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„Adoption? Bist du sicher?“
„Nein, sicher bin ich nicht, aber es gibt in der ganzen Sache gar nichts, was sich sicher oder richtig anfühlt.“
Da trat Hunter zur Seite und Beck ging ohne ein weiteres Wort an ihm vorbei durch den Mannschaftsraum davon. Vorbei an den Schreibtischen, die überliefen von Aktenbergen und leeren Kaffeebechern, vorbei an Detectives und Sergeants und den Leuten, die Innendienst hatten.
Im Umkleideraum zog sie sich um, verließ das Revier und trat hinaus auf die dunklen, belebten Straßen der Stadt. Sie ging die Treppe zur U-Bahn hinunter und fühlte sich eins mit den schwarzen Schatten und den fast leeren Wagen, die unter der Stadt entlangrasten, die niemals schläft.

KAPITEL 6
Everleigh
Mai 1953
Sie wachte spät auf und reckte und streckte sich im Vormittagssonnenlicht, das durch das Schlafzimmerfenster hineinschien.
Rhetts Seite des Bettes war schon leer und das Laken kühl unter ihrer Hand. Er war immer schon vor Sonnenaufgang auf den Beinen. Das Leben eines Ranchers war arbeitsreich.
Sie schob ihre Lockenpracht zurück, die ihr ins Gesicht fiel, und schaute zum anderen Ende des kleine Raumes auf den Blumenstrauß, den er ihr gestern geschenkt hatte, bevor sie in die Kirche gefahren waren.
„Zu deinem ersten Muttertag.“
Mama Applegate hatte über Rhetts Verschwendung nur ein leises Schnauben übriggehabt und die Bemerkung: „Man sieht es ja noch nicht einmal.“
Aber Rhett hatte sein Handeln energisch verteidigt. „Wenn es einen nicht zur Mutter macht, schwanger zu sein, dann weiß ich nicht, was es sonst tut.“
Danach war seine Mutter etwas weicher geworden, denn schließlich erwartete Everleigh ihr erstes Enkelkind. Das verlieh ihr etwas mehr Bedeutung in der starken texanischen Familie.
Sie stand auf und ließ ihren Blick über die schier endlose Ranch der Applegates schweifen. Irgendwo da draußen war er. Ihr Mann.
Seit sie ihm gesagt hatte, dass sie schwanger sei, arbeitete Rhett tagsüber auf der Ranch und abends an den Plänen für das Haus.
In der nächsten Woche wollte der Bauunternehmer mit den Erdarbeiten beginnen. Everleigh legte ihre Finger auf ihren lächelnden Mund.
Es wurde wirklich also etwas daraus. Sie bekamen ihr eigenes Haus. Wenn sie noch glücklicher wäre, würde sie wahrscheinlich platzen. War es richtig, dass eine einzige Frau so viel Liebe und Freude empfand?
Als es leise an der Tür klopfte, griff sie nach ihrem Morgenmantel, aber Mama Applegate stand schon im Zimmer, ohne auf ihr „Herein“ zu warten und zupfte an ihren weißen Spitzenhandschuhen.
„Wie geht es dir, Liebes?“
„Danke, gut. Immer noch keine Morgenübelkeit.“ Everleigh zog den Gürtel ihres Bademantels enger und sah sich nach ihren Hausschuhen um. Montags hatte sie bei Kestner’s frei und Rhett bestand darauf, dass sie sich ausruhte. Aber als Frau eines Ranchers und als Schwiegertochter von Heidi Applegate war das Herumliegen purer Luxus, denn es gab immer etwas zu tun.
„Dann kannst du wirklich von Glück reden. Bei mir war die morgendliche Übelkeit wirklich die Hölle. Na ja, auf dem Küchentresen stehen Salzstangen – für alle Fälle.“
Ihre Schwiegermutter sah sie dabei mit einem Maß an Mitgefühl an, das sie bisher noch nicht bei ihr erlebt hatte. Es war eine Art Zärtlichkeit, die ausdrückte, dass ihr klar war, was es bedeutete, neues Leben auf diese Welt zu bringen.
„Ich muss ein paar Besorgungen in der Stadt machen. Wenn du so weit bist, dann füttere doch bitte die Hühner und jäte im Garten Unkraut.“
„Gut, das mach ich.“
„Ich werde nicht rechtzeitig zum Lunch wieder da sein, also bediene dich. Spike und Rhett sind vor ungefähr einer Stunde auch in die Stadt gefahren, um sich dort mit einem neuen Züchter zu treffen, der anscheinend einen Tag früher in der Stadt ist als geplant. Rhett lässt dir ausrichten, dass du bitte den Katalog durchschauen sollst, den er dir gegeben hat. Er möchte heute Abend gern die restlichen Baumaterialien aussuchen.“ Mrs. Applegate wollte gerade die Tür wieder schließen, hielt dann aber noch einmal inne und sagte: „Und pass auf dich auf, ja? Halte auch einen Mittagschlaf, wenn du ihn brauchst.“
„Das mache ich. Gegen Mittag werde ich tatsächlich immer etwas müde.“
Die Augen der Älteren glänzten, als sie nickte und ein ganz klein wenig errötete. „Ich erinnere mich … ach ja, und kannst du bitte die Kartoffeln und Karotten fürs Abendessen schälen? Und die Äpfel für den Pie? Den Teig habe ich schon heute Morgen zubereitet und ihn in den Kühlschrank gelegt.“ Einen Moment lang blieb Mama Applegate noch in der Tür stehen und sagte dann noch: „Lass uns doch beim Abendessen heute das erste Applegate Enkelkind feiern.“ Sie ließ ihren Blick noch einmal durch das vollgestopfte Jugendzimmer ihres Sohnes schweifen und bemerkte: „Du bist bestimmt froh, wenn du hier rauskommst, das weiß ich. So … aber ich mach mich jetzt mal lieber auf den Weg … Ach ja, Spike hat heute Morgen einen von den Welpen abgegeben. Jetzt sind nur noch vier übrig. Ich habe ihm gesagt, dass dieser Wurf der niedlichste ist, den Lola je gehabt hat, und dass ich überlege, auch selbst einen zu behalten.“ Dann legte sie den Zeigefinger auf die Lippen. „Aber pst, lass das erst mal unser Geheimnis bleiben, ja?“
Daraufhin verschloss Everleigh mit einem imaginären Schlüssel ihren Mund, ihre Schwiegermutter lächelte, und die beiden hatten noch einen liebevollen gemeinsamen Moment, bevor die Ältere sich ein zweites Mal verabschiedete und die Zimmertür schloss.
Als sie weg war, nahm Everleigh ein Bad, zog sich an und wischte dann mit einem von Rhetts schmutzigen T-Shirts erst auf den Nachttischen und dann auf dem alten Schreibtisch am Fenster Staub, wo er sich jeden Abend mit den Bauplänen für das Haus beschäftigte.
„Ich liebe dieses Haus immer mehr“, sagte er, als er ins Bett kam und sich neben sie kuschelte, um ihren Bauch zu streicheln, bevor er dann das Licht ausschaltete. „Was meinst du, mein Sohn? Möchtest du in dem Haus in der Memory Lane aufwachsen?“
„Halt! Was ist denn, wenn es ein Mädchen ist? Sie wird glauben, dass du sie nicht magst.“
Dann küsste Rhett sie und sagte: „Sie wird mir wertvoll wie mein Augapfel sein.“
Everleigh zuckte zusammen, als sich in ihrem Bauch etwas regte. Spürte sie gerade zum ersten Mal das Kind? Der Arzt hatte gesagt, es sei noch zu früh, um Kindsbewegungen zu spüren, aber vielleicht ließ ihr Kind sie ja wissen, dass er oder sie unbedingt in dem herrlichen neuen Haus leben wollte, wo sie Erinnerungen schaffen würden – von Essen im Familienkreis, Brettspielen vor dem Zubettgehen, von Geburtstagen und Feiertagen, warmem Kaminfeuer im Winter und selbst gemachtem Eis im Sommer.
So, jetzt aber genug der Tagträumerei. Es wartete Arbeit auf sie, die erledigt werden musste. Sie band sich noch rasch ein Tuch um den Kopf und ging dann nach unten.
Als Erstes nahm sie die Küche in Angriff. Sie machte die Pfanne sauber, in der Mama Applegate zum Frühstück immer Eier und Speck für die Männer briet. Außer Rhett und seinem Vater arbeiteten noch Onkel Floyd, Cousin Mike und drei Angestellte auf der Ranch, und Mama Applegate und Tante Millie wechselten sich beim Zubereiten vom Frühstück und Lunch ab.
Als Nächstes schälte sie Kartoffeln, Karotten und Äpfel und naschte dabei ein paar Apfelspalten als verspätetes Frühstück. Dann nahm sie den Teig aus der Kühlkiste und ging anschließend gleich nach draußen, um die Gartenarbeit zu erledigen.
Als sie den Hühnerstall sauber gemacht, Unkraut gejätet und mit den Welpen gespielt hatte, hielt sie ein kleines Nickerchen auf der Bank unter den Pappeln, und dann war es auch schon nach zwölf Uhr und sie hatte Hunger.
Im Haus nahm sie eine Scheibe Brot aus dem Brotkasten, und als sie kurz darauf aus dem Fenster schaute, sah sie, wie sich am sonnigen Himmel jetzt Wolkenberge auftürmten. Wie sie es liebte, wenn am Nachmittag ein Regenschauer niederging!
Nach dem Lunch wollte sie noch einmal mit den Welpen spielen, und falls es dann regnete, würde sie erst den Pie zubereiten und danach die Materialien aussuchen, die Rhett brauchte.
Everleighs Magen knurrte, als sie erst die Brotscheiben mit Schinken und Käse belegte und sich dann noch ein Glas kalte Milch einschenkte. Sie nahm ihren Lunch mit nach draußen und hielt ihr Gesicht in die kühlende Brise, die schon nach Regen roch.
Beim ersten Bissen von ihrem Sandwich ging ihr das Herz auf. Sie musste regelmäßiger essen und nicht erst, wenn sie vor Hunger beinah umfiel, denn schließlich wuchs ein Kind in ihr heran. In der Zwischenzeit hatten sich Lolas Bordercollie-Welpen um ihre Füße herum versammelt, wo sie fiepten und jaulten und versuchten, an ihren Beinen hochzuklettern, um einen Bissen abzubekommen.
Sie hatte sich schon entschieden, den kleinsten und mickrigsten Welpen aus dem Wurf zu behalten und ihn mit in die Memory Lane zu nehmen. Sie hatte ihm den Namen Rocco gegeben.
Der Wind zauste in den Zweigen der Bäume und drehte die Blätter mit der Unterseite nach oben, ein sicheres Zeichen, dass es regnen würde. Außerdem türmten sich die bedrohlichen Wolkenberge immer höher auf.
Der Wind wehte Everleigh die Serviette vom Schoß und Rocco schloss sich seinen Geschwistern bei der Jagd nach dem Stück Stoff an.
Als sie den letzten Bissen ihres Schinken-Käse-Sandwichs verzehrt und mit einem Schluck Milch hinuntergespült hatte, nahm sie dem größten der Welpen, der offenbar Tauziehen spielen wollte, die Serviette wieder ab.
„Komm, gib schon her, mein kleiner Schatz“, sagte Everleigh und musste lachen, als er sich auf seinen winzigen Hintern ins Gras setzte und knurrte, so laut er konnte.
Das Geräusch des Windes hatte sich inzwischen verändert und sie wollte möglichst schnell wieder ins Haus. Sie hob die Welpen – erst Rocco und dann auch alle anderen – in ihre Schürze – und als sie gerade bei der Hintertür ankam, die in die Küche führte, fing es an, in dicken Tropfen zu regnen.
Everleigh stellte ihr benutztes Geschirr in die Spüle und setzte die Welpen auf dem Linoleumfußboden ab, bevor sie dann durchs ganze Haus ging und alle Fenster schloss.
Mama Applegate erlaubte eigentlich nicht, dass die Hunde mit ins Haus kamen. „Sie haben ein sehr schönes Zuhause in der Scheune“, sagte sie immer – aber Everleigh hatte keine Zeit mehr, noch einmal zurück zur Scheune zu gehen und sie zu ihrem Lager aus Heu zu bringen.
Sie errichtete deshalb aus Küchenstühlen eine Absperrung, sodass die Welpen unter dem Tisch eine Art Pferch hatten, und gab jedem zwei Happen von dem Hähnchen, das es letzten Abend zum Essen gegeben hatte.
„So, und jetzt benehmt euch, während ich den Pie mache.“
Der Regen prasselte gegen die Fensterscheiben, und als sie den Teig ausrollte, schaute Everleigh immer wieder hinaus.
Aus dem Ächzen und Stöhnen des Windes war inzwischen ein Heulen geworden.
Und sie hatte gerade den Pie in den Ofen geschoben, als das Haus so heftig von einer Windbö getroffen wurde, dass die Fensterscheiben klirrten.
Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab und schaltete das Radio in der Küche ein, um Nachrichten zu hören, doch es kam nur statisches Knistern heraus.
Wieder heulte und pfiff der Wind und es klang fast wütend und unheimlich.
Das ganze Haus bebte so heftig, dass der Kronleuchter ins Schwingen geriet und ein Glas aus dem offenen Regal über der Spüle fiel. Everleigh war gerade dabei, die größeren Scherben in den Mülleimer zu werfen, als die Südseite des Hauses von einer Windbö getroffen wurde und in der oberen Etage ein lautes Geräusch zu hören war, so als ob etwas splitterte.
Everleighs Herz pochte jetzt so heftig, dass es ihr in den Ohren dröhnte, während sie die Küchenstühle zur Seite zog und den zitternden Welpen zuraunte „Kommt mal her.“
Die zappelnden kleinen Körper an ihre Brust gepresst, ging sie rückwärts zur Fliegengittertür, um sich vorsichtshalber im Keller in Sicherheit zu bringen, der bei Sturm den besten Schutz bot.
Der Sturm peitschte ihr den Regen ins Gesicht und drückte sie gegen einen der Stützpfeiler der Veranda, sodass sie beinah den kleinen Rocco losgelassen hätte.
Sie musste unbedingt den Keller erreichen, brauchte aber alle Kraft, ihre gesamte Kraft, um die Veranda überhaupt verlassen zu können. Dabei rutschte sie auf dem nassen Holz aus, taumelte rückwärts und konnte den größten Welpen nicht mehr festhalten. Der fiel zu Boden, jaulte laut auf und rannte hektisch im Kreis herum.
Sie rief ihn, aber der Wind war so laut, dass ihre Stimme nicht zu hören war. Sie schlang ihren einen Arm fest um den Stützpfosten der Veranda, um nicht weggeweht zu werden und verstaute Rocco mit der anderen Hand in ihrer Schürzentasche, während sie gleichzeitig versuchte, die anderen beiden zappelnden Welpen festzuhalten und den völlig panischen größten am Nackenfell wieder hochzuheben.
Als sie es geschafft hatte, rannte sie geduckt mit einem wilden Schrei fast wahnsinnig vor Angst und völlig durchnässt hinüber zum Keller.
Sie erreichte die in den Boden eingelassene Kellerluke, griff nach dem verrosteten Metallgriff, aber ihre Finger rutschten ab, und sie geriet ins Stolpern, als eine Bö sie erfasste, sodass sie einen Satz nach vorn machte.
Ihr Kleid klebte völlig durchnässt an ihren Beinen, und die Welpen winselten und jaulten, als sie noch einmal an den Griffen der Tür zog.
Adrenalin überschwemmte ihren Organismus, ließ dann wieder nach, und sie blieb zitternd und mit weichen Knien stehen, gefangen in ihrem vor Nässe schweren Kleid.
Das Heulen des Windes wurde immer lauter, und wie mit dunklen wirbelnden Fingern schnappte er sich alles, was sich auf dem Boden befand.
Einen Moment lang war Everleigh wie erstarrt. Es war ein Tornado, ein Wirbelsturm! Als ihr das klar wurde, bekam sie übermenschliche Kräfte und zog die Tür gegen den Widerstand des Windes auf. Sie ging die schmale Treppe hinunter und gelangte schließlich auf den kalten Lehmboden des Kellers, wo sich die Welpen aus ihrem Griff befreiten. Sie hörte, wie der Sturm die Kellertür mit einem lauten Knall wieder zuschlug.
Zitternd tastete sie im Dunkeln nach der Taschenlampe und fand sie tatsächlich in dem Regal, wo Rhett sie vor einem halben Jahr deponiert hatte. Sie waren damals dort unten gewesen, um Lebensmittelvorräte für den Notfall zu lagern, und hatten sich wie frisch verliebte Teenager aufgeführt.
Doch jetzt hatte der Keller absolut nichts Behagliches oder Romantisches mehr. Als Everleigh die Taschenlampe einschaltete, ließ sie den Lichtkegel an den Wänden und auf dem Boden des Kellers entlanggleiten, bis sie die Welpen entdeckte, die dicht aneinandergeschmiegt auf einer alten Pferdedecke lagen.
Über ihnen toste der Sturm und rüttelte an der metallenen Kellerluke, sodass sie einen Spaltbreit aufging und dann mit einem lauten Knall wieder zuschlug.
Sie ging zu den Welpen hinüber, kauerte sich dort neben ihnen auf den dunklen Boden und stieß nach einem langen, ängstlichen Atemzug einen Angstschrei aus, der es mit dem Tosen des Tornados über ihnen aufnehmen konnte.

Beck
Den ganzen ersten Tag nach ihrer Suspendierung verschlief sie, um wieder in den normalen Tag-Nacht-Rhythmus hineinzufinden. Schon am zweiten Tag wurde sie rastlos und suchte im Internet nach einem billigen Flug nach Florida.
Am dritten Tag nahm sie endlich ihren Arzttermin wahr und ließ die Sprechstundenhilfe, die sie mit Verachtung strafte, weil sie ihre Schwangerschaftsvorsorge vernachlässigte, kühl abblitzen.
Die Ultraschalluntersuchung ergab, was sie ohnehin schon wusste, nämlich dass sie ein Mädchen erwartete. Der Arzt verschrieb ihr Vitamine und gab ihr einen neuen Termin in vier Wochen. Nur mit Mühe gelang es ihr, den Termin noch zwei Wochen länger hinauszuschieben mit der Begründung, sie müsse nach Florida.
Sie würde also wirklich dorthin fliegen. Na gut, warum nicht? Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass die Sache mit dem Haus ein Scherz war – und etwas anderes hielt sie für eher unwahrscheinlich – konnte so eine Reise nach Florida ja auch Spaß machen. Zumindest konnte sie dadurch dem Winter in New York und Hunter eine Weile entfliehen.
Am vierten Tag rief sie Miss Everleighs Anwalt Mr. Joshua Christian an, und ließ sich von ihm bestätigen, dass sie tatsächlich als Erbin eingesetzt war. Er sagte, er freue sich und würde sie gern vom Flughafen abholen, aber sie wollte sich lieber ein Taxi nehmen.
Am Nachmittag des fünften Tages ihrer Suspendierung nahm Beck den Zug nach Brooklyn Height und klopfte an Phil Hogans Tür.
Obwohl er sie bei der internen Ermittlung verpetzt hatte, brauchte sie seinen väterlichen Rat, weil sie nicht wusste, was sie tun sollte, obwohl sie auch schon mit ihrer Mutter und Flynn gesprochen hatte – über das Haus, nicht über das Baby – und beide sie gedrängt hatten, nach Florida zu fliegen und sich das Haus anzuschauen.
„Mist, vielleicht schlage ich auch mal jemanden, damit ich suspendiert werde“, scherzte Flynn und warf dann rasch einen Blick zu ihrer Mutter. Er tat, was er immer tat. Er versuchte, die Situation aufzulockern.
Ihre Mutter reagierte auf die für sie typische pragmatische Weise. „Vielleicht hilft dir das ja, dich wieder zu erinnern, Beck. Miss Everleigh hat dich wirklich geliebt. Eigentlich uns alle, aber dich ganz besonders.“
„Warum denn das?“
„Dein Vater hat immer gesagt, dass ihr wie Seelen-Zwillinge wart, die mit sechzig Jahren Altersunterschied geboren wurden. Er war Miss Everleighs Sommerhandwerker. Ich frage dich, wer fährt in den Urlaub, um dort Reparatur- und Wartungsarbeiten an einem alten Haus durchzuführen? Den größten Teil des Sommerurlaubs hat er mit Hammer oder Pinsel in der Hand verbracht. Das gefiel ihm. Ich habe Bücher gelesen, beim Kochen geholfen und bin mit dir und dem Nachbarsjungen Bruno an den Strand gegangen …“ Ihre Mutter seufzte. „Das war wirklich eine schöne Zeit.“
In dem Moment ging die Tür auf. Hogan trat zur Seite und bat sie in seine warme Wohnung. „Mit dir habe ich wirklich nicht gerechnet“, sagte er nur.
„Ich hätte vorher anrufen sollen“, entschuldigte sie sich, schaute sich in seiner Junggesellenbude um und wünschte, er hätte eine gemütliche, einladende Wohnung gehabt statt einer Schlafstätte, die eingerichtet war wie die eines Mannes, der alles verloren hatte und nicht glaubte, eine echte, zweite Chance verdient zu haben. Die Wohnung war kärglich mit gebrauchten, aber hübschen Möbeln möbliert, und an den Wänden hingen Fotos und Gemälde.
„Hast du geschlafen?“, fragte Beck und entschied sich für den Stuhl an der Tür.
„Nein, ich bin schon eine Weile auf.“ Er ging in die kleine Küche, die direkt neben dem Wohnzimmer lag und erklärte: „Ich schlafe nicht gut ohne Claudia. Weiß nicht, ob sich daran noch jemals etwas ändert. Möchtest du was zu trinken?“
„Wasser“, antwortete Beck, stellte ihren Rucksack auf den Boden und zog ihre Jacke aus.
Ihr alter Freund und Mentor kam mit einer Flasche kaltem Wasser für sie und einer Limoflasche für sich selbst zurück und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Es vergingen einige Sekunden, in denen sie schweigend so taten, als müssten sie erst einmal ihren rasenden Durst stillen.
„In einer Stunde muss ich los zur Arbeit“, sagte er.
„Ja klar.“ Beck saß mit geradem Rücken auf der Stuhlkante, die Hände zwischen die Knie geklemmt. „Ich wollte dich nur fragen …“
„Hör mal“, sagte er und beugte sich auf seinem Stuhl vor. „Ich hatte keine andere Wahl. Meine Body-Cam hat aufgenommen, wie du Boudreaux geschlagen hast.“
„Ich weiß. Ich weiß ja …“
„Sie haben die Geschichte schon gekannt, bevor sie nachgefragt haben, und dann haben sie Zeugen angerufen, die sich beschweren sollten. Alles Zeugen, die auf Vinny Campaniles Gehaltsliste stehen. Aber die Polizeiführung hat es ihren Leuten diesmal nicht durchgehen lassen. Dazu kommt ja noch, dass du einfach den Dienst verlassen hast, Beck, und das konnte ich wirklich nicht decken.“
„Tut mir leid, dass ich dich in Schwierigkeiten gebracht habe.“
„Du kennst meine Geschichte, Beck. Ich kann es mir nicht leisten, aus der Reihe zu tanzen, und zwar kein einziges Mal. Meine Weste muss blitzsauber bleiben.“
„Ich bin schwanger, Hogan“, sagte sie jetzt ganz sachlich.
Mit der Flasche an den Lippen starrte er sie an. „Was?“
„Ich bin schwanger.“ Sie wand sich, als sie es noch einmal aussprechen musste.
„W… wie denn? Wann?“
„Wie? Na, auf die ganz altmodische Art und Weise. Wann? Letzten August bei Rosie’s nach dem aufgeflogenen Undercover-Einsatz “
„Von wem denn? Jetzt sag bloß nicht von Detective Myron. Das ist so ein …“
„Myron? Also bitte …“, sagte Beck und zog ein Gesicht. „Glaubst du wirklich, mit dem würde ich mich einlassen …?
„Okay, okay, ist ja schon gut“, sagte Hogan mit erhobenen Händen, als müsse er sich gegen ihr Trommelfeuer wehren. „Von wem denn dann? Als ich damals gegangen bin, hast du mit Lieutenant Ingram Billard gespielt. Und du warst ziemlich voll.“
„Von wem spielt keine Rolle“, sagte sie, weil er der Wahrheit schon viel zu nah kam. „Es ist eben einfach passiert.“ Sie hatte schon viel zu viel preisgegeben. Wieso hatte sie das Rosie’s überhaupt erwähnt? Das grenzte die Anzahl der infrage kommenden Väter nämlich schon viel zu sehr ein.
„Wer ist der Vater, Beck?“
„Ein Mann.“
„Das ist ja wohl Voraussetzung. Weiß er es?“
Sie nickte. „Ich habe es ihm gesagt, frage mich aber schon jetzt, ob ich es nicht lieber für mich behalten hätte.“
„Was hat er denn gesagt?“
„Das ist alles ziemlich kompliziert. Ich regle das jedenfalls alleine.“
„Sag mir, wer es ist, Beck“, sagte Hogan und stellte mit Wucht seine Limoflasche ab. „Er kann doch nicht einfach seinen Spaß haben und sich dann vor der Verantwortung drücken.“
„Das ist geregelt, Hogan“, sagte Beck darauf nur, nahm ihr Wasser in beide Hände und wiegte sich nervös vor und zurück.
„Jetzt verstehe ich auch, wieso du Boudreaux geschlagen hast. Das lag an den Hormonen.“
„Nein, Hogan, das lag einzig und allein an Boudreaux. Hormone hin oder her, er hatte es verdient.“ Sie sprang auf, ging zur Küche und lehnte sich dort an die Wand. „Ich weiß nicht, was ich tun soll, Hogan. Jedes Mal, wenn ich mich hinsetze und über die ganze Sache nachdenke, werde ich verrückt. Ich habe das Gefühl, dass ich gleich anfange zu weinen und im nächsten Moment werde ich wütend, weil ich es hasse zu weinen. Ich bin Polizistin bei der Polizei in New York, Hogan. Ich sorge für Recht und Ordnung und zerbrösele doch nicht einfach so. Das ist meine Art, meinen Vater zu ehren, auch wenn ich mich nicht an ihn erinnern kann.“
„Jeder zerbröselt und zerbricht ab und zu. Jeder braucht Gerechtigkeit, Beck, und ich glaube, dass auch du nicht über dem Wunsch stehst, selbst etwas gegen Unrecht zu tun. Die Tatsache, dass du Polizistin bist, bedeutet doch nicht, dass du kalt und gefühllos sein musst. Du bist in erster Linie eine Frau, und es ist absolut in Ordnung, wenn du dich auch so verhältst. Du brauchst weder die Eiskönigin zu sein noch der Vorstellung gerecht zu werden, die du vom heldenhaften Vermächtnis deines Vaters hast.“
„Eiskönigin? Wer sagt denn das über mich?“ Vom ersten Tag bei der Polizei an war sie zwar immer sehr direkt und völlig schnörkellos gewesen, aber nie kalt oder gefühllos. „Und wie sollte ich denn nicht den Wunsch haben, dem Vermächtnis meines Vaters gerecht zu werden? Ich bin doch ständig davon umgeben, weil die Kollegen von damals doch bis heute Geschichten über ihn erzählen.“