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Im deutschsprachigen Raum finden sich darüber hinaus nur vereinzelte Beiträge. Die große Mehrheit der wenigen überhaupt vorhandenen Beiträge zum Thema Spannung stammt aus dem englischsprachigen Raum.
Die Beiträge verteilen sich auf verschiedene Disziplinen und Teildisziplinen. So wird das Thema unter anderem in der rezeptionsorientierten Literaturwissenschaft, in der Filmwissenschaft, in der Psychologie und in der Philosophie behandelt. In keiner dieser Disziplinen kann man im Bereich der Spannung von einer etablierten Forschungsrichtung sprechen.
In den jeweiligen Disziplinen wird das Thema Spannung relativ autonom behandelt, Ergebnisse einzelner Forscher fließen in der Regel nicht in die Arbeiten anderer Wissenschaftler ein, wie bereits Junkerjürgen festgestellt hat.5
Das ist auch der Grund dafür, dass nicht alle Autoren die Haupttypen Suspense, Curiosity und Puzzles gleichermaßen in ihre Analysen miteinbeziehen, sondern dass sie sich auf einen einzelnen Typen in einem speziellen Medium konzentrieren. Überwiegend steht der filmische Suspense im Zentrum der Untersuchungen.
Insgesamt weist die Forschung daher in vielerlei Hinsicht eine hohe Heterogenität auf. Gemeinsam ist den verschiedenen Ansätzen, dass der Rezipient beim Lesen eine aktive Rolle spielt. Die aktive Rolle des Rezipienten wird allerdings lediglich als solche benannt. Sein kognitiver Beitrag beim Aufbau der Spannung wird bis auf wenige Ausnahmen nicht thematisiert. Damit wird ein Thema vernachlässigt, dass in dieser Arbeit im Mittelpunkt steht.
Im Folgenden werden einige Beiträge vorgestellt. Zunächst werden textexterne Spannungstheorien kompakt skizziert. Im Anschluss werden die zentralen Ansätze zur Spannung vorgestellt, die präzisere Versuche darstellen, das Phänomen greifbar zu machen.
2.1 Textexterne Spannungstheorien
Es gibt Ansätze, die sich auf einer fundamentaleren Ebene mit dem Phänomen der Spannung beschäftigen. Sie widmen sich der Frage, warum Spannung überhaupt entstehen kann, ohne die Textebene genauer in die Untersuchungen mit einzubeziehen. Beispielhaft werden im Folgenden zwei ausgewählte Ansätze knapp zusammengefasst.
Spannung und der Zeigarnik-Effekt: Den Zeigarnik-Effekt hat die russische Psychologin Bljuma Wulfowna Seigarnik in dem Aufsatz „Das Behalten erledigter und unerledigter Handlungen“ beschrieben. Der Aufsatz beschäftigt sich mit dem Phänomen, dass sich nicht vollendete Handlungen besser ins Gedächtnis einprägen als abgeschlossene. Zeigarnik führt dieses Phänomen darauf zurück, dass der Mensch ein generelles Bedürfnis besitzt, einmal angefangene Aufgaben abzuschließen.6 Katja Mellmann überträgt diesen Ansatz auf die Rezeption spannungsvoller Texte. Dabei identifiziert sie unaufgelöste Spannung mit einer ungelösten Aufgabe. Unaufgelöste Spannung setzt sich im Gedächtnis fest und schafft ein Bedürfnis nach Auflösung.7
Spannung als Kontrollverlust: Peter Wuss bietet auf der Grundlage des Psychologen Rainer Oesterreich und dem daraus entwickelten Ansatz von Dömer, Reither und Stäudel eine Spannungsbestimmung im Bereich des Suspense. Oesterreich unterteilt beim Menschen verschiedene Bedürfnisebenen. Zu den Primärbedürfnissen zählt er das Bedürfnis nach Kontrolle. Das ermöglicht dem Menschendie Umwelt oder die Innenwelt nach seinen Wünschen beeinflussen zu können (aktive Kontrolle) oder doch die Entwicklungen in der Zukunft voraussehen zu können (passive Kontrolle, d.h. die Möglichkeit der Vorausschau).8Wuss benutzt diesen Ansatz, um Spannung zu erklären. Demnach kann der Rezipient keine aktive Kontrolle auf den dargestellten Verlauf einer Geschichte ausüben, er kann allerdings passive Kontrolle gewinnen, indem er Hypothesen bildet. So entsteht dann Spannung.9
Die Ansätze werden als Hintergrundtheorien angesehen, die sich auf einer tieferliegenden Ebene ansiedeln. Sie liefern damit Gründe dafür, warum Rezipienten überhaupt Spannung erleben können. In dieser Arbeit wird nicht weiter auf diese und ähnliche Forschungszweige eingegangen, weil diese sich linguistisch nicht beschreiben lassen. Wenn man allerdings annimmt, dass diese Ansätze sich auf einer tieferliegenden Ebene ansiedeln, so sollte mindestens einer kompatibel sein mit allem, was in dieser Arbeit besprochen wird.
2.2 Zentrale Theorien im Bereich der Spannung
In diesem Abschnitt werden die zentralen Ansätze zur Spannung vorgestellt. Dieser Teil des Kapitels zielt nicht darauf ab, die Literatur zur Spannung in allen Einzelheiten abzudecken. Die Auswahl der Ansätze soll lediglich als Überblick über die wichtigsten Ansätze dienen und über die Breite der verschiedenen Disziplinen und die damit verbundenen Konzeptionen orientieren. Darüber hinausgehende Aspekte zu einzelnen Teilbereichen werden in den Kapiteln bereitgestellt, die die einzelnen Spannungstypen behandeln.
2.2.1 Sternberg
Der israelische Literaturwissenschaftler Sternberg ist einer der ersten Autoren, die sich intensiv mit dem Phänomen Spannung auseinandergesetzt haben. Seine Analyse stammt aus dem literaturwissenschaftlichen Bereich der Rezeptionsästhetik. Er gibt in vielfacher Hinsicht wichtige Anstöße und bietet unter anderem drei Grundtypen der Spannung an.
In seinem fundamentalen Werk zur Rezeption von Texten schreibt Roman Ingarden, dass nicht alle Aspekte einer Textwelt an der Textoberfläche realisiert werden. Zum Beispiel werden nicht in jedem Text die Augenfarbe, die Länge der Füße, die Färbung der Stimme, die Haltung und der Körperbau der Figuren zwangsläufig expliziert. Wo die Beschreibung ausbleibt, eröffnet ein Text sogenannte Unbestimmtheitsstellen bzw. Leerstellen, die die unterschiedlichsten Aspekte der Textwelt betreffen können. Diese können vom Leser ergänzt bzw. wie Ingarden es formuliert konkretisiert werden. Er spricht bei dieser leserseitigen Aktivität von der mitschöpferische Tätigkeit des Lesers.10
Während diese von Ingarden hervorgehobenen Leerstellen zunächst kaum Spannungspotential besitzen, zeigen die rezeptionsästhetischen Arbeiten von Sternberg in eine deutlich andere Richtung. Spannung entsteht, sobald der Text über eine Reihe bestimmter Leerstellen verfügt. Zum einen können Zusammenhänge innerhalb der Textwelt im Verborgenen bleiben. Bei den Leerstellen kann es sich auch um Ursachen von Ereignissen und Motive von Figuren handeln, wobei dem Rezipienten das Vorhandensein der jeweiligen Leerstelle bewusst ist. Darüber hinaus kann der Leser sich fragen, was als nächstes passieren wird. Leerstellen lassen sich Sternberg zufolge als Fragen wiedergeben.11
The literary text may be conceived of as a dynamic system of gaps. A reader who wishes to actualize the field of reality that is represented in a work, to construct (or rather reconstruct) the fictive world and action it projects, is necessarily compelled to pose and answer, throughout the reading-process, such questions as, What is happening or has happened, and why? What is the connection between this event and the previous ones? What is the motivation of this or that character?12
Suspense ergibt sich bei zukunftsgerichteten Leerstellen, die mit der Frage einhergehen, was als nächstes passieren wird. Curiosity entsteht bei rückwärtsgewandten Unbestimmtheitsstellen, die die Vergangenheit betreffen. In Bezug auf das Curiosity fügt Sternberg beläufig hinzu, dass es bei diesem Spannungstyp eine Abweichung gibt zwischen der tatsächlichen Reihenfolge der Ereignisse (literaturwissenschaftlich ausgedrückt auch plot) und der auf der Textebene dargestellten Reihenfolge der Ereignisse (auch story). In der Textstruktur wird beim Curiosity ein Element ausgelassen, was dem Leser bewusst ist.13 Die Spannungsform des Puzzles wird bei Sternberg durch die Frage What is the connection between this event and the previous ones? angedeutet, darüber hinaus wird dieses nicht weiter besprochen. Der Spannungstyp wird allerdings bei einem anderen zentralen Forscher aus dem Bereich der Rezeptionsästhetik, Iser, auch erwähnt, der beim Puzzle die Kompositionsleistung des Lesers betont.14
Der Leser kann Sternberg zufolge in zweierlei Weise auf Unbestimmtheitsstellen reagieren, einerseits kann er sie ignorieren und andererseits kann er sie füllen.15 Im zweiten Fall bildet er Hypothesen über die jeweilige Leerstelle aus. Anschließend überprüft er seine Hypothesen für die Unbestimmtheitsstellen, wobei diese Annahmen gegenläufig sein und sich ausschließen können. Zugleich können diese Hypothesen verschiedene Glaubenswahrscheinlichkeiten besitzen.16 Sowohl Leser als auch Werk beeinflussen die Bildung von Hypothesen.17
2.2.2 Brewer
An die Beschreibung des Curiosity und Suspense von Sternberg schließen die Forschungsarbeiten um den US-amerikanischen Kognitionswissenschaftler William F. Brewer an. Seiner Structural-Affect Theory zufolge hängen die dramatischen Effekte unterhaltender Texte von der Reihenfolge der Ereignis-Darstellung im Text ab. Dieser Ansatz hebt gezielt die Unterscheidung zwischen der tatsächlichen Reihenfolge von Ereignissen und der Reihenfolge ihrer Darstellung hervor, die bei Sternberg eher beiläufig erwähnt wird und die der israelische Autor lediglich für den Spannungstyp des Curiosity ausführt. So erhält Brewer einen seiner wesentlichen Anstöße von dem israelischen Literaturwissenschaftler.18
Im Vergleich zu Sternberg, der sich auf schriftsprachliche Texte bezieht, heben Brewer und Lichtenstein hervor, dass es sich bei diesen Spannungstypen um Effekte handelt, die unabhängig von der Modalität entstehen. Sie können in schriftsprachlichen, in audiovisuellen etc. Texten realisiert werden.19
Ein Suspense-Beispiel von Brewer und Lichtenstein:
(4) The sniper was waiting outside the house. Charles got up from the chair. He walked slowly toward the window. There was the sound of a shot and the window broke. Charles fell dead.Bei dieser Art Spannung zu erzeugen, entspricht die Ereignis-Darstellung der tatsächlichen Reihenfolge der Ereignisse. Der Leser ist vorinformiert und fragt sich, wie es ausgehen wird. Er antizipiert eine signifikante Folge für eine Figur, die nur partiell informiert ist. Die Leser-Emotionen sind verschieden von den Figuren-Emotionen.20 Da die Figur nicht über den Plan des Angreifers informiert ist, handelt es sich beim diesem Effekt um die Art, die Hitchcock in seinen Filmen regelmäßig benutzte und die er in dem berühmten Interview mit Truffaut ausgeführt hat. Der Ansicht des Master of Suspense führt diese Form zu den intensivsten Zuschauerreaktionen.21
Ein Beispiel für Curiosity von Brewer und Lichtenstein:
(5) Charles fell dead. The police came and found the broken glass, etc.Bei diesem Mittel Spannung zu erzeugen, muss die tatsächliche Ereignisstruktur mit einem bedeutungsvollen Ereignis beginnen. In der Darstellung des Geschehens wird dieses allerdings ausgelassen. Der Leser bekommt genug Informationen, um zu wissen, dass vorher etwas vorgefallen ist, das Informationsdefizit muss ihm bewusst sein. Auf diese Art und Weise wird seine Neugier auf das zurückliegende Ereignis gelenkt. Im weiteren Textverlauf wird die ausgelassene Information nachgereicht, sodass der Leser das bedeutungsvolle Ereignis rekonstruieren kann und die Spannung aufgelöst ist.22
Mit den Forschungsarbeiten von Brewer und Lichtenstein erlöscht dieser durch Sternberg angeregte Untersuchungszweig.
2.2.3 Carroll
Fragen kontrollieren die Erwartungen des Zuschauers. Während Brewer und Lichtenstein auf Sternberg Bezug nimmt, beschreibt der US-amerikanische Philosoph Noël Carroll unabhängig von den Forschungsergebnissen dieser Autoren den Suspense und das Curiosity. Seine Untersuchungen beziehen sich auf Filme. Carroll zufolge stellt der Zuschauer bei der Filmrezeption ununterbrochen Fragen. In der Regel geschieht dies unbewusst. Sobald ein Film allerdings angehalten wird, dringen die Fragen an die Oberfläche und werden sprachlich realisiert.23
Die Fragen werden ausgelöst durch audiovisuelle Ereignisse.24 Fragen und Antworten verbinden audio-visuelle Einheiten verschiedener Ausdehnung. Von Szenen bis hin zum gesamten Text.25
Anzahl möglicher Antworten, zeitliche Dimension, Moral. Spannung beschreibt Carroll unter Rückgriff auf Fragen. Sie konstituieren fictions of uncertainty. Die Abgrenzung zwischen dem Suspense und dem Curiosity basiert auf der zeitlichen Dimension dieser Spannungstypen. Demnach sind die Fragen entweder zukunfts- oder vergangenheitsgerichtet.26 Als ein weiteres Abgrenzungskriterium dient die Anzahl möglicher Antworten auf eine Frage. Um die beiden Spannungstypen voneinander zu trennen, greift er unter anderem zurück auf die Unterscheidung in Entscheidungsfragen, bei denen es nur zwei mögliche Antworten gibt, die sich logisch ausschließen, und Ergänzungsfragen, die mehrere, sich nicht ausschließende Möglichkeiten besitzen.27
Das Curiosity charakterisiert er als offene Ergänzungsfragen. Beim Genre Kriminalgeschichte fragt sich der Leser zum Beispiel, welche Motive den Täter leiten. Grundsätzlich sind eine Reihe verschiedener Möglichkeiten denkbar, die einzeln vorkommen können oder gleichzeitig wahr sein können. Dieser Spannungstyp ist vergangenheitsbezogen.28
Suspense ergibt sich bei einer Entscheidungsfrage, die sich auf die Zukunft bezieht. Allerdings erzeugt nicht jede zukunftsgerichtete Frage Spannung. Zusätzlich benötigt der Suspense eine moralische Dimension. Von den zwei möglichen Antworten muss eine Möglichkeit unwahrscheinlich und moralisch korrekt und die andere wahrscheinlich und moralisch fragwürdig sein.29
I am holding that, in the main, suspense in film is (a) an affective concomitant of an answering scene or event which (b) has two logically opposed outcomes such that c) one is morally correct but unlikely and the other is evil and likely.30
Die Moral basiert auf einer Alltagsmoral. Sie kann durch tugendhafte Szenen vermittelt werden, in denen der Protagonist zum Beispiel seine Tapferkeit unter Beweis stellt. Sie muss nicht zwangsläufig mit der außermedialen Realität übereinstimmen, in diesem Fall kann ein Moralsystem relativ zum jeweiligen Film entstehen. Zugleich steht beim Suspense etwas auf dem Spiel. Gefahren müssen hervorgehoben werden. Sie drohen sich in unmittelbarer Zukunft einzustellen.31
Die Wahrscheinlichkeiten müssen betont werden (adding probability factors). Im Film entsprechen sie nicht den Wahrscheinlichkeiten in der Welt der Rezipienten. Man darf sich auch nicht dazu verleiten lassen, den Begriff technisch zu verstehen. Während der Rezeption greift der Zuschauer nicht auf seine stochastischen Fähigkeiten zurück, er versucht also nicht, die Wahrscheinlichkeit bis auf die dritte Ziffer hinter dem Komma zu berechnen.32
Mikro-, Makroebene und Rekursivität. Carroll unterscheidet zwischen Spannung auf der Mikro- und auf der Makro-Ebene. Die Zuordnung ergibt sich aus der textuellen Distanz zwischen Frage und Antwort.33
(6) Wird James Bond dem brennenden Aufzug entkommen? (7) Wird das Gute oder das Böse siegen?(6) und (7) geben mögliche Suspensefragen wieder, die der Rezipient während der Rezeption aufwerfen kann. In (6) handelt es sich um eine Frage, die die augenblickliche Situation in einem Film betrifft, sie siedelt sich daher auf der Mikroebene an. In (7) liegt eine Frage vor, die sich auf das Gesamtwerk bezieht und daher in den Bereich der Makrofragen eingeordnet wird.
Makro- und Mikro-Fragen können in wechselseitiger Beziehung zueinander stehen. Die Antwort von Mikro- und Makrofragen können sich überschneiden. Fragen und Antworten verbinden Szenen, aber auch gesamte Texte.34
Auf der Grundlage von Fragen lassen sich verschiedene Funktionen von Szenen klassifizieren. Carroll unterscheidet zwischen a) Szenen, die dem Rezipienten Orientierung (establishing shot) bieten (zum Beispiel wird die Fifth Avenue gezeigt, bevor ein Büro gezeigt wird) und die nicht unbedingt Fragen aufwerfen muss. Daneben gibt es b) Szenen, die eine Frage aufwerfen (questioning scene), c) Szenen, die eine Antwort liefern (answering scene), d) Szenen, die Fragen aufrechterhalten oder verstärken (sustaining scene), e) Szenen, die eine Antwort geben und zugleich eine neue Frage aufwerfen, und letztendlich f) Szenen, die Teilantworten bereitstellen (incomplete answering scene). In diesem Fall erstrecken sich Antworten über mehrere Szenen. Je größer die Anzahl solcher Szenen in einem Film ist, desto komplexer ist der Film. In Szenen können die einzelnen Film- bzw. Textelemente eine Vielzahl anderer Funktionen gleichzeitig übernehmen. Nicht alle Szenen dienen dem Fragen-Aufwerfen. Darüber hinaus gibt es Szenen, die Antworten moralisch färben.35
Um Spannung zu analysieren, müssen diejenigen Szenen bestimmt werden, die Fragen auslösen und erhalten. Zugleich bietet es sich an, einerseits Szenen herauszusuchen, die mögliche Antworten moralisch situieren, und andererseits, Szenen zu isolieren, die Wahrscheinlichkeiten zuordnen.36
Ein Film wird als Suspensefilm klassifiziert, wenn eine Suspensefrage das Werk auf der Makroebene überspannt, wenn statt einer suspensevollen Makrofrage eine Reihe von Suspense-Mikrofragen aufeinanderfolgen und wenn entscheidende Szenen mit Suspense beladen sind.37
2.2.4 Zillmann
Positive und negative Ausgänge. Der US-amerikanische Psychologe Dolf Zillmann greift bei seiner Suspense-Definition auf mögliche zukünftige Entwicklungen der Geschichte zurück und untersucht diese innerhalb des Mediums Film. Dabei unterscheidet er zwischen solchen Ausgängen, die einen Anreiz darstellen, und solchen Ausgängen, die eine Bedrohung darstellen. Als Anreiz dient häufig eine soziales, finanzielles oder erotisches Gut. Die Bedrohung ergibt sich in der Regel dadurch, dass der Protagonist einer unmittelbaren Gefahr ausgesetzt ist, Leib und Leben sind bedroht. Als Beispiel nennt Zillmann eine Schiffskatastrophe oder die Besteigung eines Berges, in beiden Fällen befinden sich Figuren in lebensbedrohlichen Situation. Häufig sind Bedrohung und positiver Anreiz aneinander gekoppelt. Sollte die jeweilige Figur den negativen Ausgang abwenden können, so erhält sie gleichzeitig eine Belohnung.38
Suspense kommt ohne die positive Dimension aus. Um ein möglichst intensives Suspenseerlebnis zu bieten, müssen Geschichten nach Zillmann folgende Kriterien erfüllen:39
Geschichten müssen mögliche negative Ausgänge suggerieren
Gemochte Protagonisten (liked protagonists) oder eine substitute entity40 müssen betroffen sein von möglichen negativen Ausgängen, damit diese Ausgänge gefürchtet werden von den Rezipienten
Die Wahrscheinlichkeit, dass negative Ausgänge eintreten, muss hoch sein aus der Perspektive des Rezipienten
Bei der Negativität von Ausgängen differenziert Zillmann zwischen verschiedenen Graden. So ist beispielsweise der mögliche Tod auf einem höheren Negativitätsniveau angesiedelt als der Verlust von Eigentum oder die soziale Isolation. Um das Suspenseerleben zu ermöglichen, müssen die antagonistischen Kräfte den gemochten Protagonisten glaubwürdig schädigen können. Die Gefahr kann an dritten Parteien demonstriert werden, um die Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Suspense setzt nach Zillmann nicht voraus, dass Moral im Spiel, womit er sich explizit gegen Carroll richtet.41
Bei der Erzeugung von Suspense spielen die Angst und die Hoffnung von Rezipienten eine zentrale Rolle. Die negativen Konsequenzen für einen Protagonisten werden gekoppelt an die Angst, dass ein erhofftes Ereignis nicht eintreten und dass ein unerwünschtes Ereignis eintreten wird. Zugleich werden sie gekoppelt an die Hoffnung, dass ein bevorzugter Ausgang eintreten wird, dass ein unerwünschtes Ereignis für den Protagonisten nicht eintreten wird und dass negative Ereignisse für antagonistische Figuren eintreten werden. Beide sind als affektive Reaktionen eng aneinander gebunden, es handelt sich um zwei Seiten einer Medaille.42
Zillmann zufolge kann der Suspenseeffekt mit körperlichen Reaktionen einhergehen. Als mögliche Reaktionen nennt er Schweißausbrüche und Fingernägelkauen. Der Rezeption kann von Rastlosigkeit und Unruhe begleitet werden. Zum Teil lässt sich der Rezipient dazu hinreißen, zu applaudieren, wenn sich die Handlung zum Positiven für den Protagonisten auflöst.43
Dem Rezipienten weist Zillmann die Rolle eines Zeugen zu. Auf der Leinwand dargestellte Handlungen und Ereignisse wirken sich weder positiv noch negativ auf seinen Alltag aus. Auch umgekehrt besitzt er keinen Einfluss auf die Textwelt, die Entwicklungen im Film bleiben vom Rezipienten unberührt.44
Hoffen, Bangen und die Einstellung zum Helden. Hoffnung und Angst hängen stark mit der Einstellung des Rezipienten zum Protagonisten zusammen. Diese Relation zum Protagonisten beschreibt Zillmann als Empathie (ein identifikatorisches Verhältnis weist er zurück, weil die Figuren und Leser über verschiedene Wissensbestände verfügen und daher auch verschiedenen Emotionen ausgesetzt sein können).45
Diese affektiven Dispositionen basieren nach Zillmann auf soziopsychologischen Prozessen, die je nach der emotionalen Beziehung zu den Figuren variieren. Leidet eine gemochte Figur, so leidet auch der Rezipient. Freut sich diese Figur, so überträgt sich das positive Gefühl auf den Leser bzw. Zuschauer. Antipathie gegenüber einer Person führt zu einer entgegengesetzten emotionalen Reaktion. Die Freude des Antagonisten verursacht negative, sein Leiden positive Emotionen. Die Wahrnehmung von positivem und negativem Ausgang kehrt sich also um, wenn sich die Einstellung zu den Figuren umkehrt. So kann das gleiche Ereignis beim Zuschauer verschiedene Reaktionen hervorrufen – je nachdem, in welcher Relation er zu einzelnen Figuren steht.46
Mit der Relation ändert sich auch die Bewertung von negativen und positiven Ausgängen einzelner Figuren. Eine negative Konsequenz für einen Antagonisten wird vom Rezipienten als positiv empfunden. Eine negative Konsequenz, die den Protagonisten betrifft, wird als negativ eingestuft. Es gibt also negative Konsequenzen für Figuren, die je nach der Einstellung der Rezipienten als positiv und negativ eingeordnet wird.47
Suspense, Euphorie und Disphorie. Von der Relation zum Protagonisten und vom negativen Ausgang hängen Euphorie- und Disphorie-Reaktionen ab. Euphorie entsteht, wenn eine Gefahr für einen gemochten Protagonisten verringert oder abgewendet wurde. Sie steigt, je größer der Schaden für den Antagonisten und der Nutzen für den Protagonisten ist. Mit der Disphorie-Reaktion verhält es sich umgekehrt. Sie steigt zum Beispiel, wenn eine negative Konsequenz eintritt. In Geschichten nehmen mögliche negative Emotionen den Großteil der Zeit ein, bis am Ende eine positive Auflösung erfolgt. Das bedeutet, dass viele Episoden häufig mit Disphorie beladen sind, dass das finale Ende jedoch Euphorie erzeugt.48
Zugleich beeinflusst auch der Beitrag des Protagonisten zum Ausgang die Euphorie- und Disphorieintensität. Die Disphorie steigt, wenn der Protagonist die negativen Folgen selbst herbeiführt. Die Euphorie ist größer, je stärker der Protagonist zur Lösung des Problems bzw. zur Abwendung des negativen Ausgangs beigetragen hat. Handelt es sich um einen inaktiven Protagonisten, so steigt die Euphorie nur marginal.49
Daraus leitet Zillmann praktische Implikationen für den Anfang und das Ende von Geschichten ab: Zu Beginn einer Geschichte sollte der Protagonisten in ein positives Licht gerückt und der Antagonist negativ darstellt werden. Erst danach kann begonnen werden, den Protagonisten mit Gefahrensituationen zu konfrontieren. Die Auflösung verläuft optimal, wenn der Protagonist das Böse selbst (allein) besiegt und dafür belohnt wird.50











