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Mit Katja Maurer von der »Volkszeitung« meinen Abschlussartikel zum Parteitag vorbesprochen. Nach den Machtkonservativen wären nun die Gorbatschow-Leute zu behandeln. Allerlei Fragen von der Art, ob dies oder das »noch eine Zukunft« habe: die KPdSU, die Sowjetunion, der Sozialismus … Die nur 16 Prozent für Ligatschow eine große Überraschung. Wie zu erklären? Konzeptionslosigkeit der Machtkonservativen? Der Kultusminister, ehemals Chef des Tanganka-Theaters, zu den Delegierten: wir werden uns von der Jugend des Landes isolieren und die Beziehungen zu den Intellektuellen zerstören, wenn wir die Roy Medwedjew, Lazis, Gelman, Schatalin, Falin u.a. nicht wählen.
Die SU tut den großen Schritt von einem Wirtschaftsmodell zum anderen, das in der Logik der Dinge eigentlich nur mehr das des Westens sein kann. Zur sich neuen Konfiguration von Politik gehören der Nato-Generalsekretär, der die Feindrolle der SU für beendet erklärt, und Helmut Kohl, der eine Obergrenze der deutschen Armee und Geld und die Perspektive besonderer deutsch-sowjetischer Beziehungen anbietet.
Was verstehen die Leute um G unter »sozialistischem« Charakter der Politik? Die Rettung vor einem wilden Kapitalismus in einem drittrangigen Land.
Fragen. – Droht ein sowjetischer Bonapartismus, ein Präsidialregime mit Exekutiv-Verselbständigung auf Basis eines Klassengleichgewichts? Spricht dafür nicht die demokratisch dubiose Durchsetzung von Gorbatschows Kandidaten? Das Wiederholenlassen von Mehrheitsentscheidungen? So war freilich auch gehandelt worden, nachdem Ligatschow durch Mehrheitsentscheid von der Kandidatenliste gestrichen worden war. Oder entsprang es blindem Gehorsam, dass der kurz zuvor noch Gefeierte nicht gewählt worden ist? Nachträglich herrscht anscheinend der Eindruck, Gorbatschow habe den Kongress »total beherrscht«. NZZ erklärt Gorbatschows Erfolg mit alten Disziplin-Mechanismen und Angst vor weiterem Autoritätsverfall der KPdSU in der Öffentlichkeit.
Inwiefern ist Gorbatschow der (einzige) Garant der Umgestaltung? Ist die Angst des Westens vor seinem möglichen Verschwinden begründet?
Ist die Bewegung in den Städten, obwohl sie sich gegen Gorbatschow richtet, progressiv? Gibt es Ansätze einer nach Selbstverwaltung strebenden demokratischen Bewegung? Was bliebe andrerseits als Machtbasis der Partei? Provinz? Armee? Es sind doch wohl nicht nur die Funktionäre.
17. Juli 1990
So viele Energien in den Startlöchern, bereit zum Sprung –
Zwei Ungleichheiten: 1. Gedanken ungleich Worte; – 2. Worte ungleich Taten.
Manche sagen, Gorbatschows Text sei gut, aber unwirklich. Worte, denen nichts gefolgt sei. Und doch ist eine Revolution im Gange! Allerdings könnte sie in eine Konterrevolution münden. Dies dadurch begünstigt, dass dem Zerstören kaum ein neuer Aufbau entspricht.
25. Juli 1990
Perestrojka-Journal. – Erich Wulff, dem ich große Teile zu lesen gegeben hatte, schreibt dazu: »Es wirkt fast wie ein Drama, eine Schicksalstragödie, was da abläuft, an welcher der Seher auch nichts mehr ändern kann. Vielleicht ist ein bisschen zu kurz gekommen die rückblickende Reflexion darüber, weshalb die anderen Alternativen – Demokratisierung der DDR nach dem 9. November – sich als Illusionen erwiesen haben. Was und wann wurde Entscheidendes versäumt? Oder: gab es danach nichts mehr, was versäumt werden konnte? Irgendwann im November oder Dezember schätzt Du die Wiedervereinigungsparolen noch als ganz randständig, extrem ein – und nicht lange danach beherrschen sie nicht nur das Bild, sondern sind auch allesamt international akzeptiert.«
6. August 1990
Gestern bei Helmut Steiner, in seiner von Büchern und Papieren belagerten Wohnung am Prenzlauer Berg. Seine Frau, Roswitha März, eine Mathematikerin, hat fünf Jahre in Leningrad studiert. »Mathematiker beweisen Sätze.« Steiners Vorstellungen vom Nacharbeiten der Vergangenheit hängen noch in dieser. Das Unrecht, das den Bloch, Kofler, Trotzki zugefügt wurde, soll gutgemacht werden. Aber, sage ich, ihr verfehlt die Gegenwart.
8. August 1990
Inzwischen Jelzin angeblich »Hauptstütze« Gorbatschows. Die Stäbe der beiden arbeiten gemeinsam am Übergangsplan.
Türkei. – 75 Prozent Inflation. Hauptgrund: 50 Prozent des Staatshaushalts gehen für den Schuldendienst an westliche Banken drauf. In Istanbul würde der Durchschnittslohn gerade zum Mieten einer bescheidenen Wohnung reichen. Die guten Nachrichten gelten dem andern Extrem der Gesellschaft: Seit 1986 sind die Börsenkurse um 3000 Prozent gestiegen. Allein von Januar bis April 1990 um 50 Prozent! Der Export besteht zu 70 Prozent aus Rohstoffen, 10 Prozent sind Konsumgüter.
Börsenkrise in Tokio und New York. Die USA vor der Rezession. Die Invasion Kuwaits durch den Irak hat die Ölpreise hochgetrieben, was zusätzlich niederdrückend auf die US-Konjunktur wirkt.
9. August 1990
Von Ilse Ziegenhagen erfahren, dass »Sonntag« (DDR) und »Volkszeitung« (BRD) fusionieren.
10. August 1990
In der »Volkszeitung« schreibt Reinfried Musch: »Wenn man was zusammenholen will, was an Sozialismus-Theorie auf marxscher Grundlage in der DDR da ist, muss man es von draußen tun. Es wird von drinnen nicht mehr gehen.« Er hat das Gefühl, dass von der westlichen Linken die Situation nicht verstanden wird. »Sie wollen nicht selbst herausholen, was hier vorhanden ist, sie nehmen nur, was abfällt.« – Wenn ich nur wüsste, wie nehmen.
In der gestrigen FAZ das Entsprechende von Unternehmerseite: die Aktivität müsse vom Westen ausgehen.
16. August 1990
GB, ursprünglich Maurer, dann »Philosoph«, arbeitet jetzt als Nachtportier. Versucht, geistig am Leben zu bleiben. Will zurück in die Wissenschaft. Aber das könnte nur »mönchisch« gelingen, neben der Lohnarbeit.
Die Leitglosse der heutigen FAZ (Heike Schmoll, »Kirche nach dem Sozialismus«): »Dass Gott die Mauer zu Fall gebracht habe, ist nur ein Beispiel für Aussagen, die sich anmaßen, Gottes unbestrittenes [!] Handeln in der Geschichte direkt zu deuten und im einzelnen zu benennen.«
20. August 1990
Frigga hat eine Einladung zur Teilnahme an jenem nach dem Schneeballprinzip verfahrenden System erhalten, wo man an den Erstplazierten 30 DM überweist, so und so viele neue Leute zur Mitwirkung anwirbt und dafür auf der Liste der Berechtigten einen Platz erwirbt (den vierten), der mit jedem Durchgang eins aufrückt. Auf die Weise soll man rechnerisch nach kurzer Zeit zigtausend Mark erhalten können. In Wirklichkeit bricht die Kette irgendwann zusammen, einige haben sich bereichert, die große Menge geht leer aus, bzw. zahlt die Spesen. Da man nicht wissen kann, wann die Kette reißt, ist es ein Glücksspiel. Wir hatten von solchen geldreligiösen Praktiken gehört, pflegen alle derartigen Aufforderungen in den Papierkorb zu werfen. Aber hier zögerten wir, denn unter den vier Namen waren drei, die wir kannten, zunächst Albert E., bis vor kurzem Redakteur der »Marxistischen Blätter«, jetzt Herausgeber von »Z« (»Zeitschrift für marxistische Erneuerung«). An letzter Stelle stand Therese Dietrich, eben die, welche noch vor wenigen Wochen in unserm Ost-West-Workshop Labica referiert und danach ihr Ausscheiden aus dem marxistischen Projekt erklärt hatte. Beklemmung. Wir fühlen uns wie damals, als wir davon erfuhren, dass einer unserer langjährigen Mitforscher aus dem »Projekt Ideologietheorie«, Herbert B., der Scientology-Sekte beigetreten war.
22. August 1990
Arnold Schölzel nun PDS-Vorsitzender an der Humboldt-Uni. Micha Brie sein Stellvertreter. André Türpe kandidiert für die PDS zum Magistrat. Unsere Forschungsgruppe ist also über diese Personen stark mit von der Partie. Benno Hirschmann sagt fünf Jahre Strudel voraus, in den wir hineingezogen werden. Er spricht mit dem Triumph des gewohnheitsmäßigen Überbringers schlechter Nachrichten.
25. August 1990
In eine Liste der feigen Umbenennungen aufzunehmen: Werner Tübkes »Bauernkriegspanorama« heißt künftig »Panorama Bad Frankenhausen«.
Kapitalistische Internationale. – »Die politische Führung der Nato arbeitet im Bewusstsein, dass die heutige Welt Einzelgänge von Staaten allein wegen der wirksamsten ›Internationale‹, dem weltweiten Kommunikationsnetz von Industrie, Banken und Technik, nicht zulässt – zumindest nicht im industrialisierten Gebiet der Nordhalbkugel unserer Erde.« (Jan Reifenberg, »Von der Abschreckung zum Konsens«, in: FAZ)
Die nächste Kriegsfront. – »Der Kalte Krieg war der Dritte Weltkrieg, viel kostspieliger als der zweite«, sagte Falin. Die nächste Kriegsfront wird bereits rekognosziert. Sie erscheint als »Folge des jahrzehntelangen Luxus einer ausschließlichen Beschäftigung mit dem Ost-West-Gegensatz […]. Nukleare oder durch Androhung des Einsatzes chemischer Waffen ausgeübte Erpressung im ›Gürtel der Instabilität‹ der islamischen Staaten von Pakistan bis Marokko kann weit gefährlicher werden als zu Zeiten des Kalten Krieges.« (Reifenberg, ebd.)
26. August 1990
In meinem Radiogespräch mit Peter Huemer vom Mai zu kurz gedacht: Bipolarität der Weltordnung setzte die Dritte Welt frei. Dass jetzt der Irak der neue Feind, ist trotz aller fundamenta in re ein Vorwand: Der Feind von morgen ist die Dritte Welt. Aber so, wie das Verhungern der Vielen ein Feind der Satten ist.
Huemer gestern: Österreich wird in den deutschen Sog geraten; in 2–3 Jahren wird es eine »Identitäts«-Diskussion geben. In der BRD sieht er »die reichste Gesellschaft der gesamten Menschheitsgeschichte«. – Teresa Orozco schildert die Verwandlung der Innenstädte Ost- und Westberlins als innere Drittweltisierung.
28. August 1990
Von einer Reise in den Norden der DDR rückkehrend, erzählte Frigga von einer freundlichen, kinderreichen und –lieben Gesellschaft und einer demokratisch-egalitären Urlaubskultur an der Ostsee. Sie meint: unbrauchbar für Mercedesfahrer, weil man dort bisher keine Ausschließung kenne. Aber ohne kulinarische Kultur. Die Preise noch immer ein Witz im Vergleich zu den hiesigen.
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Der Sinn meiner Arbeiten zur NS-Rezeption: einen Anstoß geben, ja geradezu erzwingen, dass weitergegangen werde, dass die Fragen noch einmal aufgemacht werden, darauf bauend, dass die Abstoßung der nazistischen Erfahrung ausreiche, den neu in Gang gebrachten Prozess in die entgegengesetzte Richtung laufen zu lassen. Was aber, wenn einzig Destabilisierung einer freilich schon immer scheinhaften Ordnung herauskommt, die zwar hohl, aber immerhin dem Nazismus entgegengesetzt war. Was, wenn die neue Schamlosigkeit, von der Peter Huemer gesprochen hat, die Gelegenheit nutzt?
Zurückblickend auf Kohls Visionen von deutscher Wiedervereinigung von 1986: Was damals Wunschtraum, ist heute erfüllt, ja übererfüllt, unerwartet für uns, die wir es für fern aller Realpolitik hielten. Haltepunkte (Verankerungen) der alten Weltordnung waren die Juden und der Osten, die deutsche Schuld und die aus ihr folgende Teilung. Nun aber waren die Juden beschäftigt mit den Arabern und brauchten die Unterstützung des Westens, also auch der Bundesrepublik, und der sowjetische Hegemonieraum im Osten löste sich auf. Plötzlich hatten die deutschen Unternehmer (die Konzernmanager) die Hände frei. Der riesige Akkumulationsraum (und zunächst Kapitalzerstörungsraum) des Ostens ergab sich ihnen. Reagans Hambacher Rede.
30. August 1990
Christian Meier arbeitet (in der FAZ) an folgendem Problem: Nachdem die DDR-Bürger »sich befreien wollten«, »haben sie gar nicht so selten den Eindruck, sie hätten nur die Herrschaft gewechselt«. Er kommt zurück auf sein Thema vom vergangenen Herbst: was er damals DDR-Identität nannte, nennt er jetzt »DDR-Mentalität«.
Vorgestern Abend hörte ich von Uwe Damm einiges über Ambivalenzen im Arbeiterbewusstsein der DDR. Man muss selbst Äußerungen der Resignation und Absage an die eigenen Kräfte sehr sorgfältig lesen. Uwe hat eine subversive Hermeneutik entwickelt. Denkt mit den Händen. Formuliert nah an den Arbeitenden.
September 1990
Jiří Kosta erklärte in einem Gespräch in der Augustnummer der Neuen Gesellschaft den Dritten Weg und die sozialistische Marktwirtschaft für Irrtümer. Den Begriff »Demokratischer Sozialismus« könne man behalten, wenn geklärt sei, dass es sich dabei um eine Orientierung an den Grundwerten Freiheit, Gleichheit, Solidarität handeln muss, die ein innerkapitalistisches Korrektiv anstrebt. Als mitteleuropäische Erfahrung (vor allem der Ungarn) gibt er zu verstehen, dass eine Mischwirtschaft nicht funktioniere und dass er sich die »soziale und ökologische Marktwirtschaft« nur als kapitalistische vorstellen kann.
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Die BRD war unfähig, der RAF jenen Rückzug aus dem Terror offen zu lassen, den die Existenz der DDR möglich machte. Inge Vietts offener Brief an ihr magdeburger Arbeitskollektiv schildert die DDR als einen Staat, dessen Leitwerte sie akzeptierte. Joscha Schmierer, der ihren Brief in der Augustnummer der »Kommune« zitiert, liest aus den Verwicklungen eine typisch deutsche tragische Farce heraus. Die BRD hält krampfhaft den Mythos einer ungebrochenen Kontinuität der RAF aufrecht. – Im Übrigen scheint Schmierer der Versuchung nachzugeben, den Kapitalismus nun, da er gesiegt hat, für ebenso irreal zu erklären wie den besiegten Sozialismus. – Metastasen linken Bewusstseins. Welcher Konformitätsdruck wird nun auf uns wirken?
7. September 1990, Ortisei
Pluraler Marxismus. – Ist es zu spät, den dritten Band zu veröffentlichen? Unversehens renne ich nicht einmal mehr offene Türen ein, sondern da sind keine kriegssozialistischen Mauern mehr, vielmehr ist da eine neue Mauer, erbaut aus Geschwätz, welches das Schweigen über die Hauptsache kaschiert. Was gegenwärtig, nach dem Untergang des Marxismus-Leninismus als Offizialideologie des befehlsadministrativen Regimes, an Kritik post mortem geübt wird, steht unter dem Verdacht aller nachträglichen Kritik an Besiegten: Nachher ist man nicht vor allem klüger, sondern es ist opportun, das Gestürzte zu treten. Manche der Mitmacher des Alten machen schon wieder mit.
Diesem Verdacht könnten die Beiträge meines dritten Bandes nicht ausgesetzt werden. 1. Historisierung des Projekts die Voraussetzung. 2. Bewertung meiner Beiträge zur »Widerspiegelungs-Diskussion« vom Standpunkt der Frage, was sie beitragen zur Archäologie des künftigen Marxismus. 3. Verselbständigung der angekündigten Beiträge zur Politik des Kulturellen.
Die unfreiwillig komische, blamierte Losung der DDR-Führung: den Kapitalismus zu überholen, ohne ihn einzuholen, in der mehr Sinn steckte als im Triumph über den Untergang der DDR, passt auf den Streit, dessen eine Seite in diesem Buch festgehalten ist: Scheint diese ganze Diskussion überholt, so ist sie doch nicht eingeholt.
Wenn es heute um rettende Kritik in den Trümmern geht, um Unterscheidungsvermögen –
Wenn man mir heute, mit dem Rücken zum siegreichen Kapitalismus, vorwirft, ich hätte seinerzeit nicht völlig gebrochen, sondern Ja, aber … gesagt, so ist dies auf eine Weise richtig: Ich hatte das klassische Terrain, also das Terrain der Klassiker, das der ML beanspruchte, als Kampffeld akzeptiert. Im Klassikerauftrag zu handeln, war das Imaginäre des befehlsadministrativen Sozialismus. Insofern stellten meine Einwände immanente Kritik dar, ging es doch auch darum, die Bruchstellen zwischen dem Gedankenmaterial, aus dem dieses Imaginäre sich aufbaute, und der wirklichen Basis dieses Imaginären aufzudecken. Dabei nicht zu vergessen die partiellen Entsprechungen zwischen jener Basis, den befehlsadministrativen Produktionsverhältnissen, und diesem Material, mit dem die Fassade des ideologischen Überbaus verkleidet war.
Pluraler Marxismus – Formel für Beliebigkeit? Dagegen: Vom IMSF zur SPD gewandert der Vorwurf, ich würde bestimmen, was Marxismus sei und was nicht.
Schwäche: Nicht Kritik der avancierten bürgerlichen Theorien, sondern Sich-Freistrampeln im Veralteten.
29. September 1990, Berlin
Folge der Annexion Kuwaits durch den Irak: In Rotterdam der Ölpreis bei 41,5 USD, obwohl der US-Präsident 10 Prozent der nationalen Ölreserve hat verkaufen lassen. Das wird Inflation und Zinsen hochtreiben, die Depression in den USA kann zur großen Krise werden. Schon jetzt der Staatshaushalt am Rande des Chaos. Zu alledem saugt Japan Geld zurück aus den USA, weil die fallenden Börsenkurse das Wertpapiervermögen der Banken reduziert haben. Die Grundstückpreise in den USA fallen, weil Anlagen verflüssigt werden müssen.
Die BRD verschuldet sich wegen der DDR, wo man derzeit »Besetzung« und »Vergewaltigung« erfährt, Begriffe, die selbst im noch drei Tage amtierenden CDU-Kabinett verwendet werden. Bitterkeit auf einem Hintergrund der Angst. Die Oktoberrevolutionäre geschasst. Die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften sollen systematisch ruiniert werden. Eine der Waffen ist ausgerechnet das Staatseigentum an Grund und Boden. Staatseigentum, vormals zur Vorenthaltung von realer Vergesellschaftung dienend, dient nun zur Entgesellschaftung.
Überraschend durchs Bundesverfassungsgericht das Wahlgesetz verworfen, das eigens zugunsten der rechtskonservativen DSU und zur Vernichtung der PDS gemacht worden war. PDS und Bürgerinitiativen kriegen plötzlich doch noch eine Chance.
»Kindergipfel« der UNICEF: als bildeten Kinder als solche eine Interessengruppe, also hungerten Kinder und nicht junge genau wie ältere Arme. Kinder als Kategorie quer zu den Klassen.
30. September 1990
Traum von meinem Vater. Er stand an meinem Bett, und schien sich zu entschuldigen, dass es ihm nie leicht gefallen sei, Liebe zu zeigen. Ich sagte: Ich hätte mir nicht vorgestellt, dass es ohne dich so schwer sein würde. Er umarmte mich, hob mich dabei hoch. Ich war wohl wieder ein Kind. Die Tränen schossen mir in die Augen. Aber es war klar, mir würde Kraft zuwachsen. – Zu denken, was für ein verhutzelter Männerembryo er war, als ich ihn zuletzt lebend sah.
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Aus Mexiko Bolívar Echeverría zu Besuch. Er sprach über die arabische Gegenmodernisierung als Reaktion auf schlechte Modernisierung. Sieht den deutschen Kapitalismus in der Pflicht, den Osten bis Sibirien zu modernisieren und sich zu subsumieren.
Weil Subsistenz nicht viel mehr als nichts kostete, sei die Arbeitskraft in der DDR keine Ware gewesen. Die sozialistischen Länder hatten die Grundversorgung als Ziel. Dagegen sieht Bolívar heute im Sozialismus die Perspektive der Befreiung des Marktes. Folglich habe Lenin unrecht, wenn er in der Ware schon das Kapital angelegt sieht. Man müsse den Einschnitt zwischen dem ersten und dem zweiten Abschnitt bei Marx ungeheuer stark lesen. Eingreifen heiße zerstören; das Kapital greife ein. Kurz, Bolívar versucht, die Rehabilitierung des Marktes zu Marx zurückzuverlegen.
Fidel Castro sei im Kriegskommunismus befangen; ein Kapitän, der mit dem Schiff unterzugehen sich anschicke. Im Gegensatz dazu hält Bolívar die Regierungsabgabe der Sandinisten für »ganz logisch«. Ungeheuer wichtig, dass sie die Armee behalten haben. Die ökonomische Krise völlig ungelöst. Die Sandinisten suchen zusammen mit der bürgerlichen Regierung nach einer Lösung.
Bolívar erzählte vom »theoretischen Stierkampf« (corrida de toros) um Octavio Paz (Agnes Heller, Cornelius Castoriadis, Peter Sloterdijk und 15 andere): Das Ende des Kommunismus, Zeit des Liberalismus. Erhielten für ihre Inszenierung beste Sendezeiten. Die Linke eingeschüchtert. Carlos Monsiváis war der eingeladene Lizenz-Linke. Als er auf Paz, der alles erdenklich Schlechte von den Linken behauptet hatte, erwidern wollte, schnitt man ihm das Wort ab. Tags darauf replizierte er in La Jornada. In der Folge meldeten sich immer mehr Intellektuelle zu Wort, dazu der Politologenkongress. Pablo Gonzalez Casanova, der auf diesem Kongress eine Rede über die Lage der Sozialwissenschaften Lateinamerikas gehalten hat, soll zu Armando Hart gesagt haben: »In Kuba braucht ihr eine zweite Revolution.«
Die von Bolívar mitherausgegebene Zeitschrift Cuadernos Políticos unterbricht fürs erste ihr Erscheinen. »Wir brauchen zunächst einige Zeit zum Nachdenken.«
Bolívar arbeitet über Barock in Lateinamerika. Leitet die spezifische Diskursweise von diesem Phänomen her. Barock als Modernitätsform. Z.B. existiere die Bedeutung »nein« nicht. Um zu negieren, benützten sie »ja, ja«. Das Wesentliche wird im Nebensächlichen bedeutet.
Als erste Kulturpolitik der Geschichte sieht er die der Jesuiten des 17. Jahrhunderts: Dammbau gegen die Reformation.
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Zum »Veralteten« der DDR gehörte die Orientierung auf Schriftkultur. Das Buch. Die Zeitschrift.
Wieso der Platinpreis fällt: Man rechnet mit Rezession (Krise), daher mit weniger Investition in Umweltschutz, für den Platin gebraucht wird.
1. Oktober 1990
Die USA drängen sich der westlichen Welt als Söldner auf, sagte Bolívar. Sie wollen den Krieg und haben nun wenigstens den Kriegszustand.
Panik an der Börse von Tokio. Die Kurse halbiert im Vergleich zum Jahresbeginn.
Zum ersten Mal Schüsse bei einer PDS-Veranstaltung.
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BVG-Urteil zum Wahlgesetz. – Parteien der DDR müssten dort 23,75 Prozent der Stimmen erhalten, um insgesamt über die 5-Prozent-Hürde zu gelangen. Bundesdeutsche Parteien, die einzig im Bundesgebiet kandidieren würden, bräuchten stattdessen nur 6 statt wie bisher 5 Prozent. Das wäre als Ungleichbehandlung anfechtbar. Die FAZ (Fromme) sauer auf das Verfassungsgericht.
Vorbesprechung der Volks-Universität 1991. – Ina Merkel gegen das Deutschland-Thema. Die DDR-Bürger wollten endlich etwas über die weite Welt wissen. Weder Nabelschau noch deutsche Selbstablehnung. Ina kicherte fortwährend, aber es lauerten Tränen.
Bis zur körperlichen Attacke soll André Brie, gegen den »Revisionismus« seines Vaters wütend, gegangen sein. Ehedem Kampfgruppenführer. Michael erwähnte es, als ich von den bitter herabgezogenen Mundwinkeln seines Bruders sprach.
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Unendlich schwierig und sehr notwendig, gerade jetzt als Linker die Widersprüchlichkeit der Situation zu denken. Von Eckart Spoo einen Rundbrief, worin er einseitig richtige Äußerungen von Steinkühler zitiert, die er entgegengesetzt einseitig richtig kritisiert. – Steinkühler schreibt in Metall, die Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober biete der Menschheit »eine neue, vielleicht sogar eine allerletzte Chance«. – Spoo: »Gesamtdeutschland als letzte Chance der Menschheit? Geht es nicht eine Nummer kleiner?« – Steinkühler näher an der Wahrheit. Jetzt ist Weltinnenpolitik möglich geworden, ohne dass im mindesten sicher wäre, dass wir nicht nur westlichen Imperialismus-der-Sieger bekommen. Aber die deutsche Vereinigung ist ja nur Ausdruck einer globalen Änderung, die der Menschheit tatsächlich eine letzte Bewährungsprobe einräumt.
2. Oktober 1990
Tengelmann inseriert in der FAZ ganzseitig: »Wir freuen uns auf Deutschland«. Dto. die Dresdner Bank: »Mit dem 3. Oktober beginnt für uns und für alle Deutschen der Aufbruch in eine neue Zeit.«
Gestern Abend mit Michael Brie im »Haus des Welthandels« an der Friedrichstraße: im Erdgeschoß bereits Kaisers Kaffeegeschäft von Tengelmann eingezogen.