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„Aber es ist völlig in Ordnung, dass du nicht er, sondern du bist. Nicht mehr und nicht weniger erwarten wir von dir. Und was die Eiskönigin betrifft …“ Hogan lächelte. „Ich dachte, den Spitznamen würdest du kennen. Dann wirst du jetzt also Mutter?“
„Den? Wie viele gibt es denn noch?“
Er hob kapitulierend eine Hand. „Nur diesen einen – der ja gar nicht zutrifft und das weißt du auch. Du bist gar nicht so eisig, wie manche Leute gern glauben möchten.“
„Vielleicht“, lenkte sie ein und trank ihr Wasser in einem Zug aus. „Ich habe mich selbst nie als Mutter gesehen, Hogan, einmal ganz abgesehen davon, dass sie auch noch ohne Vater aufwachsen muss. Und das möchte ich nicht für sie. Jedes Mädchen braucht seinen Vater.“
„Dann lass doch ihren Vater nicht einfach ziehen, nur weil es kompliziert ist, Beck, sondern zieh ihn zur Verantwortung.“
„Er ist verheiratet, Hogan.“ Da hatte er es. Zufrieden?
„Ach so.“ Das war eine schlichte, aber gewichtige Aussage.
„Und wie kann ich dir helfen?“
Eine kleine Träne sammelte sich in ihrem Augenwinkel. „Sag mir, was ich tun soll.“
„Es sieht doch ganz so aus, als ob du dich schon entschieden hättest. Wie weit bist du denn? Wenn es nach dem Undercover-Einsatz passiert ist, müsstest du ja schon fast im sechsten Monat sein. Weiß deine Mutter schon Bescheid?“
„Nein, noch nicht. Mir ist gerade nicht besonders nach einem Vortrag.“
„Komm schon, Beck, jetzt trau ihr doch mal was zu.“
„Mama und ich haben uns nie besonders nahegestanden, Hogan, besonders nach Papas Tod. Wir haben nur nebeneinander her gelebt und dann kam Flynn und dann waren sie auch schon verheiratet und ich kann mich an nichts aus meiner Kindheit mehr erinnern.“
Beck ging wieder zurück zu ihrem Stuhl, zog den Reißverschluss des Rucksacks auf, nahm Everleigh Callahans Testament heraus. Sie gab es ihm und fragte: „Was hältst du hiervon?“ Wenn sie das Gespräch in Gang hielt, dann würden ihre Tränen sicher wieder vergehen. „Ich habe ein Haus in Florida geerbt.“
„Du hast ein Haus geerbt?“, fragte Hogan erstaunt und nahm ihr das Schreiben ab. „Ich wusste gar nicht, dass du Verwandtschaft in Florida hast.“
„Das Haus ist auch gar nicht von Verwandten“, erklärte sie daraufhin. Ihre Mutter hatte an diesem Tag beim Frühstück mehr Einzelheiten verraten. „Papa hatte Ende der Fünfziger-, Anfang der Sechzigerjahre einen Onkel, eine Tante und eine Cousine in Florida, die aber irgendwann nach New York gezogen sind. Jedenfalls lebte gegenüber von diesen Verwandten eine ältere Frau, die für die Familie wie eine Oma oder eine alte Tante war. Papa hat da als Kind ein paar Jahre lang mit seiner Familie Ferien gemacht, wahrscheinlich bis sein Onkel umgezogen ist. Mama konnte sich nicht mehr so genau erinnern. Als ich dann geboren wurde, wollten sie jedenfalls noch mal in dieses … Fernandina Beach reisen, damit ich auch so schöne Erinnerungen an Sommerferien sammeln konnte wie mein Vater. Anscheinend haben wir damals bei dieser alten Dame, Everleigh Callahan, gewohnt. Jetzt ist sie an Thanksgiving gestorben und hat mir ihr Haus vererbt.“
Hogan blickte von dem Testament auf und sagte: „Dein Vater hat in einem Frühjahr mal versucht, ein paar von uns zu überreden, mit ihm zum Angeln da runterzufahren. Aber daraus ist nie etwas geworden.“ Er gab Beck das Dokument zurück und fragte: „Kannst du dich an den Ort erinnern?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Alle Erinnerungen, die mit meinem Vater zu tun haben, sind weg.“
Das stimmte, und sie war es so sehr gewohnt, dass ihr oft gar nicht mehr bewusst war, was für eine tief greifende Bedeutung diese Worte hatten. Jede Erinnerung, die in Verbindung mit ihrem Vater stand, war vor achtzehn Jahren ausgelöscht worden.
Als ihr Vater nach den Terroranschlägen vom 11. September tot aus den Trümmern des Nordturms geborgen worden war, war ihre Mutter wie erloschen gewesen und hatte voller Trauer und Angst versucht, ihre neue Lebenswirklichkeit zu begreifen. Dabei hatte sie nicht gemerkt, wie ihre Tochter halt- und ziellos hinter ihr her irrte.
Beck hatte Trost bei ihrer Mutter gesucht, aber die war gar nicht anwesend gewesen. Ihr Licht leuchtete nicht mehr, und das war vielleicht der Grund, weshalb Beck als Vierzehnjährige Trost im Schatten der Nacht und Frieden im Vergessen gefunden hatte.
Sie lebten in einer funktionierenden, aber emotional leeren Welt. Das zeigte sich darin, dass ihre Gespräche oberflächlich waren und sich eigentlich ausschließlich um praktische Dinge drehten.
„Wie kommst du denn heute vom Training nach Hause?“
„Ellies Mutter.“
„Kannst du heute putzen? Ich muss Überstunden machen.“
„Kann ich eine Taschengelderhöhung bekommen?“
„Nein, ich brauche jeden Cent, damit ich das Haus halten kann.“
Beck verbrachte viele Abende allein bei Popcorn und Diät-Cola als Abendessen, ohne etwas zu fühlen und ohne sich zu erinnern.
„Du solltest hinfahren und es dir wenigstens anschauen“, riet Hogan ihr.
„Das sagen meine Mutter und Flynn auch.“ Und Hunter.
Flynns Liebe hatte zwar ihre Mutter wieder ins Leben zurückgeholt, aber nicht Beck. Das frischgebackene Paar hatte sich große Mühe gegeben, sie in ihr Märchen einzubeziehen, aber da war Beck schon fünfzehn gewesen, und ihre Schutzschilde waren undurchdringlich geworden.
„Ich glaube, diese Testamentsgeschichte könnte dir neue Möglichkeiten eröffnen, und Beck, hey, Vinny Campanile hat Kontakte nach Nordflorida. Du könntest doch dort ein bisschen die Augen offen halten …“
„Du hörst dich an wie Ingram. Außerdem bin ich sus-pen-diert, du erinnerst dich? Wenn ich dort hinfahre, dann privat.“
„Gut, dann fährst du also.“
„Aber was fange ich denn da unten an, solange ich dort bin?“
„Was jeder in den Ferien macht. Du brauchst doch nicht schon im Voraus alles zu wissen.“
„Doch, muss ich wohl, weil mir das Ganze sonst zu viel Angst macht.“ Papa ist auch in den Nordturm gerannt, ohne zu wissen …
„Und das sagt das Mädel, das ohne zu zögern auf einen dunklen Hinterhof läuft. Komm, es ist doch dein Leben, Risiken einzugehen.“ Aber stimmte das wirklich? Dunkle Hinterhöfe waren eine andere Form des Unbekannten. Sie waren lediglich Hindernisse bei der Jagd nach Tätern oder bei der Rettung von Opfern. „Geh das Risiko ein, lass dich überraschen und schau, was das Leben, oder auch Gott, noch alles für dich bereithält. Versuche zu glauben. Vielleicht kommt ja dort …“
„Ich habe meinen Teil an Überraschungen von Gott gehabt, Hogan – vielen Dank auch.“
„… deine Erinnerung wieder zurück“, beendete er seinen Satz.
Sie zuckte zusammen, ging zum Fenster und schaute hinunter auf die Straße, an der auf beiden Seiten Autos geparkt waren. Sie sprach so gut wie nie über den Verlust ihrer Erinnerungen. Der war inzwischen einfach ein Teil von ihr. Aber jetzt, da er davon angefangen hatte …
„Das macht mir am meisten Angst, Hogan. Was ist das Schreckliche, das hinter der Amnesie lauert?“
Es waren nämlich nicht sämtliche Erinnerungen an ihre Kindheit weg. Sie erinnerte sich daran, wie sie mit dem Fahrrad in der Nachbarschaft herumgefahren war, wie sie bei Ellie Yarborough übernachtet hatte und wie sie in der fünften Klasse beim Krippenspiel mitgespielt hatte.
Aber Heiligabende, Geburtstage, Ferien, bei denen ihr Vater dabei gewesen war, waren schwarze Löcher. Er war eine Figur aus einer Geschichte, die Mama alle Jubeljahre einmal erwähnte.
„Überleg nicht lange, Beck. Fahr nach Florida, lass dir die Sonne auf den Pelz scheinen, atme, iss, denk nach und bete. Du kannst kein Baby austragen, wenn du dich nur von Kaffee und Donuts ernährst.“
„Na, ab und zu esse ich ja auch einen Hot Dog“, erklärte Beck und kam wieder zurück zu ihrem Stuhl. „Machst du dir gar keine Sorgen, dass die Sonne von Florida die Eiskönigin vielleicht schmelzen könnte?“
Hogan lachte. „Das wollen wir mal hoffen.“
„Ich nehme den Hund mit.“
„Gut. Der kann sicher auch ein bisschen Ruhe gebrauchen.“
Beck stellte sich vor, wie sie auf ihr unbekanntes Haus in Florida zuging – nach Aussage von Joshua Christian ein altes viktorianisches Gebäude –, mit ihrem Koffer und einem zappeligen Beetle Boo. „Wahrscheinlich spukt es da.“
Sie stellte sich vor, wie der Wind an den Dachtraufen entlang heulte und die Dielen unter ihren Füßen knarrten.
„Was soll denn da spuken? Deine verloren gegangenen Erinnerungen?“ Hogan zog die Augenbrauen hoch und schaute dann auf seine Uhr.
„W… was, wenn ich mich wieder erinnere? An meinen Vater?“ Beck nahm Hogans Wink auf und griff nach ihrer Jacke.
„Wäre das nicht gut?“, fragte Hogan, während er ihr in die Jacke half.
„Doch es sei denn, ich habe alles aus einem bestimmten Grund vergessen.“
„Aus welchem denn zum Beispiel? Er war doch völlig vernarrt in dich und du hast ihn vergöttert.“
Hogan schloss sie in die Arme und Beck lehnte sich entspannt an seinen starken Körper an. „Fahr hin, hab Spaß und lass mal ein bisschen Licht in dein Leben.“
„Ich werde schmelzen, ich sag’s dir“, sagte sie dazu und unterdrückte den Schluchzer, der in ihr aufstieg. Aber als Hogan ihr dann einen Kuss auf den Kopf drückte, brach sie zusammen und klammerte sich an seine Brust. Einen Arm um ihre Schultern gelegt hielt er sie fest und flüsterte Worte, die sie kaum verstehen konnte.
Dann sammelte sie sich wieder, wischte sich die Augen und ging zur U-Bahn. Als sie in dem dunklen, ratternden Waggon saß, atmete sie eine Frage gegen die Fensterscheibe.
„Was soll ich tun?“ Die Frage war an niemand Bestimmten gerichtet, eher ans Schicksal, das Universum, Gott.
Geh nach Florida.
Der Gedanke kam leise, fast flehend, und je mehr sie über diesem Drängen meditierte, desto mehr Adrenalin wurde ausgeschüttet – mit einer beinah überbordenden Wucht.
Also gut, dann würde sie gehen. Sie würde ihren Bikini – okay, vielleicht den dann doch nicht – aber ein paar Shorts und Flip-Flops einpacken, ein Ticket buchen, eine Hundetransportbox besorgen und dann die Flügel ausbreiten, um für den Winter nach Florida zu fliegen.

KAPITEL 7
Bruno
Er hatte Abschiede noch nie leiden können, ganz besonders, wenn es endgültige waren, aber Miss Everleigh hatte ein Recht darauf, dass er ihr die letzte Ehre erwies und auf seine Anwesenheit.
Er stand beim Eingang der Gemeinde, in die er schon als Kind gegangen war, und schaute zu, wie die Trauergäste eintrafen und sich gegenseitig unter Tränen mit Umarmungen begrüßten.
In seiner Kindheit und Jugend hatte er diesen Ort so gar nicht gemocht – seine Mutter hatte ihn zur Sonntagsschule und zur Jugendgruppe geschleppt, bis er endlich ausgezogen und aufs College gegangen war. Heute dagegen waren die vertrauten Gemeinderäume eher tröstlich für ihn.
Jetzt, da er älter war, verstand er das Bedürfnis seiner Mutter nach Gott und der Gemeinde während der Zeit als alleinerziehende Mutter. Gott und die Menschen, die zu ihm gehörten, waren eine gute Option.
Der Abschiedsgottesdienst für Miss Everleigh fand in dem Gottesdienstraum statt, der früher einmal ein Lagerhaus gewesen war, aber eigentlich für die wachsende Gemeinde längst zu klein, und deshalb immer überfüllt war. Die Tore an den ehemaligen Laderampen waren geöffnet, sodass die Januarbrise mit einem Hauch von Himmel hindurchwehte und der Westeingang wie ein Rahmen für den feuerroten Sonnenuntergang wirkte. Die perfekte Ehrung für Miss Everleigh.
Seine Mutter und ihr Team hatten den eher rustikalen Gottesdienstraum in eine Art Wunderland verwandelt, indem sie überall an den Deckenbalken Lichterketten kreuz und quer durch den Raum gespannt und an den Seiten Kerzen aufgestellt hatten.
Vorn auf dem Podium standen die Sänger und Musiker und ein großes gerahmtes Bild von Miss Everleigh aus jüngeren Jahren. Sie war eine Schönheit gewesen. In dem Moment, als er gerade Mr. Smock zunickte, der sich neben ihn stellte, hörte er den Signalton seines Handys. Es war eine Nachricht von der Ohio State University, Todd Gamble, seinem Neuzugang.
Haben Sie früher in LA gearbeitet?
Ja.
Können Sie mich mit Sabrina Fox bekannt machen?
Das war typisch für hochkarätige Neulinge. Sie wollten, dass man ihnen den Mond und die Sterne vom Himmel holte. In einem Jahr hatte bei Watershed einmal ein Junge, der als Top-Kandidat ausgewählt worden war, verlangt, Beyoncé kennenzulernen. Und Bruno hatte es hinbekommen.
Klar. Ich werde sehen, was ich machen kann.
Es war das Eine, wenn ein Spieler materielle Dinge wollte oder Kontakte. Eine Agentur, die genug Geld hatte, konnte alles möglich machen. Ein romantisches Treffen zu zweit war da schon etwas ganz anderes. Es machte Bruno nervös – so wie Herzensangelegenheiten allgemein.
Doch er brauchte unbedingt einen Vertrag mit einem Top-Talent, und wenn Todd ein schönes Starlet kennenlernen wollte, dann würde er ein wunderschönes Starlet kennenlernen.
Außerdem war Sabrina Bruno noch einen Gefallen schuldig, und deshalb war es wahrscheinlich gar nicht so schwer, sie dazu zu bewegen, wenigstens mit dem Spieler zu reden.
Während immer noch Trauergäste eintrafen, tippte Bruno noch eine Nachricht an Todd, einen als All-American ausgezeichneten Abwehrspieler.
Komme Dienstag mit dem Flieger. Privatjet. Schicke eine Limo, um dich vom Campus abzuholen. Bring mit, wen du möchtest, solange wir Zeit haben, auch Geschäftliches zu besprechen.
Cool! Bis dann.
Als er sein Handy wieder einsteckte, tätschelte Mrs. Gunter seine Hand. „Ich weiß, dass du Miss Everleigh sehr gern gehabt hast. Sie war doch wie eine Großmutter für dich, nicht wahr?“
„Ja, das war sie.“
Die Frau sah ihn mit abwartend verkniffener Miene an, als wartete sie darauf, dass er zusammenbräche.
„Sie wird fehlen“, sagte er aber nur.
„Ohne sie wird unser Gebetskreis nie mehr so sein, wie er war. Ach, da kommt ja Letty Macintosh, die muss ich begrüßen.“
Wieder allein, schrieb Bruno seinem Freund, dem Piloten Stuart Strickland, noch rasch eine Nachricht.
Dienstag? Alles klar? Ich weiß das wirklich zu schätzen, Mann.
Wer hätte gedacht, dass der Verlust seines lukrativen Jobs, sein Umzug einmal quer durchs Land in ein Strandapartment und ein beruflicher Neuanfang den Bonus eines Privatpiloten mit sich bringen würden?
Dieser Luxus war Stuarts reichem Großvater zu verdanken.
Stuart antwortete auf seine Nachricht.
Geht klar. Zehn Uhr.
Und da er jetzt das Handy sowieso schon in der Hand hatte, konnte er sich auch ebenso gut gleich mit Sabrina in Verbindung setzen.
Sabrina, ich hab da einen Spieler, der dafür sterben würde, dich kennenzulernen. Ist ein guter Typ. Von der Ohio State. Interessiert? Hoffe, es geht dir gut. Und vergiss nicht, du bist mir einen Gefallen schuldig.
Eigentlich war sie ihm gar nichts schuldig, aber er hatte sie vor ein paar Jahren auf einer Party vor einem betrunkenen Spieler von den LA Lakers gerettet. Sie war jung und unerfahren und ganz neu in der Hollywood-Szene gewesen und hatte sich mit einem riesigen, ausgehungerten Sportler, der es gewohnt war zu bekommen, was er wollte, in eine unangenehme und peinliche Situation gebracht.
Seit damals waren sie gute Freunde.
Bruno ließ seinen Blick durch den Raum wandern und sein Blick fiel auf das Kreuz ganz hinten im Gottesdienstraum. War es angebracht, während des Trauergottesdienstes für eine so liebenswerte und gottgefällige alte Dame um etwas Persönliches zu bitten?
In dem Moment kam seine Mutter zu ihm und berührte ihn sanft am Arm. Sie sah sogar in Schwarz hübsch aus.
„Ich habe uns ganz vorn zwei Plätze freigehalten. Schau doch nur, wie viele Leute gekommen sind.“
„Die Überfüllung verstößt bestimmt gegen die Brandschutzbestimmungen“, sagte Bruno, stieß sich von der Wand ab und seine Mutter hakte sich bei ihm unter.
„Das haben wir geklärt. Chief Hayes von der Feuerwehr sitzt in der ersten Reihe“, entgegnete seine Mutter, und zeigte auf einen ernst dreinblickenden Mann in Ausgehuniform, der sie begrüßte, als sie nach vorn kamen.
„Wirklich großartig, dass Sie das hier organisiert haben“, sagte er zu seiner Mutter und fuhr fort: „Miss Everleigh hat sich um meine Mutter gekümmert, als sie krank war. Ich weiß wirklich nicht, was wir ohne sie getan hätten. “
„Wohl die Hälfte der Menschen hier im Raum haben so eine Geschichte zu erzählen. Als Stone mich damals verlassen hat und dann gestorben ist, war sie für mich ein Fels in der Brandung. Und natürlich hat sie mir dadurch jeden Tag den Weg zu Jesus gezeigt.“
Seine Mutter ging jetzt weiter zu den beiden Plätzen, die sie reserviert hatte, und Bruno setzte sich auf einen davon am Ende der Sitzreihe.
Pastor Oliver bat um Ruhe, und als es schließlich still war, durchbrach ein Signalton von Brunos Handy die Stille.
„Schalte das aus“, sagte seine Mutter und sah ihn dabei so böse an, wie sie konnte. „Die Arbeit kann jetzt wirklich einmal für ein paar Stunden warten.“
Er fügte sich mit einer „Ja-sofort“-Geste, aber in der Spielerberater-Branche gab es so etwas wie „jetzt nicht“ oder „heute nicht“ nicht, denn ein einziger verpasster Anruf konnte einen Klienten kosten, und junge Männer, die Millionen auf dem Konto hatten, warteten auf niemanden.
Bruno ging in Richtung der breiten Doppeltür, während er das Gespräch annahm.
„Mr. Endicott, hier ist Tyvis Pryor. Wie geht’s Ihnen? Ich hoffe, ich störe Sie nicht, weil ja Sonntag ist.“
„Ich bin gerade auf einer Trauerfeier, Tyvis. Kann ich dich später zurückrufen?“
Bruno sah die vielen Autos, die dicht an dicht an der Straße geparkt waren, und dann blieb sein Blick an einer groß gewachsenen, brünetten Frau mit offenen Haaren und weichen Rundungen hängen, die rasch und energisch in seine Richtung gegangen kam.
Irgendwie kam sie ihm bekannt vor. Die selbstbewusste, fast draufgängerische Haltung, aber auch der Hauch von Unsicherheit in dieser Situation, in der sie nicht recht wusste, was auf sie zukam.
„J… ja klar, das wäre großartig. Hören Sie, ich will Sie wirklich nicht stören, aber …“
Tyvis Zögern und seine mangelnde Selbstsicherheit fühlten sich seltsam ungewohnt an und waren sehr untypisch für die Branche. „Ich habe mich nur gefragt, ob Sie schon entschieden haben, ob Sie mich nehmen. Ich verspreche auch, dass ich hart für Sie arbeiten werde.“
Im Hintergrund war jetzt eine Stimme zu hören, die sagte: „Tyvis, ich brauch dich jetzt hier am Grill.“
„Ich muss jetzt Schluss machen, Mr. Endicott.“
„Bruno. Bitte nenn mich doch Bruno.“
„Klar, Bruno.“
Als das Gespräch beendet war, steckte er sein Handy wieder ein und sah, wie die Frau näherkam. Irgendwoher kannte er sie. Aber woher?
Was Tyvis betraf, so tat ihm der Junge wirklich leid, aber Bruno konnte keine Firma aufbauen mit einem Jugendlichen vom Junior College als Grundlage. Es wäre komplett verrückt, ihn unter Vertrag zu nehmen und für sein Training und die Unterhaltskosten zu zahlen, wenn nicht der Hauch einer Chance bestand, dass er es je in eine Profi-Kartei schaffen würde.
Die Frau ging an ihm vorbei und hinterließ einen Duft nach grüner Wiese. In der großen zweiflügeligen Eingangstür blieb sie stehen.
Bruno beugte sich etwas vor, damit er ihr Gesicht sehen konnte, und spürte so etwas wie Vertrautheit.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er sie.
„Nein danke“, antwortete sie schroff, fast kalt und ohne ihn auch nur anzusehen.
Bruno betrachtete noch eine Weile ihr Profil und ging dann zurück zu seinem Platz. Woher kannte er sie nur?
An dem Stehpult aus Metall sprach jetzt Pastor Oliver über Mrs. Everleigh Callahan – für alle, die sie kannten, Miss Everleigh – während gleichzeitig Bilder aus ihrem Leben hinter ihm auf eine Leinwand projiziert wurden.
„Als Everleigh Louise Novak wurde sie am 15. Juni 1929 in Waco, Texas geboren …“
Eine junge, schöne Miss Everleigh lächelte in schwarz-weiß von der Leinwand. Dann wechselte der Beamer zum nächsten Bild – einem verblichenen Farbfoto von ihr auf einer Veranda, die Arme um einen gut aussehenden Kerl geschlungen, der wie John Wayne aussah.
Bruno stupste seine Mutter an und fragte: „Weißt du, wer die Frau da an der Tür ist?“
„Pst!“ Sie legte sich den Zeigefinger auf ihre Lippen und richtete den Blick wieder auf die Bilder aus Miss Everleighs Leben.
Bruno setzte sich so, dass er noch einmal kurz in die Richtung schauen konnte, in der die Frau stand. Sie war noch da, stand mit stoischer Miene an den Türrahmen gelehnt.
„Ich mochte ihre starken weichen Hände“, sagte Pastor Oliver gerade. „Ich wusste immer schon, wenn es Miss Everleigh war, die mir nach der Predigt die Hand auf die Schulter legte, bevor sie sagte: ,Gute Predigt, Pastor.‘“
Als Pastor Olivers Stimme jetzt stockte, ging es Bruno durch Mark und Bein, und plötzlich kam alles wieder hoch, was er an Miss Everleigh geliebt hatte.
Ihre freundlichen Augen und die sanfte Stimme, ihre Geduld und ihre festen Umarmungen. Wie sie jeden Tag nach dem Mittag die Hintertür für ihn offen gelassen hatte, damit er nach der Schule gleich hereinkommen konnte, und wie dann immer schon ein Teller mit selbst gebackenen Cookies und ein Glas Milch auf ihn gewartet hatten.
Wie sie gelacht hatte, wenn er nach dem Football Training mit der gesamten Abwehr der Mannschaft völlig verdreckt nach Hause gekommen war.
„Setzt euch, Jungs, setzt euch doch. Ich backe noch ein paar Cookies mehr. Möchte jemand ein Sandwich?“
Und jedes Mal waren alle Hände hochgegangen.
Er biss die Zähne zusammen und kämpfte mit den Tränen und gegen die Reue, die ihn jetzt packte.
Er hätte öfter aus LA herkommen sollen, um seine Mutter und Miss Everleigh zu besuchen. Aber er hatte immer gedacht, er hätte noch viel Zeit, hatte gedacht, seine Karriere sei wichtiger.
Als seine Mutter jetzt schluchzte und ihr weißes Taschentuch an ihre nasse Wange drückte, nahm Bruno ihre Hand und machte sich auch auf seine eigene Trauer gefasst.
„Sie war bekannt als eine Frau mit Charakter und als Beterin“, fuhr Pastor Oliver fort. „Wenn Miss Everleighs Leben und ihre Gebete auch Einfluss auf Ihr Leben gehabt haben, dann stehen Sie doch bitte einmal auf.“
Daraufhin erhoben sich alle Anwesenden.
Als Nächstes betrat ein junger Mann mit einer Gitarre das Podium, trat ans Mikrofon und stimmte einen Choral an. „Singen Sie doch jetzt mit mir ,The Old Rugged Cross‘, eines von Miss Everleighs Lieblingsliedern.“
„On a hill far away, stood an old rugged cross.“
Die vielen Stimmen, die Melodie und der Text forderten Brunos Entschlossenheit heraus, nicht zu weinen. Er sehnte sich nach seiner alten Freundin, nach den vergangenen Zeiten, nach der Ferien-Bibelschule bei ihr im Garten hinter dem Haus und nach ihrer bedingungslosen Liebe.
Verschämt wischte er sich rasch eine Träne weg, die sich gerade aus seinem Augenwinkel lösen wollte. Aber Tränen änderten nichts. Sie sorgten nicht dafür, dass Wünsche in Erfüllung gingen und erweckten weder Väter noch alte Freundinnen wieder zum Leben.
Miss Everleigh ist deiner Tränen würdig.
Während weiter gesungen wurde, ließ Bruno seinen Erinnerungen freien Lauf, aber genau in dem Moment vibrierte sein Handy wieder, und holte ihn in die Realität zurück.