele kleine Stromschnellen brachten nicht nur Abwechslung, sondern einen Hochgenuss. Marc ließ Shonessi viel üben. Sie war fleißig und stellte sich geschickt an. Er konnte fühlen, dass es ihr immer mehr Spaß machte. Schon nach einer halben Stunde hatten sie den Canyon passiert. Gerhard hatte einen schönen Übernachtungsplatz neben einem kleinen Bach entdeckt. So hatten sie klares Wasser, dieses Mal sogar einen moosbewachsenen Untergrund, sehr gut geeignet als Boden für die Zelte.
Jeder ging seinen Aufgaben nach. Ahmik wollte was Besonderes fangen und kletterte den Bachlauf hinauf. Gerhard inspizierte die Lebensmittel und kam breit grinsend zu dem Schluss, dass diese ausreichend seien und noch über eine Woche halten würden. Hartmut sammelte Holz, musste dafür weite Wege gehen, Marc half ihm dabei. Doch heute kam Ahmik mit leeren Händen zurück. Hartmut weigerte sich zu kochen, hielt sich von allen abseits.
Nach dem Essen. Ahmik saß am Ufer, warf Steine ins Wasser. Marc ging langsam auf ihn zu und blieb seitlich von ihm stehen.
„Darf ich mich zu dir setzen?“
Mit einer Handbewegung forderte er Marc auf, sich hinzusetzen. Schweigend saßen sie einige Minuten nebeneinander, bis Ahmik die Initiative ergriff.
„Wenn du etwas von mir willst, dann sag es.“
„Ahmik, ich liebe deine Schwester. Ich will dich nicht zum Feind haben.“
„Shonessi liebt dich auch, ich will dir nur eins sagen: sie ist sehr spontan und sehr flatterhaft. Hat sich bis jetzt noch nie an jemanden binden können. Ich kann dich noch nicht akzeptieren.“ Er lächelte Marc zum ersten Mal an. „Du machst dich aber ganz gut. Shonessi hat mir erzählt, wie du deine Verfolger auf dem Highway ausgetrickst hast, das war sehr gut. Mein Respekt.“
„Ich hatte auch Glück.“
„Mag sein. Das gehört mit dazu, noch mehr aber ein klarer Kopf und Cleverness. Und hier auf dem Fluss scheinst du ja ein Ass zu sein.“
„Ahmik, ich habe Angst um Shonessi. Schau mal, mit was für einem Einsatz die uns suchen. Nur verstehe ich nicht, warum Shonessi und nicht dich?“
„Das ist einfach, ich habe mich an dem Widerstand bisher nicht beteiligt.“
„Wie, ich verstehe nicht.“
„Kannst du auch nicht. Dann pass mal auf.“
Er erzählte von dem Widerstand seines Vaters gegen den Glenconan Konzern, von dem Kahlschlag der riesigen Wälder in der Nähe von Yellowknife und dem Widerstand der Bewohner. Shonessi hatte sich ohne Wenn und Aber der Bewegung angeschlossen und war trotz ihres jugendlichen Alters zu einer wichtigen Leitperson geworden. Er, Ahmik, hatte sich aus allem bisher herausgehalten.
„Das ist meine Geschichte, ich bin kein Held und will auch keiner sein. Die sterben nämlich immer alle viel zu früh.“
„Ahmik, das ist für mich in Ordnung, jeder muss für sich selbst entscheiden …,vielleicht könnten wir ja doch Freunde werden. Lass es uns wenigstens versuchen.“
„Okay, einen Versuch ist es wert.“
Shonessi hatte sich abseits auf eine kleine Halbinsel gesetzt. Sie wollte nachdenken. Sie dachte an Marc, den sie nur Lakota nannte.
Liebe ich ihn wirklich? Oder ist es mal wieder eine Anfangseuphorie wie bisher immer?
Sie legte sich flach auf den Kies und kaute dabei an einem kleinen Zweig.
Hartmut schob die Zweige leise auf die Seite. Direkt vor ihm, auf dem Rücken lag sie, sein Alptraum. Prüfend schaute er den Fluss hinauf. Ahmik und Marc waren weit weg und Gerhard schlief bereits. Auf diese Gelegenheit hatte er lange gewartet. Mit einem Mal sprang er aus der Deckung des Unterholzes, packte Shonessi von hinten an den Haaren und betäubte sie mit einem gezielten Schlag auf den Kopf. Er griff ihr unter die Achseln und zog sie ins Unterholz, riss ihr das T-Shirt vom Leib und versuchte ihr die Jeans auszuziehen.
Shonessi erwachte, sah Hartmut über sich und wollte schreien. Der hielt ihr den Mund zu und versuchte seinen Stock zu greifen, mit dem er schon einmal zugeschlagen hatte. Shonessi biss ihm in die Hand, er schrie auf, richtete sich gleichzeitig auf.
„Ich bring dich um, du verdammte Schlampe.“
„Hast du das gehört, war das nicht ein Schrei?“
Beide lauschten, nichts geschah.
„Gott sei Dank war es keine Frauenstimme.“
„Wahrscheinlich nur ein Kauz.“
Marc setzte sich wieder hin
Doch die Hand war weg vom Mund und so schrie sie aus Leibeskräften.
„Hilfe, Hiilfee, Lakota, hilf mir!“
In diesem Augenblick drückte Hartmut ihr auf den Mund und begann sie mit der anderen Hand zu würgen.
Marc schnellte hoch, rannte ohne auf Ahmik zu achten, sofort in Richtung des Hilferufes.
Das kann nur einer sein, Hartmut. Wehe, du hast ihr etwas angetan. Ich bring ihn um.
Er blieb stehen um zu lauschen, hörte links neben sich das Knacken von Ästen und das Rascheln von Laub. Sprang mit einem Satz ins Unterholz, erkannte Hartmut, umklammerte ihn ohne Vorwarnung am Hals und drückte zu. Hartmut strampelte, versuchte sich zu befreien. Marc zog ihn aus dem Unterholz auf den Strand und warf ihn in einer Drehung auf den Boden.
Shonessi hielt sich den Arm vor die nackte Brust, ihr Gesicht war zerkratzt. Auch Ahmik war inzwischen eingetroffen und versetzte Hartmut einen heftigen Faustschlag ins Gesicht. Schließlich kam noch Gerhard mit hinzu.
„Lakota, kümmere dich um Shonessi“, Ahmik nannte ihn tatsächlich Lakota! Welche Ehre. Marc umfasste Shonessi und trug sie zum Zelt.
„Bring mich doch um, los töte mich, du roter Hund.“ Hartmut war wie von Sinnen, „hast dich jetzt auch mit denen verbrüdert, … Geerrry. Du bist auch nicht besser. Seid froh, dass ich keine Waffe habe. Ich würde euch alle erschießen.“
„Was machen wir mit ihm?“
„An einen Baum binden, dann hat er ein bisschen Zeit zum Nachdenken. … Und wir können ruhig schlafen. Wir entscheiden Morgen, was wir machen.“ So taten sie es.
Am nächsten Morgen holten Sie Hartmut zum Frühstück, ließen ihn aber an den Händen gefesselt. Shonessi ging ohne eine Gefühlsregung zu ihm und verpasste ihm eine kräftige Ohrfeige, wollte anschließend nochmals zuschlagen. Doch Marc hinderte sie daran.
„Warum schützt du ihn, er wollte mich vergewaltigen und anschließend wahrscheinlich töten. Ich habe das Recht …“
Marc erschrak über ihren Ausbruch, schob es auf den Schock. Er packte sie an den Schultern, schüttelte sie und nahm sie sofort in den Arm, hielt sie fest. Sie entkrampfte, fing hemmungslos an zu weinen. Er versuchte sie zu trösten, streichelte ihr Haar.
„Lass mich nie mehr allein, hörst du? Nie mehr!“ Leise waren die Worte. „Das verspreche ich dir, ich schwöre es im Beisein meines Freundes Gerry und deines Bruders Ahmik.“
Noch immer hielt er sie im Arm. Gerhard konnte es noch immer nicht fassen, dass Hartmut zu einer solchen Tat fähig war, deshalb kam auch der entscheidende Vorschlag von ihm.
„Wir fahren ohne ihn weiter. Er bekommt das Kanu, mein Zelt, Lebensmittel und ein Paddel. Mit dem Kanu ist er wesentlich langsamer als wir. Der Aerius ist für drei bis vier Personen ausgelegt, den übernehme ich oder Lakota“, er machte eine kurze Pause und lächelte dabei. Auch er nannte Marc 'Lakota', fuhr fort, „mit den Faltbooten sind wir mindestens zwei Tage früher am Ziel. Dann melden wir den Vorfall der Polizei.“
Sie banden Hartmut so an einem Baum fest, dass er sich allein befreien konnte. So hatte er keine Chance, mit ihnen gemeinsam los zu fahren.
Ein riesiger Kochtopf
Frühzeitig waren sie auf dem Wasser. Marc hielt sein Versprechen, er saß mit Shonessi und Ahmik im großen Aerius, wobei sie zum Nichtstun verurteilt war, was ihr überhaupt nicht behagte.
„Ahmik, wir erreichen bald 'Hells Gate', die schwerste Stelle im unteren Bereich des Nahanni. Der Wasserstand ist immer noch ziemlich hoch. Konzentrier dich auf Gerry, er wird den richtigen Weg finden.“
„Lakota, ich will auch paddeln.“ Sie schmollte.
„Shonessi, wir wechseln heute Nachmittag, dann kannst du paddeln. Einverstanden?“
„Ja…ah.“ Den Blick, den sie ihm dabei im Umdrehen zuwarf, brachte ihn fast aus dem Konzept. Von weiter Ferne konnten sie schon die Engstelle erkennen. Bedrohlich rückten die hohen senkrechten Felswände zueinander. Der Fluss hatte sich hier wie mit einer Säge durchgefressen. Direkt in der Durchfahrt schien eine riesige Felsnadel zu stehen. Das Wasser wurde unruhiger, begann zu brodeln. Glucksend und zischend schien es an den dünnen und empfindlichen Häuten der Faltboote zu saugen. Marc war auf das äußerste konzentriert. Erst vor einiger Zeit waren hier zwei Kanus gekentert und die Kanuten beider Boote ertrunken. Doch es war keine Stromschnelle, der Begriff 'Kochtopf' wäre passender gewesen. In dem runden, von bis zu 460m hohen senkrechten Felswänden umschlossenen Kessel brodelte, kreiste und strudelte das Wasser, schwappte laut klatschend gegen die Felswände, brandete zurück. Shonessi drehte sich mit ängstlichen Blicken zu Marc.
„Lakota, ich habe Angst.“ Hilflos schaute sie ihn an.
„Musst du nicht haben, alles ganz harmlos. Ich lass dich nicht allein. Wir schaffen das!“
Die Hauptströmung beschrieb eine riesige Acht. Baumstämme und Treibholz kreisten auch hier im wieder schlammigen Wasser, tauchten unter, schossen wieder an die Oberfläche, drehten sich, stießen gegen Felswände.
Marc war sofort klar, wer hier kentert, hat nicht nur ein Problem, er ist verloren. Zwei riesige Kehrwasser, Strudel und Wasserpilze vor Prallwänden verhinderten jedes Anlanden. Und wieder blickte Shonessi zu ihm, diesmal umspielte ein Lächeln seinen Mund. Gerhard hatte den richtigen Weg gefunden, gut fahrbar und ohne viel Risiko, direkt in der Strömung. Sicher gelangten sie durch die nur 30m breite Engstelle. Jetzt konnte auch Shonessi wieder lächeln. Hier begann nun der über 60km lange dritte Canyon.
Sie kamen zügig voran, am Ende des Tages schlugen sie ihr Camp am Ausgang des Canyons auf. Dieses Mal kümmerte sich Marc um das Holz und das Feuer, Ahmik ging fischen, Shonessi und Gerhard bereiteten das Essen vor.
„Sag, Gerry, hat Lakota wirklich keine Freundin?“
Gerhard schüttelte den Kopf. „Nein, hat er nicht. Er hat harte Zeiten hinter sich. Du tust ihm mehr als gut, er liebt dich. Ich kenne ihn schon seit Jahren. Er ist ein ganz treuer. Du kannst ihm vertrauen. Er wird dich niemals im Stich lassen.“
„Und du?“
„Ich, oh ich bin verheiratet, habe zwei süße Kinder. Junge und Mädchen. Und ich vermisse meine Frau. Ich wünschte, sie wäre bei mir. Gerade jetzt, wo das mit Hartmut passiert ist. … Ich verstehe ihn einfach nicht. Gut, ein bisschen vielleicht. Marc hat ihm damals seine Freundin ausgespannt. Er wusste aber nichts davon, sie ist, wie du weißt, tödlich verunglückt. Ich versteh nur nicht, was das mit dir zu tun hat. Schon am Anfang, als er dich zum ersten Mal in Watson Lake gesehen hat, war er so komisch. Ich habe dem nur keine Bedeutung beigemessen.“
„Danke, dass es dich gibt und bleib bitte ein guter Freund von Lakota.“
„Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen.“
Es knackte im Unterholz, Shonessi schreckte auf. Marc kam mit einem Arm voll Holz zum Lagerplatz. Er hatte sehr wohl bemerkt, wie sehr sich Shonessi erschrocken hatte. Nachdem Ahmik auch mit den Fischen kam, war der Abend gerettet.
Auf dem Lagerplatz am Bach. Hartmut hatte sich befreit, war aber nicht weitergefahren. Er wartete ab, schmiedete den ganzen Tag Rachepläne. Früher Abend, Motorengeräusch. Erst war nur ein leises Brummen wahrnehmbar, je näher es kam, desto lauter wurde der Lärm. Hartmut ging zum Fluss und blickte aufmerksam flussaufwärts. Erst sah er nur einen kleinen Punkt, der schnell größer wurde. Es war ein Hubschrauber, kein Flugzeug.
Viel besser. Meine Rache kann beginnen.