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Immanente Dummheit des US-Lagers: dass sie den Arabern nicht starke Angebote machen, also nicht etwa versuchen, die palästinensischen Interessen aus der Kriegsfront des Irak herauszulösen.
28. Januar 1991
Krieg. – Vereinzelte Zeugnisse eines unausdenkbaren Grauens des Golfkrieges, tote Kinder, im Ölschlamm eines tausend Quadratkilometer großen Petroleumteppichs verendende Vögel. Mit der Kriegslogik Vorherrschaft der Lügen & Zensur.
Im letzten Quartal von 1990 ist das Sozialprodukt der USA offiziell um über 2 Prozent geschrumpft (Wachstum 1988: 4,5 %; 1989: 2,5 %; 1990: 0,9 %). Der Notenbankpräsident, Greenspan, verspricht in halbklaren Worten kriegswirtschaftliche Konjunkturimpulse. Bereits jetzt würden mehr PKWs gekauft. Gegen Steuererhöhung. Der Krieg werde nicht viel kosten. Dafür zwei Gründe: erstens werde »der Krieg bisher mit bereits bezahlten Waffen aus den Lagern geführt«; zweitens »tragen die Verbündeten einen nicht unerheblichen Anteil der Kosten im Rahmen des ›burdensharing‹«. – Mit anderen Worten: Lagerräumung, bezahlt mit Tributen.
In Deutschland sind die Urlaubsbuchungen laut DER zwischen 30 und 40 Prozent zurückgegangen. Die Lufthansa, deren Auslastung seit Kriegsbeginn von 60 auf 40 Prozent gesunken ist, hat 6 Prozent ihrer Flüge gestrichen. Die Leute fürchten die Ausdehnung des Krieges in diffusen Terrorismus.
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Heute Nacht, gegen ein Uhr, die Gramsci-Dateien auf eine Diskette gepackt, völlig erschöpft, dann mit Klaus Bochmann, Leonie Schröder und Pit Jehle zu Barbara Steinhardt, wo wir die Fertigstellung bei einer Flasche Champagner feierten. Heute gehe ich langsam durch die Welt, wie ein Rekonvaleszenter.
Noch später in der Nacht erzählte mir Klaus, dem ich von M. erzählt hatte, dass Friedrich Schorlemmer bis Frühjahr 1990 unter Drohanrufen zu leiden hatte, die vermutlich von der Stasi kamen.
31. Januar 1991
Sandra Harding erklärt den Krieg mit den Interessen des militär-industriellen Komplexes. Abgesehen von der Rüstungsproduktion ist da ein riesiges Personal, das sie als »middle class« einstuft. Wäre es tatsächlich zur »Friedensdividende« gekommen, hätte dies eine Umschichtung an die Unterklassen bedeutet. Die Dritte Welt innerhalb der USA schwillt an.
1. Februar 1991
Heute kam von Bé Ruys einer der »Occasional Letters« von Ajit Roy, datiert vom September 1990. Er schreibt darin, ich hätte bei der Volksuni den Tod des historischen Marxismus ausgerufen, während er, Ajit, für dessen Unsterblichkeit und Erneuerung eintrete. Ich habe ihm geschrieben, dass ich allenfalls vom Ende des ML gesprochen habe und kräftig an der Erneuerung des Marxismus arbeite. Warum sonst das enorme Opfer an Lebenszeit (und auch, weniger wichtig, Geld) auf mich nehmen, das die Herausgabe der Gefängnishefte Gramscis gekostet hat oder die Arbeit am Neuen marxistischen Wörterbuch.
2. Februar 1991
Gelman aus dem ZK ausgeschlossen. Die SU spricht mit vielen Stimmen durch- und gegeneinander. Noch immer zeichnet sich kein neuer geschichtskräftiger Block ab. Zerfall. Nachdem der Markt nicht eingeräumt und gestaltet werden konnte, herrscht der Schwarzmarkt, und gegen ihn wird der KGB eingesetzt.
In der TAZ vom vergangenen Dienstag lese ich ein vorzügliches »Tischgespräch im Bistro« von F. C. Delius. In der Tradition von Lessings Falk und Jahn und von Brechts Flüchtlingsgesprächen arbeitet er sorgfältig mit dem Material dieser Tage, FAZ-Artikel, Kneipengesprächen. Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit lassen grüßen. Ich folge dem spontanen Impuls und rufe ihn an, bitte ihn, fürs »Argument« zu schreiben.
In derselben Nummer der TAZ ein interessantes Gespräch von Max Thomas Mehr mit Ernst Tugendhat über den Golfkrieg. Für T sind die USA schuld am Krieg, und dieser ist »das größte Verbrechen seit Hitler«. »Ich rede ganz bewusst antiamerikanisch, wie man ganz bewusst antideutsch sein musste im Zweiten Weltkrieg.« Tugendhats sehr scharfe und scharfsinnige moralphilosophische Analysen kranken daran, dass er nichts von politischer Ökonomie versteht. Er inkriminiert die Waffenlieferungen an den Irak, plädiert damit implizit (vielleicht ohne es zu wollen) für ein kriegstechnologisches Dauerembargo, von dem er wohl auch nicht sieht, dass es, wie im Falle des gegen den Osten gerichteten Embargos, ganz »normale« zivile Exporte behindern würde wegen des Transfers militärisch nutzbarer Technologie. Aber wie dann das Öl bezahlen? Wiederum übersieht er, dass der Irak versucht, die Welt-Ölpreise hochzudrücken, was in einer vom Geld (Kapital) beherrschten Welt auch eine Form staatlich-militärisch aufgebauter ökonomischer Gewalt ist. Gegen diese Öl-Hochpreispolitik stellen sich daher auch die Länder der Dritten Welt, die auf Ölimporte angewiesen sind, Indien zum Beispiel. Krieg zwischen industriellem Kapital und Grundrentenbeziehern, transponiert. Man muss den Weltverhältnissen auf den Grund gehen, deren Irrationalität in Kriegsform umgeschlagen ist. Die Interessen der BRD an der Kapitalisierung der ehemaligen DDR, denen der Krieg in die Quere kommt, blendet T. aus.
Tugendhat differenziert hinsichtlich der UNO. Dass sie sich »endlich einmal zu einem wirklichen gemeinsamen Schritt durchgerungen hat«, war »für viele Nationen vielleicht etwas besonders Erhebendes«. Aber die UNO hat allen Verhandlungsspielraum dem Westen überantwortet, und viele Länder haben sich in Abhängigkeit von den USA begeben. Diese »wollen die unangefochtene Macht Nummer eins sein«. Welthegemon mit Klienten.
3. Februar 1991
Politische Ökonomie des DDR-Anschlusses. – Lutz Hoffmann, Präsident des DIW, analysiert in der gestrigen FAZ sehr strategisch vom Standpunkt des Gesamtkapitalisten die ökonomischen Aspekte des DDR-Anschlusses. Die derzeitige Misere erklärt er der Sache nach mit der Niederlage der Politik Lafontaines, ohne dessen Namen zu nennen: »Durch die lange Weigerung, die Notwendigkeit hoher Infrastrukturinvestitionen – mit öffentlichem wie privatem Kapital – als Preis für die rasche Einführung der Währungsunion anzuerkennen, hat die Bundesregierung viel Zeit für die Sanierung der ostdeutschen Infrastruktur verloren.« In Hoffmanns Sprache: »nicht ökonomische Rationalität, sondern die politische Ökonomie« hat das Sagen gehabt. Unter letzterer versteht er mit Anthony Downs »Neuer politischer Ökonomie« (An Economic Theory of Democracy, 1957) ein System, das darauf basiert, »dass der wirtschaftspolitische Entscheidungsträger nicht die gesellschaftliche Wohlfahrt [maximiert], sondern seinen politischen Nutzen, der vor allem in der Wahrscheinlichkeit besteht, wiedergewählt zu werden«. Das geht gegen Helmut Kohl.
Mit mangelnder Infrastruktur erklärt Hoffmann das bis dato festzustellende Ausbleiben des großen Kapitals. Interessant, wie er die Folge der Einschnitte sieht. Währungsunion: »Im Grunde handelte es sich um den Vorschlag einer radikalen Handelsliberalisierung, verbunden mit einer drastischen Aufwertung.« Die DDR-Wähler wollten das Westgeld. Was ihnen »nicht bewusst war«, waren die Folgen für die Arbeitsplätze. Nur die Subventionierung der Exporte ins alte RGW-Gebiet8 milderten den ökonomischen Kollaps für eine Weile noch etwas ab.
»Extrembeispiel« für einen Sieg der »auf Stimmenmehrheit zielenden politökonomischen Rationalität« mit chaotischen Folgen ist für ihn Gorbatschow.
In den »Fünf Neuen Ländern«, kurz »FNL«, ist laut FAZ die Verbitterung besonders groß bei den Abgeordneten der letzten Volkskammer und den Mitgliedern der Regierung de Maizière. Sie hatten die Anschlusspolitik gemacht und fanden sich über Nacht auf dem politischen Abstellgleis. Empörung darüber, zum bloßen Steigbügelhalter degradiert zu sein. Man sieht nachträglich auch klar, dass de Maizières Sturz seit langem »für den Herbst nach den Bundestagswahlen« geplant gewesen ist. Von »Politik wie mit der Neutronenbombe« soll man vor allem in kulturpolitischen Kreisen sprechen: der Westen nicht an lebendiger Kultur, sondern an den Immobilien interessiert; für ihn nur neuer Raum hinzugekommen, ein Terrainkalkül, für welches die DDR-Bevölkerung nun 40 Jahre gelebtes Leben auszulöschen habe.
5. Februar 1991
Neuer Tiefenrekord des US-Dollars. »Pessimisten erinnern an die langwierige Depression nach 1929 und halten nach dem Zusammenbruch des Sozialismus den Kollaps des Kapitalismus, ausgelöst durch eine schwere Krise des Finanzsystems, für möglich.« (Gerald Braunberger im Wirtschaftsleitartikel der FAZ) In den USA sind die Steuereinnahmen wegen der Rezession (wie sie die Krise entnennen) um 87 Mrd USD unter den Erwartungen geblieben. Die Sanierung der Sparkassen wird noch über 100 Mrd USD kosten. Aus dem erhofften New Deal mit Sozialinvestitionen in Verkehr, Gesundheit und Bildung wird nichts.
In ihrem Editorial-Entwurf fürs nächste »Argument« lässt Nora Räthzel uns bereits mitten im Dritten Weltkrieg sein. Eines von vielen Anzeichen der Unsicherheit und Verwirrung. Wir wollen klar dagegen sein und erfahren uns verstrickt.
Die FAZ dagegen auf ganz hohem Ross. Gestern zeichnete Reißmüller im Leitartikel Serbien »als Festung des Kommunismus, aus der sich vielleicht eines Tages im Zusammenwirken mit einer wieder zur alten Ordnung gebrachten Sowjetunion der Leninismus-Stalinismus in der östlichen Hälfte Europas aufs Neue ausbreiten ließe. Zu diesem Zweck lassen sie ihre Panzer auffahren. Die ersten Schüsse würden einen Krieg auf mitteleuropäischem Boden eröffnen.« – Man will vollends aufräumen.
Verzweifelt bemüht sich Gorbatschow um einen neuen Unionsvertrag. Ich habe früher (wie er) übersehen, dass dies zu den Vorbedingungen der sozialökonomischen Umgestaltung gehört hätte. Ich habe immer verstanden, dass die politischen Reformen den ökonomischen vorausgehen müssten (natürlich Wechselverhältnis der Reformetappen in Politik und Ökonomie), aber auf die inneren Reformen blickend vergessen, dass auch ein solches »Innen« bei Lockerung der äußeren Zwangsfesseln erst geschaffen werden müsste. Jetzt wirkt Gorbatschow wie ein Gefangener seiner Gewaltapparate.
Lese nun erst, was Gorbatschow am 28. November 90 bei einem Treffen mit »Kulturschaffenden« (u.a. mit Jewtuschenko) gesagt hat: Lockere Plauderei, bisschen philosophischer Würdezierrat (»die alten Griechen hatten wieder einmal recht: alles fließt, alles bewegt sich«). Dazwischen Protokollsätze wie Notschreie (»das ist eine schleichende Konterrevolution«) und jenes Bekenntnis zum Sozialismus, von dem ich seinerzeit in der Presse gelesen hatte, das er aber dadurch wieder in Luft auflöst, dass er sich mit dem spanischen Regierungschef Felipe González vergleicht, »einem ebenfalls überzeugten Sozialisten«. Zum Privateigentum sagte er: »Ich habe mich immer für Marktwirtschaft ausgesprochen und tue das weiter. Doch obwohl ich für Marktwirtschaft bin, akzeptiere ich beispielsweise kein Privateigentum an Grund und Boden. Machen Sie mit mir, was Sie wollen – ich akzeptiere es nicht. Pacht – selbst für hundert Jahre, sogar mit dem Anspruch auf den Verkauf und die Vererbung der Pachtrechte – bitte schön.« Das schützt selbstwirtschaftende Bauern und geht gegen Bodenspekulation. Ansonsten spricht sich Gorbatschow für Privateigentum in der Produktion aus, glaubt aber nicht, dass es dominieren wird bzw. dass seine Dominanz vom Volk hingenommen würde. Sonderbares Wischiwaschi: »Durch verschiedene Formen des Aktienbesitzes, durch Pacht und dann vielleicht durch vollen Erwerb wird der Betrieb zum Volkseigentum gemacht. Man (?) soll den Menschen (?) dieses Eigentum geben (?). Mögen sie es verwalten und über ihre (?) Produktion verfügen (?).« a) Wer ist dieses »Man«?; b) »Die Menschen« – welche? c) Verkaufen nicht = geben; d) Die Produktion eines Betriebs nicht = »ihre« (der Privateigentümer) Produktion; fehlen die Arbeiter; e) der Staat wird die Eigentümer (wie alle übrigen) doch wohl zur Kasse bitten, also einen Teil »ihrer Produktion« in Steuern verwandeln, über die sie mitnichten verfügen.
Dann spricht Gorbatschow von Grenzen der Veränderung, Unantastbarkeiten, die er »letzte Bastion« nennt: »da darf man um den Tod nicht weichen, wie vor Moskau, wie vor Stalingrad.« Was er meint, ist die multinationale Gesellschaft der Sowjetunion. Soll etwa das Kriegspotenzial der Supermacht SU unter Nachfolgestaaten aufgeteilt werden?
Auf die Genese der Perestrojka zurückblickend, erwähnt er einen Spaziergang mit Schewardnadse im Dezember 1984, wo sie sich darüber verständigt haben, dass »alles verfault« ist. Er nennt keinen anderen. Sah also den Rücktritt Schewardnadses wohl auch nicht voraus.
6. Februar 1991
Gestern kam ein junger Geophysiker (Lehmann) aus der vormaligen DDR, der seit vier Jahren in Leningrad studiert, in meine Sprechstunde. Er will zur Philosophie überwechseln. Erfährt sich im Vergleich zu den sowjetischen Studenten als mathematisch unbegabt, obwohl auch er von einem Spezialgymnasium kommt. Als sein Stipendium auf DM umgestellt wurde, kam das einer Verdreißigfachung gleich. Inzwischen sogar das Fünfzigfache. Durch den Einzug der 50- und 100-Rubelscheine sei das Vertrauen in die Währung vollends zusammengebrochen. Er glaubt nicht, dass diese Maßnahme irgendwie den Schwarzhandel trifft. Studieren würde er gerne bei Merab Mamardaschwili, wenn dieser nicht gestorben wäre. So höre ich zum zweiten Mal von diesem Tod, an den ich nicht glauben mag.
Seit der Annexion Kuwaits im August 1989 sind 5–10 Mrd USD auf schweizer Banken verlagert worden. Bis September 1989 waren es schon 2,3 Mrd USD aus dem Nahen Osten. Dafür musste man die Wachstumsannahmen von 2 auf 1 Prozent halbieren.
In der FAZ ein Artikel des Kölner Historikers Otto Dann über Ernest Gellners Nations and Nationalism von 1983, durchsetzt mit ›Gramscismen‹, ohne Gramsci zu nennen. Im Kern geht es um das Verhältnis von »Kulturgesellschaft« und »politischer Gesellschaft« als Schlüsselfrage der Nationalstaatsbildung. Mit der Verallgemeinerung der Schriftkultur im Zuge der Industrialisierung homogenisiert sich aus der agrargesellschaftlichen Heterogenität heraus die Kultur. Für Gellner ist dies der entscheidende Akt bei der Nationbildung. Die Nation ist nichts Naturales, betont er, basiert nicht auf einem Volk, sondern wird durch den Nationalismus erst geschaffen. Die Intellektuellen als Träger der Schriftkultur spielen dabei eine entscheidende Rolle. Gellners These: Nationalismus ist die adäquate Form für Kapitalismus. Dann verweist auf Benedikt Anderson, Imagined Communities, 1983. Für Otto Dann und die FAZ ein gefundenes Fressen, den Nationalismus aus dem Schatten des NS zu holen. Friedrich Meineckes »Kulturnation« wird wieder ausgegraben, ihre Kongruenz mit der »Staatsnation« zur strategischen Schlüsselposition erklärt.
9. Februar 1991
Enzensbergers Artikel über Saddam Hussein als »Hitlers Wiedergänger« (im »Spiegel« dieser Woche) führt die Sprache des Propagandisten, nicht des Intellektuellen. Hantiert mit unbezweifelbaren Eindeutigkeiten, kennt keine Überdeterminierung. Projiziert unwillkürlich. H. ist ein Vernichter; ergo ein zu Vernichtender. Dadurch der Diskurs zu einem Vernichtungsdiskurs geworden. H. »der Feind des Menschengeschlechts«. Ein anthropologisches Problem: die menschliche Natur selbst, ihre personifizierte Unmenschlichkeit. Totale Absage an Politik: »Keine denkbare Politik kann es mit einem Feind des Menschengeschlechts aufnehmen.« E. lässt die Logik der Endlösung in sich ein. – Mit Schrecken sehe ich, wie der Krieg den geschätzten E. um den Verstand bringt. Aber ich vermag mich nicht frontal gegen ihn zu stellen, abgesehen von der propagandistischen Wellenlänge. Denn zu den widersprüchlichen Bestimmungen dieses Krieges gehört auch die Parallele zum Nazismus. Freilich bildet E. auch diesen mythisch-geschlossen ab, als politisch verkörperten Todeswunsch.
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Rainer Gruenter konstatiert die periodische Wiederkehr der »levée en masse in den Rückschritt«. Man könne heute »von einer Konjunktur des Schreckens sprechen«. Statt des apokalyptischen Reiters hat er den »apokalyptischen Anarchisten« im Visier. Nennt keinen. Als Begleitpersonal »die Verkäufer der Ängste«. »Epidemische Untergangssucht und Gewaltsympathie«. Es sei daher möglich, dass einer der »apokalyptischen Anarchisten« ein Super-Tschernobyl »als fundamentalistisches Warnspiel für eine ebenso unbelehrbare wie unersättlich weltverzehrende Menschheit inszenieren kann«. Im Zeitgeist und seinen typischen Gebilden werde dies vorangetrieben durch »eine pathologische moralische und geistige Ungeduld, die der heute von Historikern beobachteten Beschleunigung der Geschichtszeit« entspreche. In dieses Bild fügt sich Enzensbergers Husseinmythos. »Störend kann der despotische Diktator, können die Eliten, aber auch die machtlosen und machtverachtenden Minderheiten […] sein, die sich der Norm der anarchistischen Ungeduld widersetzen.« – Der Krieg ist los, die Krise kommt von überall her.
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Gabriele Lindner hat sich heute vom Wörterbuchprojekt verabschiedet. Sie bringe es nicht zusammen mit den Belastungen des Moments. Fast alle, die nach dem Zusammenbruch der DDR zu uns gestoßen waren, sind inzwischen wieder verschwunden. G.L. grüßte von Otto Reinhold, der die Radiosendung über die DDR-Philosophie gehört hat und mir bestellen lässt, meine Äußerungen hätten ihm am meisten zugesagt. Ich ließ mir seine Telefonnummer geben.
Immer wieder Trauer darüber, dass sich nicht die Revolution-in-der-DDR hat halten können.
10. Februar 1991
Kulturkritik als Melancholie des Kapitals. – »Ganz gleich, ob von Fastfood-Ketten die Rede ist, vom Bevölkerungswachstum, von Übertötungskapazitäten in der Hochrüstung, vom ›Siegeszug‹ der wissenschaftlichen Rationalität, von der Steigerung des Bruttosozialprodukts, von der ›Entfesselung der Produktivkräfte‹, von der ›industriellen Massenfertigung‹ oder von der Auto-, Beton- und Kommunikationsgesellschaft: stets, wenn ein Teil seine Funktionen unkontrolliert auf Kosten aller anderen Teilfunktionen erweitert, steht die Lebensfähigkeit des Ganzen auf dem Spiel.« (Bernd Guggenberger, FAZ vom 2.2.) – Arbeitsteilige Melancholie des Kapitals, das sich da als Natur in der Natur entnennt und sich über das Entropiegesetz beugt. »Imperialismus des Partiellen«, »Chauvinismus der Art«, mit einem Wort: der Untergang der »Zuvielisation«. Alle Politiken arbeiten »letztlich nur dem großen Widersacher, der sprengenden Kraft sozialer Desintegration, in die Hand«. Weil, wer Ordnung schafft, unversehens Unordnung um ein Vielfaches vermehrt. Gruenter könnte diesen Diskurs mit im Auge gehabt haben.
11. Februar 1991
Die FAZ schreibt, dass sich Wallstreet »seit genau vier Monaten in einer echten Hausse befindet«. In Zürich und Frankfurt »fließen Milliarden vom Geldmarkt an die Kapitalmärkte«. Die Zinsen sinken.
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Lese jetzt erst Biermanns vor genau zwei Wochen datierten ZEIT-Artikel »Kriegshetze Friedenshetze«. Er argumentiert differenzierter als Enzensberger, hat nicht die US-Interessen und die Mehrschichtigkeit des Konflikts vergessen. Aber auch er bläst zum Krieg. Der Friedensbewegung wirft er vor, sie möchte jetzt »die Zerstörung der ABC-Fabriken und Raketen aufhalten, mit denen Saddam & Co Israel vernichten wollen«. Er will diese Zerstörung der Zerstörungsmittel, und ich würde sie, bliebe es dabei, ebenfalls wollen. Er sieht auch den Messecharakter des Kriegs vom Standpunkt der USA als Leistungsschau der US-Rüstungsindustrie, ebenso die Rechtfertigung der durch die Beendigung des Kalten Kriegs bedrohten Staatsausgaben fürs Militär.
Als linken Selbstbetrug, durchmischt (und z.T. manipuliert) von Heuchelei, deutet er die antiamerikanisch artikulierte Hauptlosung der Friedensdemonstranten: sofortiger und bedingungsloser Waffenstillstand. Kehrt die Losung eines PDS-Flugblatts, »Schickt Politiker in die Wüste, nicht Soldaten!«, gegen die soeben von einem Volk in die Wüste geschickten Politiker der PDS. Immer noch einmal: gegen die Endlösung, gegen die Nazis war der auch damals von miesen Interessen mitbenutzte Krieg notwendig. So der heutige: zum Schutz vor einer neuen »Endlösung« und zur Zerstörung eines Militärregimes, das ABC-Waffen einzusetzen bereit ist. Hussein-Hitler haben beide die Ausrottung der Juden vorangekündigt, beide sind »Emporkömmlinge, Tyrannen, Demagogen und Machtparanoiker«. Während man bei Hitler nicht wissen konnte, ob die Drohung leeres Wort war, weiß man bei Hussein heute, dass sie ernst gemeint ist.
Biermanns Skizze amerikanischer Interessen: »Natürlich geht es […] ums Öl. Noch schlimmer: Das Pentagon brannte schon lange darauf, seine Waffen auszuprobieren. Noch perverser: Die US-Rüstungslobby braucht dringend den Beweis dafür, dass die Billionen Dollars kein rausgeschmissenes Geld waren. Der lukrative Ost-West-Konflikt ist ihnen verdorben, aber die Aktionäre der Kriegsindustrie wollen, dass das Wettrüsten trotzdem weitergeht. Und bei den Präsidentschaftswahlen will kein Kandidat die jüdischen Stimmen verspielen.« Desto besser, sagt Biermann. Ohne diese schmutzigen Interessen würden die USA ihre Kriegsmaschine nicht in Gang gesetzt und Israel verteidigt haben. Saddams mörderischen Eroberungskrieg gegen den Iran sahen die USA zufrieden und belieferten ihn mit Waffen, »Saddams Völkermord an den Kurden war denen eine hässliche Lappalie, und Saddams Terror gegen das eigene Volk war ein totalitäres Kavaliersdelikt. Die USA hatten schon so viele unglückliche faschistische Liebschaften in der Welt.« Das kuwaitische Öl – List des Zufalls, um die »zuverlässig miesen Interessen« zu mobilisieren.
Hilflos-gutwillig, keineswegs unwahr: Palästinenser und Israelis sind die einzigen, deren existenzielle Interessen auf dem Spiel stehen und die »eigentlich Verbündete sein sollten«.
Gegen den irakischen Diktator bietet Biermann sein ganzes gesundes Misstrauen auf. »Der Hass auf die Juden und die Liebe zu den Palästinensern sind nur zwei Seiten derselben falschen Münze, mit der er die Einheit der arabischen Welt unter seiner Führung kaufen will.« Er sieht keinen Todeswunsch wie Enzensberger, sondern das Kalkül, im Tiefbunker trotz bis zu 5 Millionen Toten durchstehen zu können.
»Grade weil er so schön komplex ist, führt uns dieser Krieg modellhaft das Perpetuum mobile unserer Selbstvernichtung vor.« Die Rüstungskonzerne liefern Waffen, zu deren Bekämpfung sie dann noch modernere Waffen liefern müssen. Die armen Länder bezahlen mit Elend und Unwissenheit, die reichen mit dem Surplus, das sie den Armen hätten übertragen müssen. Das Personal, das diese Kriegswirtschaft betreibt, gehört zu Kriegsverbrechern erklärt. »Und die feinsinnigen Rechtsanwälte, die wasserdichten Notare, die hanseatischen Kaufleute und respektablen Geschäftsführer, die alle am Geschäft mit dem Tod verdient haben, verdienen den Tod, genau wie Göring und Krupp und Eichmann.« – Biermann weiß natürlich, dass Krupp ihn 1945 keineswegs erleiden musste, und er weiß erst recht, dass diese seine Worte ganz folgenlos bleiben werden und er sie genau deswegen sagen darf, weil eben jene hanseatischen Kaufleute und respektablen Geschäftsführer gar nicht so sind. So bleibt ihm bei allem Richtigen, trotz aller mitgeschmuggelten Wahrheitskassiber, eben doch nur die eine effektive und effiziente Botschaft: »Ich bin für diesen Krieg«.
12. Februar 1991
Der irakische »Rote Halbmond« soll die Zahl der Kriegstoten mit sechs- bis siebentausend angegeben haben.
Pierre Salinger u. Eric Laurent, Guerre du Golfe, Paris 1990: Laut ZEIT vom 8.2. soll dies die bisher beste Dokumentation der Entstehung des Golfkrieges sein. Die Autoren »nähren tiefe Zweifel« an der offiziellen westlichen Version. 1) Anlass für den Einmarsch am 2.8.90 in Kuwait: Der Emir hatte 10 Mrd USD für den Krieg gegen den Iran beigesteuert, und Saddam soll die Streichung dieser Schuld zur Bedingung für den Abzug gemacht haben. 2) Die US-Botschafterin in Bagdad, April Glaspie, hatte am 25. Juli zu dem Streit gesagt: »Unsere Seite hat keine Meinung zu innerarabischen Konflikten.« Am 31. Juli hat Jon Kelly, Nahostexperte im Außenministerium, vor dem auswärtigen Ausschuss des Repräsentantenhauses erklärt, die USA seien im Falle eines irakischen Angriffs auf Kuwait vertraglich nicht zum Eingreifen verpflichtet.« 3) Schon am 3.8., also lange vor der UNO-Resolution, scheinen die Kriegsziele im Weißen Haus festgelegt gewesen zu sein. 4) König Fahd von Saudi-Arabien hat die USA nicht ins Land gerufen, sondern der Aufmarsch wurde nach einem unter Carter für einen Ost-West-Konflikt ausgearbeiteten Plan begonnen. 5) Angesichts dessen »ruft« Fahd die USA um Hilfe, und in einem Geheimprotokoll werden für die Nachkriegszeit US-Stützpunkte in Bahrein und Kuwait vorgesehen. 6) Alle Vermittlungsversuche, der OAU, Frankreichs, der Sowjetunion, werden durch Druck entmutigt und ihre Vertreter auf Kriegslinie gebracht. 7) Das Ganze mündet in die Frage: »Diktierten Ungeduld und Unkenntnis oder aber Arglist und Aggressivität die Haltung der Amerikaner?«