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Bei den grossen Empfängen in «Petit Champs» waren die Kinder nicht dabei. Nur bei kleineren Einladungen kam es zuweilen vor, dass sie zusammen mit der Gouvernante an einem separaten Tisch essen durften. Meistens jedoch nahmen die Knaben ihre Mahlzeiten im hauseigenen Schulzimmer ein und wurden anschliessend ins Bett geschickt, wo sie noch eine Weile der Musik, dem vergnügten Lachen und den Gesängen der Gäste lauschen durften. Dann kam die Mutter, setzte sich zu ihnen ans Bett, bekreuzigte sie und sprach ein Nachtgebet. Eingenommen von ihrer liebenswürdigen Art und mit dem Bild ihres anmutigen Lächelns vor Augen, schliefen sie friedlich ein. Auch den Vater bewunderten sie über alles. Im Gegensatz zu Philomène war er von grosser, aber schlanker Statur und hatte trotz seines fortgeschrittenen Alters und seiner grau gelockten Haare ein jugendliches Gesicht. Eduard wiederum war stolz, dass seine Frau als die eleganteste Dame Konstantinopels galt. An vielen Anlässen und Empfängen waren ihre Kleidung und ihr sicherer Geschmack das vorherrschende Thema unter den Damen. Auch als die Auslagen später eingeschränkt werden mussten, war sie stets darauf bedacht, ihre Noblesse nie völlig ablegen zu müssen.
In jenen Tagen in Konstantinopel jedoch fehlte es ihnen an nichts. Sie waren von zahlreichen griechischen Bediensteten umgeben, besassen Pferde und ein Boot, mit dem sie im Sommer in Begleitung von drei türkischen, in goldene Gewänder gekleideten Ruderern Ausfahrten machten. An die Bälle liess sich Philomène von zwei edel ausstaffierten Knaben in einer geschlossenen «Chaise à Porteur» tragen. Ansonsten stand die Sänfte in der Empfangshalle, und wenn es niemand sah, setzten sich die Kinder hinein und ahmten das Leben der Erwachsenen nach.
In der gehobenen Gesellschaft Konstantinopels ging es damals ausgesprochen fröhlich zu und her. Die Menschen waren unbeschwert und voller Lebensfreude. Nebst Bällen und Empfängen fanden Konzerte und Theaterveranstaltungen statt. Im Sommer unternahm man Picknickausflüge aufs Land oder auf die Prinzeninseln.
Die Familie von Steiger reiste jeden Frühling an den Bosporus, meistens nach Bujuk-Dare. Der Ort mit den vielen Botschaften und Residenzen galt in ihrem Bekanntenkreis als beliebtes Ausflugsziel. Besonders beeindruckte die russische Residenz, die von einem prachtvollen Park umgeben war und von der aus man eine wundervolle Aussicht auf die Öffnung des Bosporus mit den vielen Schlössern und ausgedehnten Gartenanlagen bis hin zum Schwarzen Meer und zum Hafen von Konstantinopel hatte. Und man sah auf das Goldene Horn, das den Bosporus mit dem Marmarameer verband. Obwohl Eduard und Philomène in ihrem Leben viele Länder bereist hatten, waren sie sich einig, dass ihnen nie zuvor eine Gegend von vergleichbarer Schönheit begegnet war.
Die von Steigers verfügten neben einem Kutter über ein eigenes Luxusschiff mit dem Namen «Taman». Der Kommandant war schon etwas älter und hatte ein grosses Herz. Alle nannten ihn «Kapitän Gut», und wenn er die Familie durch den Bosporus steuern und ihnen einen Teller seines kräftigen Borschtsch mit einem Stück schmackhaftem Schwarzbrot vorsetzen konnte, strahlte er über das ganze Gesicht.
Die Aufzeichnungen von Eduards Sohn Sergej geben Einblick in das Leben seines Vaters und in die damaligen besseren Kreise von Konstantinopel. Sie zeigen, womit die Gesellschaft zu kämpfen hatte und was sie beschäftigte. Figuren und Schicksale tauchen auf, die man für Erfindungen halten könnte und anhand derer man nachvollziehen kann, warum Niklaus gewisse Kapitel seiner Familiengeschichte mit Tolstois «Anna Karenina» verglich.
Abgesehen von den verwandtschaftlichen Verbindungen, die Philomène und Eduard besonders wichtig waren, bestand ihr Umfeld hauptsächlich aus Mitgliedern des diplomatischen Korps und Teilen der sehr grossen und vermögenden russischen Kolonie. Besonders verbunden waren sie mit dem Minister für Volksbildung, der sich in den schwierigen Jahren, die noch auf die russische Bevölkerung zukamen, hohes Ansehen erwerben sollte, sowie mit dem russischen Botschafter, einem Fürsten Lobanoff-Rostowskij. Ihm sagte man eine stürmische Romanze mit einer jungen Schönheit namens Virginie nach, was dem notorischen Schürzenjäger durchaus zuzutrauen war. Seine zahlreichen Affären hatten dazu geführt, dass man ihn zwischenzeitlich sogar von seinem Botschafterposten abgezogen hatte. 1888 kam er beim tragischen Eisenbahnunfall des Zarenzuges in der Nähe von Birky, an dessen Spätfolgen auch Alexander III. erlag, ums Leben. Der Fürst verschied noch an der Unglückstelle, was letztlich auch seine Geliebte in den frühen Tod trieb.
Über längere Zeit war auch der Sekretär des russischen Militärattachés in aller Munde, nachdem bekannt geworden war, dass er in Armenien mithilfe eines dort stationierten Generals ein einfaches Bauernmädchen geraubt und in die Türkei entführt hatte. In Odessa schliesslich verwandelte es sich zum allgemeinen Erstaunen in eine russische Dame von Welt, und nur ein kleiner Akzent erinnerte noch an deren Herkunft und die zur Legende gewordene Räubergeschichte.
Zu den regelmässigen Gästen in «Petit Champs» gehörte ausserdem eine gewisse Familie Onu, deren ältester Sohn als Student in eine politische Verschwörung verwickelt und in die Verbannung geschickt worden war. Seine von allen geliebte Schwester hatte sich mit einem Gutsbesitzer verheiratet und lebte auf dem Land, als sich eines Tages in der Stadt die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitete, dass die beiden unter noch ungeklärten Umständen ihre Kinder umgebracht hatten. Auf ihrer Flucht vor der Justiz griff die Polizei sie schliesslich in Wien auf und wies sie nach stundenlangen Verhören und zahlreichen medizinischen Untersuchungen in die Psychiatrie ein. In den gehobenen Kreisen diskutierte man damals, ob es sich um ein brutales Gewaltverbrechen im Affekt gehandelt, oder der Tat nicht doch eine seelische Notlage zugrunde gelegen haben musste.
Während solche und andere Geschichten besonders von den Damen angeregt diskutiert wurden, drehten sich die Gespräche in den Männerrunden immer wieder um die politischen Verhältnisse im Land. Viele der Entscheidungen des Sultans Abdul Hamid hatten einen unmittelbaren Einfluss auf ihre berufliche und persönliche Situation. Obwohl sie grundsätzlich Abdul Hamids autokratischen Führungsstil befürworteten und aufklärerischen Tendenzen ablehnend gegenüberstanden, stellten sie als kultivierte Bürger doch die zunehmende Zensur und den staatlichen Überwachungsapparat infrage.
Als sich aber die Bewegung der sogenannten Jungtürken formierte, die eine Revolution nach französischem Vorbild mit dem Ziel eines säkularisierten Staates anstrebten, ging dies selbst den fortschrittlichsten Köpfen unter ihnen zu weit. Nur Eduard fürchtete weniger den drohenden Untergang des Osmanischen Reichs als die damit verbundenen Zollformalitäten, die auf seine Schifffahrtsgesellschaft zugekommen wären.

Brüder
Als Eduards ältere Söhne Anatolij und Rudolf die nötige Reife erreicht hatten, schickten die Eltern sie ins Internat des Rischeljewskaja Gymnasiums in Odessa. Ein paar Jahre später folgten ihnen die jüngeren Brüder Nikolai und Sergej nach.
Dass Sergej Nikolai begleiten durfte und nicht, wie Philomène es sich gewünscht hatte, weiterhin bei ihr blieb, verdankte er einem eigentümlichen Umstand. Sergej trug damals Mädchenkleider und lange Haare, wie es der englischen Sitte entsprach. Während sich andere Kinder klaglos in diese Maskerade schickten, wehrte er sich mit Händen und Füssen gegen den in seinen Augen unwürdigen Aufzug. Als er in einem Spitzenkleid und sorgfältig gekämmten, bis auf die Schulter fallenden Haaren an einem Kinderball in der russischen Botschaft von einem Knaben zum Tanz aufgefordert wurde, brach Sergejs ganze aufgestaute Wut aus ihm heraus, und er schlug zum Entsetzen der anwesenden Erwachsenen dem ahnungslosen Jungen heftig ins Gesicht.
Dieser Skandal führte dazu, dass ihm die Haare geschnitten wurden und er sich fortan in der Art eines Jungen kleiden durfte. Und auch seinem Wunsch, gemeinsam mit seinem Bruder in das Rischeljewskaja Gymnasium einzutreten, wurde stillschweigend nachgegeben.
Kurze Zeit nach der Ankunft von Nikolai und Sergej in Odessa brach im April 1877 der Russisch-Osmanische Krieg aus, und auch die Eltern mussten Konstantinopel verlassen. Philomène nahm sich in der Nähe des Gymnasiums zusammen mit Tochter Walerija eine Wohnung, während Eduard in Bukarest eine Anstellung fand und die Familie nur noch selten besuchen konnte.
Der Krieg löste in sämtlichen Volksschichten der Stadt starke patriotische Gefühle aus. Wer konnte, spendete grosse Summen, und die Damen strickten für die russischen Soldaten warme Kleider. Man verfolgte das Geschehen fieberhaft mit, beklagte die Verluste und jubelte bei jeder russischen Eroberung.
Auch die elf- und dreizehnjährigen Buben Sergej und Nikolai waren bestens über die Kampfhandlungen unterrichtet. Sie kannten alle Schlachtfelder und die Namen von Kriegsgrössen wie Gurko, Skobelew oder Totleben. Nach der Schule übten sie auf dem Pausenplatz das Exerzieren, sangen Militärlieder und träumten davon, als Freiwillige in den Krieg zu ziehen.
Schon im Sommer vor dem Ausbruch der militärischen Auseinandersetzungen hatten die Buben ihre Spielsäbel geschliffen und sich so ins Zeug gelegt, dass sich Sergej nach einem Schlag seines Bruders Rudolf eine Gesichtswunde nähen lassen musste. Den schwarzen Verband trug er noch lange voller Stolz und fühlte sich wie ein kleiner Kriegsheld.
Als das Dragonerregiment Kinsberg verabschiedet wurde, durften die Schüler des Rischeljewskaja Gymnasiums am feierlichen Anlass teilnehmen. Die berittene Infanterie nahm auf dem grossen Platz neben der Kirche Aufstellung, und die Buben beteten ergriffen und voller Hingabe für die Offiziere und Soldaten. Nach dem Gottesdienst und den würdevollen Worten des Priesters wurden alle Anwesenden mit dem heiligen Wasser gesegnet. Dann folgte ein lautes Kommando, die Musiker nahmen das Spiel auf, das Regiment marschierte los, und während die Buben den jungen Männern ihre letzten Durchhalteparolen nachriefen, schossen ihnen vor lauter Rührung Tränen in die Augen.
Kurz danach besuchte der Zar Odessa. Am Strassenrand standen die Rischeljewskajaner und die uniformierten Schülerinnen des Mädchengymnasiums Spalier. Ein Raunen ging durch die Menge, als er nach Stunden des Wartens endlich in seiner Kutsche vorfuhr und die Menschen ihn feierlich und mit der gebotenen Würde empfangen konnten.
Die Kampfhandlungen wurden im Jahre 1878 schliesslich beendet, doch der in San Stefano ausgehandelte Friedensvertrag war für viele Russen eine Enttäuschung. Weder ihre Idee einer Neuordnung Südosteuropas noch ihr lang ersehnter Zugang zum Mittelmeer waren durchgesetzt worden.
Für die Familie von Steiger bedeutete das Ende des Kriegs, dass sie wieder nach Konstantinopel zurückkehren konnte. Eduard war erstaunt, wie offen und herzlich sie dort empfangen wurden. Der Sommer in Bujuk-Dare wurde für sie zu einer besonders glücklichen und unbeschwerten Zeit. Am Meer fanden zahlreiche Festivitäten statt, Militärkapellen spielten auf, man sah viele russische Uniformen, und die Buben zogen freudig und voller Stolz auf ihre Herkunft durch die Strassen.
Dass die Türken gegenüber den Russen keine Verbitterung zeigten, obwohl sie wie schon so oft in Auseinandersetzungen mit dem Zarenreich die Verlierer waren, beeindruckte Eduard und Philomène tief.
Eduard und seine Schifffahrtsgesellschaft waren nun fast rund um die Uhr mit der Repatriierung der russischen Truppen beschäftigt. Trotzdem fanden er und seine Frau auch Zeit, um zu Hause Gäste zu empfangen. Oft brachte Eduard nach der Arbeit Kapitäne und hohe Militärs nach «Petit Champs». Einmal sogar den berühmten General Totleben. Ihm zu Ehren wurde ein grosser Ball veranstaltet. Es kamen unheimlich viele Gäste, um den Helden von Sewastopol zu feiern, und der Abend wäre ein grosser Erfolg geworden, wenn der General nicht mitten in der Mazurka gestürzt wäre und mit einer aufgeplatzten Kriegswunde ins Krankenhaus hätte gebracht werden müssen.
Auch der sechzigjährige Eduard kämpfte mit gesundheitlichen Problemen, die unter anderem daher rührten, dass er sich auf undurchsichtige Geschäfte eingelassen und viel Geld verloren hatte. Sowohl seine seelische wie auch körperliche Verfassung verschlechterten sich dramatisch.
Als seine vier Söhne in Odessa eines Morgens in das Büro des Schuldirektors gerufen wurden, traf sie die Nachricht vom Tod ihres Vaters dennoch unvorbereitet.
Walerija heiratete später den französischen Konsul von Odessa. Ihr Bruder Anatolij wurde Reserveoffizier im polnischen Tschenstochau, und nacheinander traten auch seine jüngeren Brüder ihren Dienst an. Die gemeinsame Zeit mit seinem Bruder Nikolai bei den Dragonerregimenten Kinsburg und Jekaterinoslaw hatte sich Sergej jedoch anders vorgestellt. Er machte sich grosse Sorgen um seinen älteren Bruder, der ein ausschweifendes Leben führte und vor allem die Gesellschaft der Husaren und Ulanen suchte, bei denen der Alkohol in rauen Mengen floss. Nikolai und seine Trinkgenossen bekundeten immer mehr Mühe, um neun Uhr morgens einen passablen Eindruck zu machen, wenn sie beim diensthabenden Offizier zum Appell antreten mussten. Einmal liessen sie sich sogar von einem kleingewachsenen jüdischen Arzt gegen ein hohes Honorar behandeln, damit ihnen die durchzechte Nacht nicht mehr anzusehen war. Als sie ihn aber schon am nächsten Tag wieder aufsuchten, verweigerte er ihnen jede Hilfe, obwohl sie ihm dafür den doppelten Betrag anboten. Was sie nicht wussten war, dass der Arzt sich vor allem davor fürchtete, von den betrunkenen Junkern zum Dank erneut in die Luft geworfen zu werden.
Sergejs Versuche, mässigend auf seinen älteren Bruder einzuwirken, bewirkten das Gegenteil. Nikolai begann sich zu fragen, ob sein Bruder, der sich höchstens ein Glas Rotwein am Mittag gönnte, überhaupt für das harte Männerleben in der Armee geeignet war. Sobald es hoch herging, verärgerte dieser mit seinen mahnenden Sprüchen die ausgelassene Tischgesellschaft, und so war es kein Wunder, dass er bei den Kameraden nicht eben beliebt war.
Am Ende bestand Sergej seine Prüfung mit Bravour und Nikolai schaffte den Abschluss ebenfalls, wenn auch nur um Haaresbreite.
Nach Walerija heirateten auch ihre Brüder Rudolf und Nikolai. Sergej lernte an einem gesellschaftlichen Anlass Marija Skarginskaja kennen, eine Tochter aus gutem Hause, die von ihrem Vater abgöttisch geliebt wurde, der aber der Ruf vorauseilte, launisch und verwöhnt zu sein. Sergej jedoch war bezaubert von ihrer Klugheit und ihrer natürlichen Art. Die beiden verliebten sich, und bald darauf läuteten erneut die Hochzeitsglocken. In Warschau kauften sie sich Möbel und Teppiche und bezogen eine grosse Wohnung in Tschenstochau.

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