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In ihrem Zimmer kniete sie sich neben ihr Bett und weckte Beetle Boo ganz sanft. Er sah sie mit traurigen braunen Augen an, auch wenn sie heute schon aufmerksamer und lebendiger waren als noch vor zwölf Stunden.
„Hast du Hunger?“, fragte sie, öffnete eine Dose mit Hundefutter, hob ihn vorsichtig vom Bett herunter, setzte ihn sich auf den Schoß und fütterte ihn aus der Hand. Dann ließ sie ihn aufstehen, und er lief auf wackeligen Beinen noch einmal zum Wassernapf, um zu trinken.
Danach trug sie ihn in den kalten, frischen Abend vors Haus. An den Häusern in den Straßen funkelte überall noch die Weihnachtsbeleuchtung.
Beetle humpelte zum Rasen, und sie stützte sein Hinterteil, als er sich hinhockte.
Dann nahm sie ihn wieder hoch, gab ihm einen Kuss auf den Kopf und flüsterte: „Du und ich, wir gehören zusammen. Ich geb dich nicht her.“
Wieder in ihrem Zimmer, kuschelte sie ihn in Decken, ging duschen und ließ das warme Wasser über sich und das Baby laufen.
Aber dann setzte die Realität wieder ein. Beck ließ sich an der gefliesten Wand der Dusche zu Boden gleiten und barg ihr Gesicht in den Händen. Verdammt! Wie hatte sie es nur so weit kommen lassen können?
Sie saß fest, war in die Enge getrieben durch Umstände, die sie nicht wollte, und hatte in gewohnter Beck-Holiday-Art das Problem einfach ignoriert, hatte es sich weggewünscht und aus ihrem Bewusstsein geschoben. Im Vergessen war sie schließlich richtig gut.
Eigentlich hätte sie an der Wall Street arbeiten müssen, denn sie hatte an der Columbia University Internationales Finanzwesen studiert. Aber dann hatte sie ein Praktikum bei Goldman Sachs gemacht.
Was für eine Welt! Es war die Hölle für sie gewesen und sie hatte jede Minute dort gehasst. Aus einer Laune heraus hatte sie dann die Aufnahmeprüfung für die New Yorker Polizei gemacht und die zweithöchste Punktzahl aller Zeiten erreicht. Sieben Monate später hatte sie ihren Abschluss als Jahrgangsbeste in der Tasche.
Sie liebte ihren Job, denn er gab ihr das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Ihr gefielen die Kameradschaft unter den Beamten und der Zusammenhalt dieser wenigen in einer Millionenstadt.
Ihre Mutter war damals zu dem Schluss gekommen, dass Beck zur Polizei ging, um wie ihr Vater zu sein.
„Warum sollte ich das tun, wenn ich mich nicht einmal an ihn erinnern kann, Mama?“
Aber während jetzt ihre blasse Haut durch das heiße Wasser rosig wurde, fragte sie sich, ob die Vermutung ihrer Mutter nicht doch zum Teil zutraf. War ihr Wunsch, Polizistin zu werden, vielleicht der Versuch gewesen, etwas wiederzufinden, was sie verloren hatte? Aber war es denn falsch, wie ihr Vater sein zu wollen? War es falsch, den Wunsch zu haben, sich an ihn zu erinnern, immer noch, nach achtzehn Jahren?
Doch im Moment hatte sie wirklich dringlichere Probleme. War es möglich, alleinerziehend und Polizistin zu sein? Flynn glaubte ja nicht einmal, dass sie sich um einen Hund kümmern konnte.
Beck stand jetzt wieder auf und stellte das Wasser ab. Die Wärme und der Dampf hatten sie nur noch müder gemacht, sodass ihr all die Komplikationen noch deutlicher bewusst wurden.
Sie hatte sich gerade angezogen und das Haar geföhnt, als Flynn die Treppe hinaufrief: „Kommst du jetzt zum Essen? Ich habe das Spiel eingeschaltet.“
„Ich komme“, antwortete sie, griff nach ihrem Rucksack und Beetle Boo sah sie mit verlorenem Blick an. „Ich bin doch bei dir, Kumpel, keine Sorge.“
Sie trug ihn nach unten und setzte ihn aufs Sofa, während sie sich Essen auffüllte, und genau in dem Moment, als sie sich den ersten Bissen in den Mund steckte, gingen auf ihrem Handy zwei Nachrichten ein.
Die erste kam aus der Arztpraxis. Es war die Erinnerung an ihren Termin am 3. Januar. Wahrscheinlich sollte sie diesen endlich wahrnehmen, weil sie schon die letzten beiden einfach hatte ausfallen lassen.
Die zweite Nachricht kam von Sergeant Ingram.
Sobald du hier bist, in mein Büro.
Beck seufzte, warf ihr Handy ans andere Ende des Sofas und das cremige, fettige Boef Stroganoff wurde sauer in ihrem Mund.
Das würde eine lange Nacht werden.
Inzwischen hatte sich Flynn in seinem Ohio State Trikot und Jogginghose in seinem Fernsehsessel niedergelassen und feuerte sein Team an.
„Kannst du dich bitte um den Hund kümmern, während ich bei der Arbeit bin?“, fragte Beck. „Bitte?“
„Touchdown!“ Flynn riss die Arme hoch und eine Nudel flog in hohem Bogen durch die Luft. „Ich sag Wyatt, dass er das übernehmen soll.“
„Aber erinnere ihn bitte daran, ja? Er ist sechzehn und in erster Linie mit sich selbst beschäftigt.“ Ihr sehr viel jüngerer Bruder war wirklich ein netter Junge, lebte aber weitgehend in seiner ganz eigenen Welt, in der er ein erfolgreicher Sportler und der „Traum aller Ladys“ war – das waren seine Worte, nicht ihre.
„Wenn ich mich recht erinnere, warst du in dem Alter auch ziemlich mit dir selbst beschäftigt“, bemerkte Flynn, sammelte die Nudel wieder auf und wischte mit seiner Serviette den Fleck vom Hartholzboden weg.
„Mit sechzehn hatte ich schon meinen Vater verloren und alle Kindheitserinnerungen, die mit ihm zu tun hatten“, entgegnete sie darauf und fuhr fort: „Meine Mutter war nicht für mich da, weil sie gearbeitet und getrauert hat, und dann brachte sie auch noch einen Stiefvater mit nach Hause und schenkte mir einen Flegel von einem kleinen Bruder. Also ja, vielleicht war ich ziemlich mit mir selbst beschäftigt. “
Flynn wandte sich jetzt vom Bildschirm ab und fragte: „War es wirklich so schlimm?“
Sie grinste, aß einen Bissen und sagte: „Na ja, Wyatt ist nicht ganz so schlimm.“
Da schmunzelte ihr Stiefvater. „Das freut mich“, sagte er und rief dann in Richtung des Fernsehers: „Hey, Schiri, was soll denn das? “
Beck hatte gerade ihren Teller leer gegessen und überlegte, ob sie sich noch einen Nachschlag holen sollte, als das Spiel durch eine Werbepause unterbrochen wurde.
Flynn brachte sein benutztes Geschirr und die leere Bierflasche in die Küche und fragte: „Hat deine Mutter dir gesagt, dass ein Einschreiben für dich gekommen ist?“
„Ja, hat sie.“ Beck stellte ihr Geschirr in den Geschirrspüler und beschloss, auf einen Nachschlag zu verzichten, damit sie sich auf dem Weg zur Arbeit einen Donut genehmigen konnte. Sie hatte schon seit ein paar Tagen richtigen Heißhunger auf einen Donut.
Sie fand den Brief auf dem Tischchen in der Diele und schaute zu Flynn hinüber, als der mit einer zweiten Portion Stroganoff an ihr vorbeiging. „Kennen wir jemanden in Fernandina Beach, Florida?“, fragte sie ihn.
„Da habt ihr als Familie oft Urlaub gemacht, als du noch klein warst und dein Vater noch gelebt hat.“ Den Blick fest auf den Fernseher gerichtet, saß Flynn mit dem Teller auf dem Schoß da und warf seine Serviette Richtung Fernseher. „Komm schon, Schiri, jetzt lass die Jungs doch mal spielen.“
Beck schaute auf den Umschlag, der ziemlich offiziell aussah. Ihre Mutter hatte einmal erzählt, wie sie immer zu zweit sechs Wochen von Becks Sommerferien in Florida verbracht hatten. Die letzten drei davon war ihr Vater nachgekommen.
Aber ihre Mutter sprach, wenn überhaupt, nur selten über die gute alte Zeit oder kramte mit feuchten Augen in ihren oder Becks Lebenserinnerungen vor dem 11. September.
Beck atmete jetzt einmal tief durch, riss den Umschlag auf und faltete ein langes Schreiben auseinander. „Das ist das Testament von Mrs. Everleigh Callahan.“
„Was?“ Flynn schaute kurz zu ihr herüber und dann wieder auf den Bildschirm. „Everett wer?“
„Everleigh, habe ich gesagt, du Knalltüte. Guck einfach dein Spiel. Da steht …“ Aber dann blieben ihr die Worte im Hals stecken. „… ich bin die einzige Erbin.“ Sie schaute sich noch einmal den Umschlag und den Briefkopf an. Ja, der Brief war tatsächlich an sie adressiert. „Das muss ein Scherz sein.“
Im Fernsehen kam schon wieder Werbung und Flynn griff nach dem Brief. „Ich bin zwar kein Anwalt, aber das sieht echt aus. Du hast ein Haus in der Memory Lane Nr. 7, Fernandina Beach, Florida geerbt.“ Er zog ein Gesicht. „Und ihren gesamten Besitz, einschließlich aller Konten.“ Er gab ihr das Schreiben auf dem Rückweg in die Küche zurück. „Darüber redest du wahrscheinlich am besten mit deiner Mutter. Wer um Himmels willen ist denn Everleigh Callahan und wieso setzt sie dich als Alleinerbin ein?“
„Gute Frage, Flynn. Das würde ich selbst auch gern wissen.“

KAPITEL 4
Everleigh
Mai 1953
Waco, Texas
Das Leben als verheiratete Frau passte zu ihr, aber daran hatte sie auch nie gezweifelt. Die Ehe erfüllte sie mit Freude und so viel Glück.
Vor acht Monaten war Everleigh Novak in der First Baptist Church die Frau ihres Cowboy Ranchers geworden und heute würde sie das Märchen noch um ein Kapitel erweitern.
„Rhett, mein Schatz, ich bin schwanger.“
Der Arzt hatte an diesem Morgen die Schwangerschaft bestätigt, doch das romantische Abendessen mit ihrem Mann heute Abend hatte sie schon länger geplant, weil sie an diesem Abend das Haus der Applegates ganz für sich allein haben würden. Ihre Schwiegereltern, die Respekt einflößende Mama Applegate und der sympathische Papa Applegate, Königin und König der „Circle A Ranch“, würden nämlich mit Freunden zusammen in der Stadt essen gehen.
Everleigh legte ihre Hand auf ihren noch flachen Bauch und blinzelte in den strahlenden Sonnenschein im Stadtzentrum von Waco.
Gott hatte sie freundlich angesehen an dem Tag, als Rhett sie zu dem Tanz eingeladen hatte. Ausgerechnet Miss Everleigh Novak war dem begehrtesten Junggesellen von Baylor aufgefallen, und er hatte von all den Mädchen, die um seine Aufmerksamkeit buhlten, sie erwählt.
Und jetzt trug sie seinen Nachkommen unter dem Herzen. Vielleicht einen Sohn, den nächsten Erben der Applegate-Ranch. Oder eine Tochter, die in diesen modernen Zeiten vielleicht auch eines Tages die Ranch weiterführen würde.
Ihr Sohn, ein künftiger Fullback im Football an der Baylor University, genau wie einst sein Vater.
Und ihre Tochter – im Unterschied zur Mutter – vielleicht eine künftige Homecoming Queen. Obwohl man sich da nicht täuschen sollte, denn als Rancher-Tochter würde sie teils Prinzessin, teils Wildfang sein.
Aber egal, ob Sohn oder Tochter, dieses Kind – und alle, die noch folgen würden – würde geliebt sein, sehr, sehr geliebt.
Sie runzelte die Stirn, als sich vor dem Bürofenster Wolkenberge auftürmten, den Sonnenschein verdeckten und einen Schatten auf die Stadt und ihren Zeichentisch warfen.
Everleigh betrachtete ihre Arbeit, die neueste Werbeanzeige für Kestner’s Family Department Store. Wenn sie nicht bis zum Feierabend mit den Korrekturfahnen fertig war und sie ihrem Chef vorlegte …
Sie nahm also den Tintenstift wieder zur Hand und fuhr fort mit dem Schattieren. Momentan konnte sie es sich noch nicht leisten, ihren Job als Werbegestalterin zu verlieren. Sie und Rhett sparten nämlich auf ein eigenes neues Haus.
Solange sie noch in Rhetts Kinderzimmer bei seinen Eltern wohnten, konnten sie jeden Monat ihr gesamtes Gehalt auf ein Sparkonto einzahlen.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich hier mal mit einem Mädchen zusammen sein würde“, hatte er in der ersten Nacht zu ihr gesagt, nachdem sie aus den Flitterwochen zurück waren.
„Also ich bin froh, dass ich die Einzige bin.“ Und dann hatte sie ihn geküsst, als wäre es das erste Mal.
Als sie jetzt noch einmal daran dachte, musste Everleigh leise lachen, denn als sie aus den Flitterwochen zurückgekommen waren, hatte er die Zimmertür abgeschlossen, bevor er ins Bett gekommen war, und dann war er noch einmal aufgestanden, um ein kleines Tischchen unter die Türklinke zu schieben.
„Das hier ist Mamas Haus. Wenn sie reinkommen will, glaub mir, dann kommt sie herein“, hatte er zur Begründung gesagt.
Everleigh war gerade dabei, den Stiefelabsatz zu schattieren, als ihr noch eine Erinnerung kam.
Eines Nachmittags war Rhett zum Lunch nach Hause gekommen, und als er festgestellt hatte, dass Mama Applegate in die Stadt gefahren war, hatte er geglaubt, die Luft sei rein, und er könne seine frischgebackene Ehefrau für ein nachmittägliches Schäferstündchen nach oben in ihr gemeinsames Zimmer tragen.
Doch in der Aufregung hatte er ganz vergessen, die Tür abzuschließen, und dann war es gekommen, wie es kommen musste …
Noch vier Monate später sträubte sich in Everleigh alles, wenn Rhett in Gegenwart seiner Eltern auch nur andeutungsweise seine Zuneigung zeigte. Besonders, wenn seine Mutter dabei war.
„Mr. McCann möchte wissen, ob du mit den Stiefeln fertig bist“, sagte Betty Jo und überreichte Everleigh ein Layout-Muster der Zeitungsanzeige für die nächste Woche. Everleigh war richtig dankbar für die Unterbrechung, weil dadurch die peinlichen Erinnerungen beendet wurden.
„Er hat gesagt, du sollst darauf achten, dass die Maße der Anzeige ganz genau stimmen. Deine Zeichnungen von letzter Woche haben auf den Spaltenzwischenraum abgefärbt.“ Dann griff die Frau nach Everleighs Hand mit dem Ring und bemerkte: „Ich habe am Anfang gedacht, dass dein Kerl nicht die hellste Kerze auf der Torte wäre – viel Hut und wenig Hirn –, aber mit diesem Ring hat er mich überzeugt. Der ist wirklich fantastisch.“
„Dafür hat er auch ziemlich lange gespart“, erklärte Everleigh, zog ihre Hand weg und schaute sich das Layout-Muster für den Tribune Herald genauer an.
„Weißt du, was mein Mann mir zur Verlobung geschenkt hat? Ein Kind.“
Betty Jo lehnte sich an den Zeichentisch und kaute geräuschvoll Kaugummi. Sie war Anfang vierzig und eine Südstaaten-Giftspritze mit platinblondem Haar und knallroten Lippen wie Marilyn Monroe. Ihre Röcke waren so eng, dass sie sich nicht normal hinsetzen konnte, sondern sich auf ihren Stuhl fallen lassen musste. Und ihre Bluse, nun ja, der Ausschnitt offenbarte schon ziemlich viel.
„Ein Kind?“, fragte Everleigh, legte das Layout-Muster beiseite und nahm ihr Pica-Lineal zur Hand. Sie hatte die Anzeige fünf Punkte zu lang gemacht. „Was denn für ein Kind?“
„Na, ein Baby“, antwortete Betty Jo und tätschelte ihren Bauch. „Deshalb haben wir überhaupt geheiratet. Es war ein ziemlich holpriger und schwieriger Start, aber wir haben es überlebt. Das Kind ist jetzt fast zwanzig und nächstes Jahr mit dem College fertig.“ Sie nahm eine Zigarette aus dem Etui, das sie immer bei sich hatte.
„Mir ist schon klar, dass du jetzt so frisch verheiratet glücklich bist. Wie lange ist es jetzt her, sechs Monate?“
„Acht.“
„Na, dann warte mal ab.“
„Was soll ich abwarten?“, fragte Everleigh nach, legte das Lineal an die untere Kante der Anzeige und fuhr fort: „Rhett und ich lieben uns. Wir werden uns immer lieben und ein perfektes Leben haben.“
„Perfekt? Ach du liebe Güte. Nimm mal deine rosarote Brille ab, Pollyanna“, sagte Betty Jo und blies Everleigh Rauch ins Gesicht. „Junge Leute sind doch solche Traumtänzer. Alle Bräute glauben, dass ihre Ehe eine endlose Aneinanderreihung von Süßigkeiten, Blumensträußen, zärtlichen Küssen und Romantikwochenenden sein wird, und dass er pfeifend beim Geschirrspülen und Versorgen der Kinder und im Haushalt hilft. Aber dann sind zehn Jahre vergangen, und ohne dass man es merkt, kommt der Mann mittlerweile jeden Abend müde und missmutig von der Arbeit nach Hause, schüttelt seine stinkigen Stiefel ab und fragt: ,Was gibt’s zu essen?‘ Und er gibt dir nicht einmal mehr ein Begrüßungsküsschen. Höchstens noch auf die Wange – wenn du Glück hast. Und während du fertig kochst, den Tisch deckst, die Kinder zum Essen rufst und ihnen sagst, dass sie sich die Hände waschen sollen, sitzt er auf dem Klo und liest Zeitung, bis ihm die Beine einschlafen …“
„Betty Jo!“ Ein dicker Tropfen Tinte kleckste aus Everleighs Tintenstift mitten auf die Zeichnung. „Jetzt mach doch nicht alles schlecht, nur weil es bei dir so ist“, sagte sie empört und griff nach einem Lappen, um die Tinte wegzuwischen, aber vergebens. Sie musste den Fleck also in die Stiefelzeichnung einarbeiten.
„Wie du meinst. Wenn du dann irgendwann ankommst und von der guten alten Betty Jo einen Rat willst, dann verspreche ich dir auch, nicht ,Siehste!‘ zu sagen.“ Sie zwinkerte Everleigh zu, ließ ihre Zigarette auf den alten, abgenutzten Holzfußboden fallen und trat sie mit der Schuhspitze aus. „Jedenfalls nicht so oft.“
Und mit diesen Worten ging sie wieder. Die schwere dunkle Eichentür fiel hinter ihr ins Schloss, und ihr lautes Lachen hallte noch lange im Zeichenraum nach.“
„Was weiß denn die schon? ,Weißt du, was mein Mann mir geschenkt hat? Ein Kind.‘“
Everleigh stellte sich Betty Jos Mann Jeb vor und wand sich innerlich bei der Vorstellung, wie er auf dem Klo saß. Also die Frau konnte wirklich mit Worten Kopfkino erzeugen.
Everleigh mochte Jeb, einen schwer arbeitenden Mann, der auf den Ölfeldern schuftete und eher ein Macher war als ein Mann vieler Worte. Es konnte ja durchaus sein, dass Betty Jo die beschriebenen Probleme mit ihm hatte, aber bei Everleigh und Rhett war es anders.
Seit ihrem ersten Date konnte einer den Satz des anderen beenden, und wenn sie nicht zusammen gewesen waren, hatten sie miteinander telefoniert. Unmittelbar vor der Hochzeit hatte Rhett angefangen, ihr kurze liebe Briefchen zu schreiben.
Ich denke an dich. Nur noch zwei Monate, Rhett.
Nein, der Tag, an dem Rhett müde und missmutig nach Hause kommen und ihr kaum ein Küsschen geben würde, bevor er auf dem Weg ins Bad seine Stiefel abschütteln und dann dort sitzen bleiben würde, bis ihm die Beine einschliefen, dieser Tag würde nie kommen.
„Das wird nicht passieren, Betty Jo“, sagte Everleigh vor sich hin, stützte ihre Ellenbogen auf den Zeichentisch und schaute sich dann die Stiefel, die sie gezeichnet hatte, noch einmal ganz genau an. Wie lange würde sie wohl warten müssen, bis sie Betty Jo gegenüber damit angeben konnte, dass Rhett sie immer noch jeden Abend auf den Mund küsste?
Bis dahin stellte sich allerdings die Frage, was sie jetzt mit dem Tintenklecks machen sollte. Noch einmal von vorn anzufangen, kam nicht infrage, weil dazu die Zeit nicht mehr reichte.
Als sie gerade beschlossen hatte, weißes Papier über den Fleck zu kleben, spürte sie, wie zwei große Rancherhände ihre Taille umfassten.
„Hallo, meine Schöne“, flüsterte Rhett und drückte ihr seine warmen Lippen in den Nacken.
Everleigh drehte sich um und schaute ihm ins Gesicht. Wie kam es nur, dass er sie immer noch atemlos machte? „Was machst denn du hier?“
„Kann ein Mann seine Frau nicht mal bei der Arbeit besuchen?“
„Nicht mitten am Nachmittag, wenn er eigentlich gerade dabei sein sollte, auf der Südweide Zäune zu reparieren.“
„Ich habe mir den Nachmittag freigenommen, um mich um etwas anderes zu kümmern.“
„Und was ist dieses Andere?“ Sie suchte in seinem Blick nach Hinweisen auf sein Geheimnis. War es etwas Gutes? Etwas Schlimmes? „Was ist es? Sag’s mir.“ Er trug sein zweitbestes Sonntagshemd und darüber eine legere Sportjacke.
„Hör mal, Mister, bevor du weiterredest“, sagte Everleigh, hakte sich bei ihm unter und fuhr fort: „Egal, wie lange wir verheiratet sind, ich möchte einen richtigen Begrüßungskuss, wenn du abends nach Hause kommst. Und kein Sitzen auf dem Klo zum Zeitunglesen, bis dir die Beine einschlafen. Und ein Haus … Ach, Rhett, das wollte ich eigentlich gar nicht sagen, weil ich ja weiß, dass wir schon sparen, aber ich möchte so gern unser eigenes Haus. Können wir…“
„Hey, hey, Schätzchen, was ist denn los?“ Er hob ihr Kinn und küsste sie.
„Betty Jo hat gesagt, wie …“
Rhett lachte in ihr Haar. „Ach, die gute alte Betty Jo. Was hat sie denn jetzt schon wieder gesagt?“
Everleigh atmete Rhetts Duft nach Heu und Sonnenschein ein und antwortete: „Das Übliche. Nur Wäääh über die Ehe.“ Sie blickte zu ihrem Mann auf und fuhr ihm mit den Fingern durchs Haar. „Sie behauptet, dass die Flitterwochen bald zu Ende sind und du dann irgendwann nur noch müde und missmutig nach Hause kommst, vergisst, mir einen Begrüßungskuss zu geben, deine stinkigen Stiefel einfach irgendwo abschüttelst, mich fragst, was es zu essen gibt und dann zum Zeitunglesen auf dem Klo verschwindest.“
Rhett drückte sie mit einem Arm fest an sich. „Liebling, ich verspreche dir einen richtigen Kuss, wenn ich abends nach Hause komme, egal, was passiert ist, und der Mann, der auf dem Klo sitzt und Zeitung liest, ist mein Vater, nicht ich.“ Dann legte er die Hand aufs Herz, sah sie dabei mit seinen sehr blauen Augen an und fragte: „Glaubst du mir?“
„Ja, von ganzem Herzen.“
Daraufhin gab er ihr einen Kuss auf die Wange und flüsterte ihr ins Ohr, sodass sie von seinem warmen Atem eine Gänsehaut bekam: „Ich kann nicht aufhören an dich zu denken, weißt du das?“ Wieder fand sein Mund ihre Lippen und er fuhr fort: „Du lenkst mich ab. Mein Vater gibt mir Aufgaben, und ich erledige sie nicht, weil ich Tagträume von dir habe.“
Everleigh sah ihm in die Augen und spürte die Liebe, die sie dort sah, bis in ihr tiefstes Inneres. Sie wusste, dass ihr dieser Moment ewig in Erinnerung bleiben würde. „Wie komme ich bloß zu dem Glück, dich zum Mann zu bekommen?“
„Na, derjenige, der hier Glück gehabt hat, bin ja wohl ich. Aber könntest du mir vielleicht einen Gefallen tun? Bitte hör nicht mehr auf Betty Jo, ja?“
„Versprochen. Aber dann gibst du mir auch nicht mehr die Schuld, dass du deine Aufgaben nicht erledigst?“
Rhett lachte. „Abgemacht. Aber es stimmt ja. Ich kann tatsächlich an nichts anderes denken als an dich.“
Dabei funkelten seine Augen und weckten ihr Verlangen.
„Es sieht ja nicht gerade danach aus, dass die Flitterwochen vorbei sind, findest du nicht?“, fragte er.
„Keineswegs, Mr. Applegate“, antwortete sie darauf, stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen, und war froh, dass sie allein in dem Raum waren.
Es gefiel ihr, welche Macht sie über ihn hatte, aber auch der Zauber, den er auf sie ausübte, war nicht zu leugnen. Für ihn wäre sie zu Fuß bis ans Ende von Texas gegangen – sogar barfuß. Oder vielleicht ertrug sie für ihn fürs Erste einmal das Leben im Haus seiner Mutter.
Dort übernahm sie ohne sich je zu beklagen alle Aufgaben, die ihr aufgetragen wurden, und wenn Mama Applegate so redete, als wäre Everleigh Gast in ihrem Haus und nicht Familienmitglied, ertrug sie es klaglos, denn am Ende des Tages war sie Rhetts Frau. Sie allein war es, die seine Träume, sein Herz und sein Leben mit ihm teilte.
Und wenn sie nachts nicht schlafen konnte, war sein leiser Atem ihr Wiegenlied.
„So, ich muss jetzt wieder arbeiten, Liebling, sonst schaffe ich es nicht, rechtzeitig zum Abendessen wieder zu Hause zu sein“, sagte er schließlich. Sie zupfte an seinem Kragen und fragte: „Willst du mir nicht verraten, weshalb du hier in der Stadt bist?“
„Eigentlich wollte ich es dir erst heute Abend sagen, aber dann war ich so aufgeregt …“ Rhett ging hinüber zu dem Schreibtisch, der gegenüber von Everleighs stand, und hielt eine längliche weiße Pappröhre hoch. „Hier, mach auf. Ich fühle mich wie ein Kind zu Weihnachten kurz vor der Bescherung.“
„Was hast du getan, Rhett?“ Sie nahm die Verschlusskappe ab und zog einen Stoß Zeichnungen heraus.
„Komm, lass mich das machen“, sagte Rhett und rollte die Zeichnung eines wohnlichen Hauses mit einer umlaufenden Veranda, das von zwei Pappeln eingerahmt war, auseinander.
„Unser Haus, Everleigh. Ich habe die Skizzen, die du nach der Hochzeit gemacht hast, dem Architekten gegeben. Wie findest du es?“
„D… das ist unser Haus?“ Sie legte ihm den Arm um die Taille, lehnte sich gegen seinen starken Arm und schaute sich die Zeichnung genauer an.