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Ihre Stimme hatte den gleichen Klang wie damals, als sie ihn wegen des Unfalls angerufen hatte. Oder als sie ihm gesagt hatte, dass sein Vater gestorben sei.
„Es geht um Miss Everleigh, mein Junge. Sie ist gestorben.“
„Miss Everleigh? Wann?“, fragte Bruno und schaute aus dem Fenster, während ihn der Coach ins Haus winkte. Doch statt auszusteigen, legte er den Kopf aufs Lenkrad.
Er hatte gerade ein Stück seiner Kindheit verloren, das ihm heilig war. Die Frau mit dem engelsgleichen Gesicht hatte sein ganzes Leben lang gegenüber gewohnt. Die Frau im Memory House – wie er es als Kind genannt hatte – hatte ihm beigebracht, wie man Chocolate Chip Cookies backt, Marshmallows grillt und die Arche Noah aus Eisstielen bastelt.
In dem weitläufigen viktorianischen Gebäude mit seinem Türmchen, den Erkern und der Wendeltreppe hatte er seine Nachmittage verbracht, nachdem sein Vater die Familie verlassen hatte und seine Mutter in zwei Jobs hatte arbeiten müssen. Und in Miss Everleighs Garten hatte er sich mit acht Jahren verliebt – in Beck Holiday –; seit Jahren hatte er nicht mehr an sie gedacht.
„Direkt nach Thanksgiving.“
„Thanksgiving? Und dann sagst du es mir erst jetzt? Habe ich jetzt etwa die Trauerfeier verpasst?“
„Nein, die ist am nächsten Sonntagnachmittag. Miss Everleigh wollte nicht, dass viel Aufhebens um ihr Begräbnis gemacht wird, aber der Pastor hat anders entschieden. Weil wegen der Feiertage – besonders Thanksgiving – viele Leute nicht zu Hause waren, sondern zu Besuch bei Verwandten, ist der Trauergottesdienst verschoben worden. Schaffst du es, bis Sonntag zu Hause zu sein?“
„Ja sicher.“ Er würde es sich ganz bestimmt nicht nehmen lassen, von der einzigen „Großmutter“ Abschied zu nehmen, die er je gehabt hatte.
Nachdem er das Gespräch beendet hatte, stieg er aus dem Wagen und schaute zum grauen, regnerischen Horizont.
„Ruhen Sie in Frieden, Miss Everleigh.“ Er hatte sie eigentlich häufiger besuchen wollen, nachdem er wieder nach Fernandina Beach zurückgekehrt war, aber der Sichtungsmarathon ließ ihm kaum Zeit, sich um das eigene Leben, geschweige denn um das anderer Menschen zu kümmern.
„Bruno! Das Essen ist fertig“, rief der Coach zum offenen Garagentor heraus. „Und außerdem fängt es an zu regnen. Hat Ihre Mutter Ihnen nicht beigebracht, dass man dann ins Haus geht?“
„Ich komme.“
Im Haus lachte Tyvis mit einer schlanken Frau mit rötlichem Haar und neugierigem Blick. Neben seiner dunklen, muskulösen Figur wirkte sie wie ein Zwerg, aber die Stärke, die er ausstrahlte, war sanft. Die Szene war wie Balsam nach dem, was er gerade von seiner Mutter erfahren hatte, und als Bruno jetzt diese Szene sah, wünschte er sich solche Augenblicke auch für sein eigenes Leben – vielleicht sogar eine eigene Familie.
Aber dazu musste er sein Leben entschleunigen, eine Beziehung mit einer Frau eingehen, die länger hielt als nur ein Date, und sich innerlich mehr öffnen.
„Ich hoffe, Sie haben Hunger“, sagte der Coach und schob Bruno in den Raum.
„Das kann man wohl sagen“, erklärte er und schaute erst Tyvis und dann Mrs. Brown an.
„Ich bin bereit fürs Essen.“

KAPITEL 3
Beck
Als sie aufwachte und Tageslicht in ihr Schlafzimmer in East Flatbush strömte, grummelte sie und blinzelte gegen die Helligkeit an. Sie kuschelte sich noch einmal unter die Decke und stieß dabei gegen einen warmen Körper, der zusammengerollt neben ihr lag.
Als die Erinnerung an die Ereignisse des vergangenen Abends zu ihrem noch schlaftrunkenen Hirn durchdrang, setzte sie sich auf und schlug die Bettdecke zurück. Boudreaux – der Hund – vier Stunden in der Tierklinik.
„Hey, mein Kleiner. Frohes neues Jahr.“ Ganz vorsichtig kraulte sie den Hund hinter den Ohren. „Hast du gut geschlafen?“
Mit einem leisen Winseln versuchte er, die Augen zu öffnen, aber die Erschöpfung und die Medikamente, die er bekommen hatte, hatten ihn noch fest im Griff.
Laut Tierarzt war er ein Zwergschnauzer, fünf bis sechs Jahre alt, unterernährt, dehydriert, und von Flöhen und Würmern befallen.
Sie hatten ihn geröntgt, mithilfe einer Ultraschalluntersuchung eine Bestandsaufnahme von seinen inneren Verletzungen gemacht, ihn dann mit Antibiotika und Flüssigkeit versorgt und schließlich Beck mit Spezialnahrung und Instruktionen für seine Behandlung nach Hause geschickt.
„Kommen Sie in zwei Wochen wieder, dann können wir ihn gründlicher untersuchen“, hatte es geheißen.
Der kleine Kerl sprach zwar sofort gut auf die Flüssigkeitszufuhr und die Nahrung an, aber der Tierarzt war besorgt, dass es doch noch zu unvorhergesehenen Komplikationen kommen könnte.
Beck stand auf, zog die Vorhänge zu und legte sich wieder neben ihren neuen Freund.
Er seufzte leise, als sie seine Pfote streichelte. Auf dem Weg zur Klinik hatte sie ihn Beetle Boo genannt, und nachdem der Tierarzt diesen Namen dann auch auf die Patientenkarte geschrieben hatte, war es besiegelt gewesen.
Es klopfte leise an ihrer Tür. „Frohes neues Jahr, Beck. Bist du wach?“, sagte ihre Mutter leise und spähte vorsichtig ins Zimmer. „Du bist später nach Hause gekommen als …“ Sie verzog den Mund und sah jetzt in ihrer pinkfarbenen Krankenhauskleidung und der blassen Winterhaut aus wie ein zorniges Eis am Stiel. „Ein Hund? Also bitte, Beck, du weißt doch, dass Flynn allergisch ist.“
„Ich wünsche dir auch ein frohes neues Jahr, Mama“, sagte Beck darauf, drückte mit geschlossenen Augen ihre Stirn gegen das winzige Hundegesicht und atmete den Duft des sauberen Fells ein. Sie hatte den Raum verlassen müssen, als der Tierarzt angefangen hatte, den Hund zu säubern, indem er ihm dicke Klumpen völlig verfilzten Fells abrasierte, so furchtbar hatte Beetle Boo dabei gejault und gewinselt.
„Gibt es zu dem Hund auch eine Geschichte?“, fragte ihre Mutter jetzt.
„Keine Sorge, ich suche mir eine eigene Wohnung. Du brauchst also nicht lange ein Haustier zu ertragen“, sagte Beck nur.
„Jetzt sei doch nicht gleich so kratzbürstig. Es ist nur, weil Flynn allergisch gegen Hunde ist.“
Sie hatte nie die Absicht gehabt, mit einunddreißig Jahren noch bei ihrer Mutter, ihrem Stiefvater und ihrem kleinen Bruder zu wohnen, aber als letztes Jahr ihre beste Freundin und Mitbewohnerin Sarah in Stuytown geheiratet hatte, war Beck vorübergehend wieder in ihr altes Zimmer in East Flatbush gezogen.
Aus Tagen waren Wochen und aus Wochen Monate geworden und im Nu war ein Jahr vergangen. Inzwischen hatte sie genug gespart, um sich eine eigene Wohnung zu nehmen und gerade einen Mietvertrag unterschreiben wollen, als sie gemerkt hatte, dass ihr Abend im Rosie’s und das Zusammentreffen mit Hunter Ingram Folgen hatte.
Vielleicht war das der Grund, weshalb sie sich unbedingt um Beetle Boo kümmern wollte – als Ablenkung von der Tatsache, die sie bisher phänomenal ignoriert hatte, indem sie den Kopf in den Sand steckte.
„Beck?“ Die eine Seite des Bettes sackte unter dem Leichtgewicht ihrer Mutter nach unten und Beck schaute sie von schräg unten an.
„Hast du mich gehört? Ich gehe jetzt zur Arbeit. Das Abendessen steht im Backofen. Flynn müsste eigentlich gegen sechs zu Hause sein. Nach dem Kalender am Kühlschrank hast du heute Nachtschicht. Bitte iss was, bevor du gehst, ja? Du bist ja nur noch Haut und Knochen. Flynn hat gesagt, dass dir im letzten Monat öfter mal schlecht gewesen ist …“
„Ja, ich hab wohl zu viel Fast Food gegessen. Viel Spaß bei der Arbeit, Mama.“
„So viel Spaß, wie eine Zwölf-Stunden-Schicht im Kings County eben hergibt. Aber heute ist Neujahr, da gibt es immer jede Menge Gutes zu essen. Apropos Essen …“
„Ich habe dich schon gerade eben verstanden, Mama“, sagte Beck, setzte sich auf und strich sich ihr langes, dunkles Haar aus dem Gesicht. „Iss was, bevor du zur Arbeit gehst.“
„Was ist denn los mit ihm?“, fragte ihre Mutter und schaute Beck an. Die zog sich ihre Decke über den Bauch und schaute den Hund an. „Er ist ja in richtig übler Verfassung“, fuhr ihre Mutter fort.
„Ich hab ihn einem Täter abgenommen, der ihn eine Tüte mit Drogen hat fressen lassen, damit er sie später wieder ausscheidet.“
Ach du liebe Zeit… genau im richtigen Moment schlug jetzt wieder die Morgenübelkeit zu. Immer ungefähr zehn Minuten nach dem Aufwachen. Sie hatte eigentlich gedacht, dass das langsam vorbei sein müsste, aber …
„Und wieso hast du nicht die Tierrettung verständigt?“
„Weil …“, einatmen, ausatmen, einatmen … und der Moment war vorbei, jedenfalls fürs Erste, „… ich das Gefühl hatte, dass er meine Hilfe brauchte.“
Beck schaute zu ihrer Mutter hin – die Krankenschwester war eine Kümmerin, die alles liebte, was lebte –, die doch eigentlich verstehen musste, wenn jemand Hilfe brauchte, auch wenn sie und ihre Mutter eigentlich nie ein besonders enges Verhältnis gehabt hatten. Beck war ein Papakind gewesen – so war es ihr jedenfalls erzählt worden. Doch dann war der Terroranschlag am 11. September passiert, eine Katastrophe, die bis heute bei ihr nachwirkte.
Der Einsturz des Nordturms hatte Mutter und Tochter gleichermaßen zusammen- wie auseinandergebracht, und zwar auf eine Weise, die keine von ihnen so ganz verstand.
Also ließen sie einander Freiraum – und ignorierten einfach, wie die jeweils andere sich nur humpelnd fortbewegte. Ihre Mutter, indem sie einfach ihr Leben fortsetzte und nie zurückschaute. Und Beck, indem sie vergaß.
„Interessant“, sagte ihre Mutter, stand auf und strich ihren Arbeitskittel glatt. „Du hast sonst nie Gefühle gezeigt, wenn es um Tiere oder Babys ging. Deinen kleinen Bruder hast du erst richtig angeschaut, als er schon fast zwei war.“
„Vielleicht habe ich mich ja verändert – ein bisschen.“
„Wunder über Wunder“, bemerkte ihre Mutter, schaute auf die Uhr und fragte: „Dann ist der Hund also ein dauerhafter Neuzugang?“
„Ich weiß es nicht. Vielleicht. Wie gesagt, ich habe genug gespart, um mir selbst eine Wohnung zu nehmen.“
„Habe ich gesagt, dass du ausziehen sollst? Ich muss nur wissen, was ich Flynn sagen soll. Er ist …“
„… allergisch. Ich weiß.“
So und ähnlich lief es zwischen ihnen fast immer seit dem Tod von Becks Vater. Damals war sie vierzehn gewesen. Jeder Versuch, irgendwie miteinander in Kontakt zu treten, führte zu einer unsichtbaren Spannung, aber irgendwie immer auch mit einem kleinen Schuss Geduld und Liebe.
„Was für ein Hund ist das noch mal?“, fragte ihre Mutter und streckte ihre Hand zu Beetles Nase aus. Aber der Hund war zu erschöpft, um auch nur den Kopf zu heben. „Vielleicht ist es ja eine Rasse, die nicht haart.“
„Er ist ein Zwergschnauzer“, antwortete Beck mit einem Lächeln und wärmte damit die Seele ihrer Mutter. „Ich bin wirklich dankbar für alles, was Flynn und du für mich tut, und dass ich hier mietfrei wohnen kann, aber ich brauche es auch, einfach mal für mich zu sein.“
Ihre Mutter nickte nur kurz und sagte dann: „Ich erinnere mich, dass ich damals auch mit den Hufen gescharrt habe, das Nest zu verlassen. Und ich war zwanzig, als ich mich dann Hals über Kopf in deinen Vater verliebt habe.“ Sie beugte sich vor, um Beck einen Kuss auf die Stirn zu geben, wünschte Beetle Boo einen guten Tag und ging zur Tür. „Ach ja, unten liegt Post für dich“, sagte sie noch im Hinausgehen. „Ein Einschreiben.“
„Von wem denn?“
„Von einem Anwalt in Florida“, antwortete ihre Mutter, schaute wieder auf die Uhr und zog ein Gesicht. „Ich muss jetzt aber wirklich los. Und vergiss nicht, dein Essen steht im Ofen.“
Im selben Moment, als die Tür geschlossen wurde, stürzte Beck aus dem Bett ins Bad und ging vor der Kloschüssel in die Knie – Erleichterung. Wie war es nur möglich, dass das, was für sie sonst immer fast das Schlimmste auf der Welt gewesen war – nämlich sich zu übergeben –, ihr eine solche Erleichterung verschaffte?
Dann betrachtete sie sich in ihrem T-Shirt, das am Bauch bereits spannte, im Spiegel.
Sie hatte ein Problem. Ein großes, vielschichtiges Problem, vor dem sie nicht davonlaufen konnte. Das Baby machte sich bemerkbar und sie konnte es nicht länger ignorieren.
Die ersten beiden Monate hatte sie gedacht, dass sie zu viel arbeitete, weil sie ständig müde war, aber dann hatte die Übelkeit angefangen.
Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie sich einfach zusammen mit Beetle Boo in ihrem Zimmer verkrochen, bis der Winter und all ihr Ach und Weh vorbei waren. Aber nach dem, was man so hörte, war eine Geburt mehr als nur ein Weh.
Die Geburt …
Die würde sie wohl allein durchstehen müssen.
Nachdem sie sich die Zähne geputzt und das Gesicht gewaschen hatte, ging sie wieder ins Bett, legte sich neben Beetle, starrte zur Decke und versuchte, an nichts zu denken.
Als sie noch klein war, hatten ihre Eltern immer mit ihr gebetet, wenn sie sie ins Bett gebracht hatten. Die Erinnerungen daran waren verschwommen und außer ihrer Mutter hatte niemand mehr klare bildhafte Erinnerungen an ihren Vater.
Neben ihr regte sich jetzt der Hund mit einem leisen Winseln und versuchte, aus dem Bett zu springen. Beck hob ihn herunter, setzte ihn auf den Boden und schaute zu, wie er kurz schwankte und dann zu seiner Wasserschüssel tapste.
Sie würde bald mit ihm nach draußen gehen müssen. Er brauchte Hilfe dabei, sein Geschäft zu machen, weil er sein Hinterbein beim Fall auf den Beton verletzt hatte, und auf den Röntgenbildern waren außerdem noch zwei ältere Brüche zu erkennen gewesen. Der Schlag sollte Boudreaux treffen.
Ohne nachzudenken flüsterte sie ein Gebet für den Hund – und dann auch noch eines für sich selbst. Sie hatte im Beruf so oft das verzweifelte Flehen sterbender Opfer, verängstigter Täter und trauernder Angehöriger gehört und war deshalb mittlerweile davon überzeugt, dass der Impuls, an den Himmel zu appellieren normal und auch legitim war.
„Frohes neues Jahr, Gott, ich bin’s Beck Holiday. Ich brauche Hilfe.“
Mit geschlossenen Augen wartete sie auf eine Art Stimme oder auf ein Gefühl, auf irgendeine Antwort vom Allmächtigen, aber das Einzige, was sie hörte, war der Signalton ihres Handys, der ihr mitteilte, dass eine Nachricht eingegangen war.
Stöhnend drehte sie sich zum Nachttisch um. Die ganze Serie einzeiliger Nachrichten kam von ihrem Vorgesetzten Lieutenant Hunter Ingram.
Beck?
Ruf mich an.
Wo bist du?
Was ist passiert?
Ich muss es wissen.
Ich kann dich sonst nicht decken.
Weiß nicht, ob ich es überhaupt kann.
Sergeant?
AUFWACHEN!
Sie hob Beetle Boo wieder zu sich ins Bett und überlegte, welche Optionen sie hatte.
Von zu Hause ausreißen? Nein, dazu war sie zu alt. Sie wäre liebend gern abgehauen und in ein neues, surreales, perfektes Leben geschlüpft, in dem es vernünftig war und einen Sinn ergab, schwanger zu sein, und in dem ihr Zustand ihr nicht Angst, sondern Hoffnung machte.
In ein Leben, in dem sie ein eigenes Zuhause hatte, einen Mann, der ihrem Baby ein Vater sein würde – wenn sie sich überhaupt dafür entscheiden würde, es zu bekommen –, in dem ihre Kindheitserinnerungen zurückkommen würden, und ein Zuhause, in dem der Schmerz über den Tod ihres Vaters sie nicht von ihrer Mutter trennte, sondern beide verband.
Aber das war nur ein Traum und wahrscheinlich zu viel verlangt vom Leben. Nach achtzehn Jahren machte sie sich keine Hoffnung mehr.
Das war auch der Grund, weshalb sie gern Polizistin war. In dem Job kannte sie sich aus, wusste, was von ihr erwartet wurde und fand sich selbst Tag für Tag in den Routineabläufen wieder.
Durch eigene Dummheit hatte sie sich in dieser einen blöden Nacht selbst in Schwierigkeiten gebracht. Dafür konnte sie niemand anders verantwortlich machen – abgesehen von ihm. Sie waren beide betrunken gewesen, aber wenn ihre ziemlich verschwommene Erinnerung sie nicht trog, war sie es gewesen, die im Rosie’s die Initiative ergriffen hatte.
Inmitten all der Nachrichten von Ingram war auch eine von Hogan.
Wie geht‘s dem Hund? Ruf mich an. Boudreaux‘ Anwalt ist hier schon aufgekreuzt, bevor ich den Bericht fertig hatte.
Sie wollte ihm gerade zurückschreiben, als ihr Handy klingelte. Ah, das war Ingram. Am Klingeln merkte sie, dass er die Geduld verlor.
Trotzdem drückte Beck ihn weg, warf das Handy zwischen die Papiertücher, Papiere, Bücher und Duftöle in der Nachttischschublade und vergrub sich mit ihren Sorgen im Kissen.
Vielen Dank auch für deine Hilfe, Gott.
Sie musste wieder eingeschlafen sein, weil ein Klopfen an der Tür sie aus einem traumlosen Schlaf aufschreckte.
„Ja?“ Sie räusperte sich und warf einen Blick auf ihren Wecker. Es war sieben Uhr abends.
Ihr Stiefvater Flynn betrat in seiner Polizeiuniform mit dem Dienstgrad eines Captains ihr Zimmer. „Du hast wirklich auf Streife deinen Posten verlassen?“
Beck zog jetzt die Bettdecke etwas zurecht, sodass Beetle Boo zum Vorschein kam. „Nein, ich habe nicht den Posten verlassen, sondern ich bin nur mit dem kleinen Kerl hier beim Tierarzt gewesen“, antwortete sie. „Hogan hat den Verdächtigen aufs Revier gebracht – was reine Zeit- und Geldverschwendung war. Gibt es noch Gerechtigkeit auf der Welt, Flynn?“
„Ja, es gibt Gerechtigkeit. Und irgendwann steht jeder vor seinem Richter.“ Er deutete jetzt mit dem Kopf auf den Hund und bemerkte: „Du hättest die Tierrettung verständigen können. Das ist deren Job. Deiner ist es …“
„… ein unschuldiges, verletztes, bettelndes Tier zu ignorieren, um einen Wiederholungstäter festzunehmen? Der, nebenbei bemerkt, schon wieder auf freiem Fuß war, bevor Hogan auch nur den Bericht fertig geschrieben hatte. Nein, Flynn. Ich habe den kleinen Kerl hier gerettet.“ Sie kraulte Beetles Nase, woraufhin der den Kopf hob und ihre Hand mit seiner rosa Zunge berührte.
Flynn starrte sie einen Moment lang an, hin- und hergerissen zwischen seinen Rollen als Polizei-Captain und als Stiefvater.
Flynn und ihr Vater waren seit der Schulzeit beste Freunde gewesen. Mit zweiundzwanzig waren sie beide zusammen zur Polizei gegangen und von da an tagein, tagaus, von Mitternacht bis acht Uhr morgens auf der Jagd nach Straftätern und dem nächsten Kaffee gewesen.
Nach den Anschlägen vom 11. September hatte Flynn oft vorbeigeschaut, um nach „Dales Witwe“ zu schauen, und ein Jahr später hatten er und ihre Mutter dann geheiratet.
„Was ist denn passiert?“, fragte er mit einem tiefen Seufzer.
„Ich hab einen Wiederholungstäter beim Dealen erwischt, und als ich ihn verfolgt habe, hat er einen Beutel fallen lassen, in dem der kleine Kerl hier war. Hat ihn als Drogenkurier missbraucht.“
Flynn beugte sich vor, um einen Blick auf den Hund zu werfen, kam aber nicht näher.
„Der sieht ja zum Erbarmen aus. Was hat denn der Tierarzt gesagt?“
„Er hat gesagt: ,Das macht dann eintausendfünfhundert Dollar.‘“ Beck schlüpfte in ihre Hausschuhe, zog das T-Shirt ein bisschen von ihrem Bauch ab und griff nach ihrem Bademantel. „Dann hat er mich mit Medikamenten, Spezialfutter und Instruktionen nach Hause geschickt. Der Kleine sieht jetzt schon zehn Mal besser aus als gestern Abend.“
„Aber du weißt, dass ich allergisch bin, oder?“
„Jap“, sagte sie nur und ging aus dem Zimmer.
Bitte, bitte, erst mal Kaffee.
Als sie vor etwa sechs Wochen eines Morgens angefangen hatte, koffeinfreien Kaffee zu trinken, hatte ihre Mutter eine Augenbraue hochgezogen. Beck hatte sich damit getröstet, dass sie schon so viel Koffein im Blut gehabt hatte, dass es vermutlich für ein ganzes Leben, wenn nicht gar zwei, reichte.
Aus der Küche duftete es nach Boeuf Stroganoff und einen Moment lang empfand sie einen tiefen Frieden. Beck liebte ihr Zuhause. Das war der gemütliche, geborgene Ort, an den man sich zurückzog, um sich vor den Problemen der Welt zu verkriechen.
Sie wünschte sich das, was ihre Mutter und Flynn hatten, einen Ort, an dem man sich von unliebsamen Überraschungen erholen, sich ein Leben aufbauen und vielleicht ein Kind großziehen konnte.
Es gab da eine Wohnung an der Rockway Avenue, die sie hätte haben können, aber die war längst nicht so gut wie die piekfeine Wohnung in Stuytown, die sie und Sarah sich bis vor Kurzem geteilt hatten.
Flynn ging in der Küche umher, bereitete alles fürs Essen vor, und seine starke Ausstrahlung und sein stabiler Körper bewirkten, dass der Friede noch etwas anhielt.
„Wyatt ist heute zum Essen nicht da“, sagte er, nahm zwei Teller aus dem Schrank und stellte sie auf den Tisch. „Er schaut sich mit ein paar von seinen Jungs die Halbfinals der National Championships an.“
„Wer spielt denn?“, fragte Beck und nahm die leere Kanne aus der Kaffeemaschine. Traurig. Sehr traurig. Sie schob die Kanne wieder auf die Wärmeplatte zurück und entschied sich für Orangensaft. Der war sowieso besser für sie.
„Ohio State gegen Texas.“ Flynn nahm Salat und Bier aus dem Kühlschrank. „Willst du auch eins?“, fragte er und hielt eine Bierflasche hoch.
„Nein danke, ich arbeite heute Nacht.“
Er zog ein Gesicht. „Das tut mir leid. Ich dachte, du hättest frei. Das ist ein frohes neues Jahr, was?“
„Seit ich bei der Polizei bin, habe ich jedes Jahr an Neujahr Dienst gehabt. Ich wüsste gar nicht, was ich an dem Tag mit mir anfangen soll, wenn ich nicht Dienst hätte.“
Sie stürzte den letzten Schluck Orangensaft hinunter und warf dann die Flasche in den Mülleimer. „Ich muss vor dem Essen noch den Hund füttern.“
„Du kannst ihn nicht behalten, Beck, auch ganz abgesehen von meiner Allergie. Wir arbeiten doch alle zu unterschiedlichen Zeiten und haben auch so schon Mühe, Zeit füreinander – geschweige denn für einen Hund – freizuschaufeln.“ Flynn ging zum Thermostat im Esszimmer und sagte: „Deine Mutter ist anscheinend wild entschlossen, diese Wohnung in eine Sauna zu verwandeln.“
„Ich nehme mir eine eigene Wohnung“, erklärte sie und spürte in dem Moment ein ganz leises Flattern in ihrem Bauch. Das war das Baby. Es bewegte sich.
„Wie willst du dich denn bei deinen Arbeitszeiten um einen Hund kümmern? Und dann auch noch um einen kranken Hund?“, fragte Flynn und sah sie an, während er einen Schluck Bier trank. Und dann fragte er ganz unvermittelt: „Geht es dir eigentlich gut in letzter Zeit?“
„Das schaffe ich schon“, antwortete sie, ohne auf die letzte Frage einzugehen und fügte hinzu: „Es gibt viele Polizisten, die einen Hund haben.“
„Ja, Polizisten mit Familien, die bei der Betreuung des Hundes helfen können“, wandte er ein.
„Ich kann mich um ihn kümmern“, wiederholte sie, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und rückte dann ihren Morgenmantel zurecht, indem sie den Gürtel etwas lockerte. „Ich … ich könnte in die Tagschicht wechseln.“
„Wegen eines Hundes?“, fragte Flynn lachend, aber das Lachen war eher freundlich als spöttisch. „Ruf mich bitte an dem Tag an, wenn du deinen Lieutenant darum bittest. Soll ich mal im meiner Abteilung herumfragen, ob jemand den Hund haben möchte? Erinnerst du dich noch an Michael und Esther Greaves? Die waren letzten Sommer am 4. Juli zur Unabhängigkeitsfeier hier. Du hast mit ihrem behinderten Sohn Basketball gespielt. Mike hat mir erzählt, dass sein Therapeut ihnen ein Haustier empfohlen hat.“
„Ach, ich weiß nicht.“ Sie blickte nach unten. „Ich … ich weiß nicht, ob ich ihn an jemanden abgeben kann. Er hat so viel durchgemacht.“
„Das sind liebe Menschen, Beck. Du solltest mal sehen, wie sie mit ihrem Sohn umgehen. Dein Hund würde sich da bestimmt wohlfühlen und gut entwickeln.“
Beck nickte, ging zur Treppe und murmelte: „Ich überleg’s mir.“