Öffentliches Recht im Überblick

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Die sog. „qualifizierte Mehrheit“ gem. Art. 16 IV EUV setzt eine doppelte Mehrheit voraus:[25]
– Zum einen müssen 55 % der Mitglieder (also der Staaten) dafür sein, also bei derzeit 27 Mitgliedern mindestens 15 (Staatenquorum). – Zum anderen müssen diese Staaten mindestens 65 % der Gesamtbevölkerung der EU repräsentieren (Bevölkerungsquorum), oder eine Mehrheit von mindestens 24 Staaten bilden.[26]Erfolgt der Beschluss nicht auf Vorschlag der Kommission oder des Hohen Vertreters der Union für Außen und Sicherheitspolitik, erhöht sich das Staatenquorum auf 72 % der Ratsmitglieder, also auf 20 der 27 Mitglieder (Art. 238 II AEUV).
aa) Koordinierung
133
Die Stellung des (Minister-)Rates als „Herzstück“ des EU-Institutionengefüges wird vor allem dadurch erkennbar, dass bei ihm – unbeschadet der übergeordneten Führungsrolle des Europäischen Rates – im „politischen Alltag“ sozusagen die Fäden zusammenlaufen. Denn der (Minister-)Rat ist für die Festlegung und Koordinierung der EU-Politik zuständig (Art. 16 I EUV). Dies gilt nicht nur für die EU-Organe, sondern betrifft auch die Koordination der Wirtschaftspolitik der einzelnen Mitgliedstaaten (Art. 5 I UA 1 AEUV). Hier liegt eine starke exekutive Tätigkeit des (Minister-)Rates.
bb) Rechtssetzung
134
Die Stellung des (Minister-)Rates bei der Rechtssetzung korrespondiert mit der bereits dargelegten Rolle des EP (s.o., Rn. 109 ff.). So kommt ein Rechtsakt im Ordentlichen Gesetzgebungsverfahren gem. Art. 289 I AEUV nur durch eine „gemeinsame Annahme“ von (Minister-)Rat und EP zustande, weshalb hier beide Organe gleichgewichtig beteiligt sind (näher zum Verfahren s.u., Rn. 217 ff.).
135
Beim Besonderen Gesetzgebungsverfahren gem. Art. 289 II AEUV ist dies jedoch anders. Hier liegt der Erlass des Rechtsaktes entweder beim EP oder beim (Minister-)Rat mit jeweiliger Mitwirkung des anderen Organs. Allerdings bedürfen Gesetzgebungsakte des Parlaments, die ohnehin nur einen sehr engen Anwendungsbereich im Bereich des Parlamentsrechts haben, stets der Zustimmung des (Minister-)Rates (s.o., Rn. 115). Demgegenüber hat das EP bei Gesetzgebungsakten des (Minister-)Rates, die die Verträge an zahlreichen Stellen und in politisch wichtigen Fragen vorsehen,[27] meistens nur ein Anhörungsrecht.[28] Hieraus ergibt sich die noch bestehende Schieflage zwischen den beiden Gesetzgebungsorganen zugunsten des (Minister-)Rates als stärkeres Legislativorgan.
cc) Budget
136
Wie beim EP dargestellt (s.o., Rn. 116 ff.), wird der Unionshaushalt weitgehend gleichberechtigt von EP und (Minister-)Rat verabschiedet. Allerdings hat das EP die Möglichkeit, einen Widerspruch des (Minister-)Rates gegen eine Einigung des Vermittlungsausschusses (an dem der Ministerrat jedoch paritätisch beteiligt ist) mit 3/5-Mehrheit zu überstimmen. Folglich hat hier das EP einen leichten „Geländevorteil“.
dd) Organisation und Personal
137
Zunächst bedarf eine Reihe grundlegender Organisations- und Verfahrensvorschriften der Zustimmung des (Minister-)Rates oder wird von ihm sogar festgelegt. Dies gilt für die Statuten des EP (Art. 223 II AEUV) und des Bürgerbeauftragten (Art. 228 IV AEUV), für die Festlegung der Ausübung des Untersuchungsrechts durch Untersuchungsausschüsse des EP (Art. 226 UA 3 AEUV) und für die Verfahrensordnungen des EuGH und des EuG (Art. 253 f. AEUV).
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Außerdem obliegt dem (Minister-)Rat die Bildung einiger anderer Unionsorgane.
– So entscheidet er über die Annahme der (von den nationalen Regierungen erstellten) Vorschlagsliste zur Auswahl der Mitglieder des Rechnungshofes (Art. 286 II UA 2 AEUV). – Außerdem ernennt der (Minister-)Rat die Mitglieder des Wirtschafts- und Sozialausschusses und des Ausschusses der Regionen. In beiden Fällen erfolgt die Ernennung wiederum auf der Grundlage einer Vorschlagsliste, die die Mitgliedstaaten erstellt haben (Art. 302, 305 UA 3 AEUV).139
Daneben ist der (Minister-)Rat für die Einsetzung und Organisation der in den Verträgen vorgesehenen Ausschüsse zu den verschiedenen Politikfeldern zuständig (Art. 242 AEUV). Dazu zählen beispielsweise der Verkehrsausschuss (Art. 99 AEUV), der Wirtschafts- und Finanzausschuss (Art. 134 II AEUV) oder der Ausschuss des Europäischen Sozialfonds (Art. 163 II AEUV).[29]
140
Von praktisch besonderer Bedeutung für die Machtposition des (Minister-)Rates ist schließlich seine Kompetenz, die Gehälter und Ruhestandsbezüge der wichtigsten Funktionsträger der EU festzulegen. Dies gilt für den Präsidenten des Europäischen Rates, den Kommissionspräsidenten, den Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, die Kommissionsmitglieder, die Mitglieder und den Kanzler des EuGH und den Generalsekretär des (Minister-)Rates (Art. 243 AEUV).
ee) Kontrolle
141
Der (Minister-)Rat nimmt verschiedene Kontrollzuständigkeiten wahr, die gegenüber anderen Unionsorganen und den Mitgliedstaaten bestehen. Dies gilt für die Kontrolle der Kommission im Bereich der Außenhandelspolitik (Art. 207 III AEUV) und für das Recht des (Minister-)Rates, Amtsenthebungsverfahren gegen Kommissionsmitglieder anzustrengen (Art. 245 II, 247 AEUV). Außerdem ist der (Minister-)Rat für die Feststellung und Sanktionierung von übermäßigen Defiziten bei mitgliedstaatlichen Haushalten und damit die Sicherstellung einer unionsweiten Haushaltsdisziplin zuständig (Art. 126 VI ff. AEUV).[30] In ähnlicher Weise überwacht der (Minister-)Rat die Konvergenz der Wirtschaftsleistungen sowie die Unionskonformität der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten, was ebenfalls mit Sanktionen verbunden werden kann (Art. 121 III, IV AEUV).
ff) Außenvertretung
142
Schließlich liegt beim (Minister-)Rat auch die Koordinierung der außenpolitischen Kompetenz der Union. Als „Rat Auswärtige Angelegenheiten“ (dem die Außenminister der Mitgliedstaaten angehören) wirkt er auf ein politisch geschlossenes und einheitliches Auftreten der EU und ihrer Mitgliedstaaten nach außen hin. Zugleich ist der (Minister-)Rat – auf der Basis von Vorarbeiten der Kommission – für den Abschluss völkerrechtlicher Abkommen mit Drittstaaten oder internationalen Organisationen zuständig (Art. 218 AEUV).
5. Kommission
Vertiefungshinweis:
Fischer/Fetzer, Europarecht, Rn. 102-121.
a) Bedeutung und Zusammensetzung
143
Ist der (Minister-)Rat das politische Herzstück der EU-Organisation, bildet die Kommission das administrative Zentrum der EU (siehe im Einzelnen unten, Rn. 148). Deshalb beschäftigt sie auch den weit überwiegenden Teil aller EU-Bediensteten: Während bei der Kommission rund 32 000 Menschen arbeiten, sind es im Parlament über 7500 und beim Generalsekretariat des (Minister-)Rates ca. 3500 Personen.[31]
144
Die Kommission soll als unabhängige und objektive Behörde das europäische Gemeinwohl sicherstellen und allein dem Unionsinteresse verpflichtet sein (vgl. Art. 17 III UA 3 EUV).[32] Dadurch unterscheidet sich die Kommission vom (Minister-)Rat, der natürlich primär den Interessen der entsendenden Mitgliedstaaten verpflichtet ist, aber auch zum EP, in dem parteipolitische Interessen dominieren. Allerdings steht dieses Konzept einer sachbezogen agierenden Fachbehörde in einem gewissen Spannungsverhältnis zu den Bemühungen einer (Partei-)Politisierung der Kommission im Zuge der Aufstellung von Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten und zur Entsendungszuständigkeit der Mitgliedstaaten.[33]
145
Die Kommission besteht aus der Kommissionspräsidentin, dem Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und (derzeit) 25 Kommissaren. Dabei korrespondiert die Gesamtzahl der 27 Kommissionsmitglieder mit der Zahl der 27 Mitgliedstaaten, wobei jeder Staat ein Mitglied entsendet (Art. 17 IV EUV). Zwar gilt seit 2014 der Grundsatz, dass die Zahl der Kommissionsmitglieder nur noch zwei Drittel der Mitgliedstaaten (also 18) betragen und dadurch schlagkräftiger werden soll; allerdings kann der Europäische Rat einstimmig davon abweichen. So wurde 2009 beschlossen, dass auch weiterhin jeder Mitgliedstaat ein Kommissionsmitglied stellen soll. Aufgrund politischer Festlegungen v.a. kleinerer Mitgliedstaaten hat der 2/3-Grundsatz derzeit keine Umsetzungsperspektive.[34]
146
Die Präsidentin der Kommission nimmt innerhalb des Gremiums eine klare Führungs- und Leitungsrolle ein:
– Dies beginnt mit ihrer herausgehobenen Einzelwahl und -ernennung durch den Europäischen Rat und das EP (Art. 17 VII UA 1 EUV). – Des Weiteren hat die Präsidentin eine starke Stellung bei der personellen Zusammenstellung „ihrer“ Kommission: So bedarf die Auswahl der übrigen Kommissionsmitglieder ihrer Zustimmung und sie kann jedes Kommissionsmitglied zum Rücktritt verpflichten (Art. 17 VI UA 2, VII UA 2 EUV). – Außerdem kommt der Präsidentin die interne Organisationshoheit der Kommission zu: Sie entscheidet über die Ressortverteilung unter den einzelnen Kommissionsmitgliedern (Art. 248 AEUV) und über ihre Stellvertretung mit Ausnahme des als Vizepräsidenten gesetzten Hohen Vertreters der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik (Art. 17 VI UA 1 lit. c, 18 IV EUV). – Schließlich legt die Präsidentin die Leitlinien für die Arbeit der Kommission fest und verfügt so über eine (auf die Kommission) beschränkte Richtlinienkompetenz (Art. 17 VI UA 1 lit. a AEUV).147
Die Kommissionsmitglieder müssen „aufgrund ihrer allgemeinen Befähigung und ihres Einsatzes für Europa […] die volle Gewähr für ihre Unabhängigkeit bieten“ (Art. 17 III UA 2 EUV). Sie dürfen auch keine Weisungen entgegennehmen oder einholen, insbesondere nicht von Ihrem entsendenden Heimatstaat (Art. 17 III UA 3 EUV). Diese wohlklingenden Sätze kontrastieren etwas mit der politischen Wirklichkeit, wonach es nach wie vor die nationalen Regierungen sind, die im Wesentlichen über die Person „ihres“ jeweiligen Kommissars entscheiden. Denn die Kommission wird (mit Ausnahme ihrer Präsidentin, die einzeln auf Vorschlag des Europäischen Rates vom EP gewählt wird) vom (Minister-)Rat auf der Basis von Vorschlägen der einzelnen Mitgliedstaaten zusammengestellt und – nach einer Kollektivbilligung durch das EP – für die Dauer von fünf Jahren ernannt (Art. 17 III UA 1, VII EUV).
aa) Exekutivfunktionen
148
Zu den zahlreichen Exekutivaufgaben der Kommission gehören gem. Art. 17 I EUV
– die Durchsetzung der Umsetzung und Anwendung des EU-Rechts durch die Mitgliedstaaten (dazu nachfolgende Rn.), – die Aufstellung und der Vollzug des EU-Haushaltsplans (Art. 314, 317 ff. AEUV), – die Verwaltung der vielfältigen Förder- oder Aktionsprogramme der Union (etwa in den Bereichen Forschung oder Umwelt) oder – Aufgaben der direkten Gemeinschaftsverwaltung etwa bei den Gemeinschaftsfonds im Agrar- und Strukturbereich oder in der Verkehrs-, Wettbewerbs- und Agrarpolitik.[35]bb) „Hüterin der Verträge“ (Kontrolle)
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Das EU-Recht wird in aller Regel nicht durch die EU selbst, sondern durch die einzelnen Mitgliedstaaten umgesetzt und angewendet (Art. 291 AEUV). Der Kommission kommt dabei die Aufgabe zu, diese Umsetzung und Anwendung des Unionsrechts seitens der Mitgliedstaaten zu überwachen (Art. 17 I 3 EUV). Verstößt ein Staat gegen das Unionsrecht, leitet die Kommission ein sog. Vertragsverletzungsverfahren gegen den betreffenden Staat ein, das sie bis zum EuGH betreiben kann (Art. 258 AEUV). Dabei handelt es sich keineswegs um eine seltene Ausnahme – so waren Ende 2018 insgesamt 1571 solche Vertragsverletzungsverfahren anhängig.[36]
150
Dies kann je nach Schwere und Dauer der Vertragsverletzung für die betroffenen Staaten teuer werden. Denn nach Art. 260 II, III AEUV kann der EuGH auf Antrag der Kommission Zwangsgelder und Pauschalbeträge verhängen. Das Zwangsgeld beträgt täglich 3.116 €, multipliziert mit einem Faktor von 1 bis 20 je nach Schwere des Verstoßes, nochmals multipliziert mit einem Faktor von 1 bis 3 je nach Dauer des Verstoßes und ein drittes Mal multipliziert mit einem Länderfaktor, der vom Bruttoinlandsprodukt und der Zahl der EP-Abgeordneten des jeweiligen Landes abhängig ist und zwischen 0,07 (Malta) und 4,62 (Deutschland) liegt.[37] Damit liegt der Tagessatz eines solchen Zwangsgeldes für Deutschland zwischen 14.395,92 € und 863.755,20 €.
151
Einen besonderen Schwerpunkt der Kontrolltätigkeit der Kommission bildet dabei die Sicherstellung fairer Handels- und Wirtschaftsbedingungen innerhalb des gemeinsamen Marktes. Dieser Auftrag richtet sich zum einen wiederum gegen die Mitgliedstaaten, deren Subventionsvergaben von der Kommission überprüft und an den Maßstäben der Art. 107 ff. AEUV gemessen werden (Art. 108 I AEUV). Danach sind solche Subventionen (im EU-deutsch: „Beihilfen“) unzulässig, die den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen (Art. 107 I AEUV) und nicht durch eine der Ausnahmen (z.B. Förderung strukturschwacher Gebiete, Art. 107 III lit. a AEUV) gedeckt sind (s.u., Rn. 1117 f.). Verstößt eine mitgliedstaatlich gewährte Subvention dagegen, verlangt die Kommission von dem betroffenen Staat die Rückforderung der Subvention (Art. 108 II AEUV).
152
Zum anderen bezieht sich die Wirtschaftskontrolltätigkeit der Kommission auch auf die einzelnen Unternehmen, die im gemeinsamen Markt tätig sind. Treffen Unternehmen entgegen Art. 101 f. AEUV wettbewerbsbehindernde Absprachen oder missbrauchen sie eine marktbeherrschende Stellung, hat die Kommission entsprechende Ermittlungs- und Sanktionsbefugnisse mit Zwangsgeldern und Geldbußen (Art. 103, 105 AEUV). So hat die Kommission beispielsweise im Jahr 2013 eine Geldbuße von 561 Mio. € gegen Microsoft festgesetzt, weil der Konzern seinen Kunden keine freie Browser-Wahl ermöglicht hat.[38] Am höchsten waren bisher die Strafen für Google; 2017 musste das Unternehmen wegen eines wettbewerbswidrigen Preisvergleichsdienstes 2,42 Mrd. € bezahlen und 2018 sogar 4,34 Mrd. € wegen rechtswidriger Einschränkungen beim Smartphone-System Android.[39]
cc) Rechtssetzung
153
Trotz ihrer Fokussierung auf exekutive Aufgaben hat die Kommission ein weitgehendes Alleinstellungsmerkmal im EU-Gesetzgebungsverfahren, nämlich das Initiativmonopol (Art. 17 II EUV). Danach ist – von wenigen Ausnahmen in den Verträgen abgesehen – allein die Kommission dazu berechtigt, den beiden Legislativorganen (EP und Rat) Gesetzgebungsvorschläge zu unterbreiten. Für den Haushaltsplan ist dieses Initiativmonopol in Art. 314 II AEUV verankert. Nicht einmal die beiden Organe selbst haben ein unmittelbares Initiativrecht, sondern können nur die Kommission zur Unterbreitung des Vorschlags auffordern, was diese aber mit Begründungspflicht ablehnen kann (Art. 225, 241 AEUV).
154
Daneben hat die Kommission auch eigene Rechtssetzungskompetenzen. So können EP und (Minister-)Rat in Gesetzgebungsakten die Kommission zur delegierten Rechtssetzung ermächtigen; dabei müssen Ziele, Inhalt, Geltungsbereich und Dauer dieser Delegation im Einzelnen festgelegt sein (Art. 290 AEUV; s.u. Rn. 205 ff.). Daneben gibt es einige (wenige) vertragliche Direktermächtigungen wie in Art. 106 III AEUV.
dd) Außenvertretung
155
Des Weiteren liegt bei der Kommission der Schwerpunkt der operativen Außenpolitik der Union, was vor allem durch das im Lissabon-Vertrag geschaffene Amt des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik zum Ausdruck kommt (Art. 17 I S. 6, 18 IV 3 EUV). So führt in der Regel die Kommission die Verhandlungen über Verträge mit Drittstaaten und internationalen Organisationen. Davon unberührt bleibt die Abschlusskompetenz des (Minister-)Rates für solche Verträge und dessen stärker strategisch ausgerichtete Koordinierungsfunktion der EU-Außenpolitik (s.o., Rn. 142).
c) Regierungsähnlicher Charakter
156
Der dargestellte Organisations- und Aufgabenzuschnitt der Kommission weist zahlreiche Parallelen mit einer Regierung auf Staatenebene auf:
– Die starke Stellung der Kommissionspräsidentin in personeller wie inhaltlicher Hinsicht entspricht der eines Regierungschefs (s.o., Rn. 146). – Durch die Auskunftspflichten und die Gesamtverantwortlichkeit gegenüber dem EP besteht zwischen Kommission und EP eine Verantwortungs- und Kontrollbeziehung, wie sie im klassischen Dualismus zwischen Regierung und Parlament üblich ist. Dies wird auch durch die Parallelisierung der Legislaturperioden des EP und der Amtszeiten der Kommission unterstrichen. – Schließlich ist die Kommission – wie eine Regierung – im Schwerpunkt für Exekutivaufgaben sowie die Aufstellung und den Vollzug des Haushalts zuständig. Auch die delegierte Rechtssetzung gehört zum klassischen Spektrum von Regierungsaufgaben (vgl. etwa Art. 80 GG).157
Dennoch wäre es zu weitgehend, die Kommission als „EU-Regierung“ zu bezeichnen. Zum einen würde dies sprachlich-funktionell eine Staatlichkeit der EU suggerieren, die ja gerade wegen der dominanten Rolle der Mitgliedstaaten und des Prinzips der Einzelermächtigungen gem. Art. 5 EUV nicht besteht (s.o., Rn. 52). Zum anderen aber fehlt der Kommission ein zentrales Regierungselement: Eine Regierung ist ein Organ der politischen Staatsleitung,[40] während die Kommission relativ stark auf administrative Fragen fokussiert ist und die politische Führung sehr viel stärker beim Europäischen Rat und beim (Minister-)Rat liegt.
6. Gerichtshof der Europäischen Union
Vertiefungshinweis:
Fischer/Fetzer, Europarecht, Rn. 140-152; 246-327.
a) Aufgabe und Struktur
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Abbildung 16:
Struktur, Instanzen und Zuständigkeitsverteilung beim Gerichtshof der EU

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aa) Begriff
159
Um eine letztendlich EU-weit einheitliche Auslegung des europäischen Rechts sicherzustellen, gibt es auch eine EU-Gerichtsbarkeit. Diese tritt unter der Bezeichnung „Gerichtshof der Europäischen Union“ auf, besteht aber aus zwei verschiedenen Gerichtsebenen. Oben steht der „Gerichtshof“ (EuGH) und darunter das „Gericht“ (EuG); von der in Art. 257 AEUV eröffneten Möglichkeit zur Einrichtung von darunter stehenden Fachgerichten hat die EU nur zeitweilig mit dem „Gericht für den öffentlichen Dienst der EU“ (EuGöD) Gebrauch gemacht.[41] Gemeinsam bilden diese Gerichte den „Gerichtshof der Europäischen Union“ i.S.v. Art. 19 EUV.
bb) Instanzenzug
160
Die instanzielle Hierarchie zwischen diesen Gerichten ergibt sich aus Art. 256 AEUV. Soweit das EuG erstinstanzlich tätig wird, unterliegen seine Entscheidungen grundsätzlich einer Überprüfung durch den EuGH. Dieses Rechtsmittel kann jedoch keine strittigen Sachfragen mehr thematisieren, sondern nur noch die Rechtsauslegung bzw. -anwendung betreffen (Art. 256 I AEUV).
cc) Zuständigkeiten
161
Die Verteilung der (erstinstanzlichen) Aufgaben unter den beiden verschiedenen Gerichtsebenen ist in Art. 256 AEUV und in Art. 51 der Satzung des Gerichtshofs der EU geregelt. Daraus ergibt sich (bei einigen Ausnahmen) im wesentlichen folgende Zuständigkeitsverteilung (zu den einzelnen Verfahrensarten s.u., Rn. 168 f.):
162
– Der Gerichtshof (EuGH) ist erstinstanzlich hauptsächlich für Streitigkeiten zwischen EU-Organen oder zwischen der EU und einzelnen Mitgliedstaaten zuständig. Darüber hinaus obliegt ihm die Gewährleistung der einheitlichen Rechtsanwendung, in dem er als zweite Instanz – wie dargestellt – unter bestimmten Voraussetzungen Entscheidungen des Gerichts rechtlich überprüfen kann. Außerdem ist er exklusiv für Vorlagen nationaler Gerichte zuständig, wie eine bestimmte Norm des EU-Rechts (vor dem Hintergrund eines konkreten Rechtsstreits) auszulegen ist (sog. Vorabentscheidungsverfahren, s.u. Rn. 169).163
– Das Gericht (EuG) ist demgegenüber als erste Instanz für die Klagen juristischer oder natürlicher Personen – also insbesondere von Bürgern oder Betrieben – wegen Maßnahmen von EU-Organen bzw. deren Substrukturen zuständig (Art. 256 AEUV). Ein Beispiel dafür wäre, wenn sich ein Unternehmen dagegen wehren möchte, dass die Kommission ihm wegen Wettbewerbsverstößen eine Geldbuße auferlegt. Hinzu kommen Schadenersatzklagen, Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen (soweit nicht der EuGH zuständig ist) sowie Entscheidungen aufgrund von Schiedsklauseln (Art. 268, 272 AEUV).
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Ebenso ist es (seit der Auflösung des EuGöD) auch für dienst- und arbeitsrechtliche Streitigkeiten von EU-Beamten und sonstigen Bediensteten der EU mit der Union als Arbeitgeberin zuständig (Art. 270 AEUV).dd) Besetzung
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Alle Richter werden auf sechs Jahre ernannt und können wiedergewählt werden (Art. 253 UA 4 AEUV). Alle drei Jahre wird jeweils die Hälfte der Richter sowohl beim EuGH als auch beim EuG neu ernannt (Art. 253 UA 2 AEUV). Jeder Mitgliedstaat hat im EuGH eine und im EuG zwei Richterstellen zu besetzen. Die Ernennung erfolgt im Einvernehmen der Regierungen aller Mitgliedstaaten, wobei der jeweiligen nationalen Regierung ein Vorschlagsrecht zusteht (Art. 253 UA 1 AEUV). In Deutschland muss – schon aus verfassungsrechtlichen Gründen – diesem Vorschlag der nationale Richterwahlausschuss zustimmen (§ 1 III RiWG).[42]