- -
- 100%
- +
Solche Erinnerungssplitter kamen und gingen, während Käthe eindöste, dann hochschreckte, weil sie Angst hatte, sich auf das kleine Geschöpf zu legen und seinen zaghaften Atemstrom zu ersticken. Mein Gott, nur das nicht! Er ist ab jetzt das Wichtigste in ihrem Leben. Bis an ihr Lebensende wird er ihrem Weg eine Richtung geben und sie wird nicht aufhören, den Tag zu preisen, an dem sie ihn geboren hat.
Als um die Mittagszeit Hélène Pannier leise Georgs Kammer betrat und sich vorsichtig neben Käthe aufs Bett setzte, das Kindchen hochnahm, wie um Zwiesprache mit ihm zu halten, schreckte Käthe auf.
„Wie isch das nun, hat er was getrunken, unser Prinz?“
Käthe wusste es nicht. Sie sollte es nur immer wieder versuchen, sie sollte mit ihm reden, sollte ihm Lieder singen, das wäre wichtig, sagte die Hebamme.
„Wir wollen doch nicht, dass er es sich noch einmal anders überlegt, n’est-ce pas?“
Am Nachmittag, als die Dunkelheit sich in Georgs Kammer ausbreitete, klopfte es zaghaft an der Tür und Wilhelmine streckte ihren Kopf herein. Käthe war aufgestanden, hatte Ordnung gemacht im Zimmer, hatte die Windeln ausgewaschen und eine Schnur gespannt zwischen der Stuhllehne und dem Fensterkreuz, darüber die nassen Tücher gebreitet, voller Dankbarkeit für alles, was die Pannier ihr brachte, die winzigen Hemdchen, die weichen Moltontücher, die kleine Mütze aus zarter Lammwolle und die Zellstoffeinlagen.
„Ich nehme dich mit, Käthe, mit zu uns nach Hause. Der Friedrich hat’s erlaubt. Er hat sowieso in der nächsten Woche Nachtdienst, da kann er tagsüber hier in Georgs Kammer schlafen. Allez, wir packen alles zusammen.“
So kam es also, dass der kleine Wilhelm Georg oder Willi, wie man ihn bald schon nennen würde, seinen ersten Wohnsitz an seinem zweiten Lebenstag schon verließ und umzog in den nächsten. In seinem Pass stand Geburtsort Straßburg. Einfach nur der Name der Stadt, dieser wunderschönen Stadt, die bis zum Ende des Deutschen Reiches noch dort hineingehörte, sodass er nicht als Franzose, wie man heutzutage denken könnte, sondern als Reichsdeutscher geboren wurde.
5
Käthe wurde aufgenommen von Wilhelmine und Friedrich in ihren zwei Zimmern mit Küche im Hinterhof der Boulangerie Chopard, so als ob sie ein Familienmitglied wäre. Diese Selbstverständlichkeit, mit der beide, Mine und Fried, wie sie sich nannten, Käthe annahmen und ihre Sorgen auch gleich mit übernahmen, rührte Käthe zu Tränen. Bevor Fried seinen Dienst antrat, aßen sie zu dritt auf dem großen Bett im Schlafzimmer und betrachteten den winzigen Willi, bestaunten jedes Zucken in seinem Gesicht.
„Die Pannier hat gesagt, wenn er nicht bei dir trinkt, müssen wir versuchen, ihm einen Milchschleim zu kochen. Kuhmilch verdünnen, ein bisschen Haferflocken aufkochen, nur einen Teelöffel voll in einen halben Liter. Was meinst du Käthe, soll ich das versuchen?“
Der Kleine kam Käthe schwach vor. Alle paar Minuten hielt sie ihr Ohr an seine Lippen, um die flachen Atemzüge wahrnehmen zu können. Ihre Sorge wuchs und wuchs und es wurde ein dickes schwarzes Gespenst daraus, das sich ihr bei Einbruch der Dunkelheit auf die Brust legte und sie davon abhielt zu schlafen.
Nachts noch versuchten die beiden Frauen, ihm die gekochte Milch einzuflößen. Er trank in guten festen Zügen. Ganz ausgehungert kam er ihnen dabei vor. Aber dann ruckelte er mit dem Kopf und plötzlich schoss die Milch in hohem Bogen wieder aus dem winzigen Mund. Das Kind röchelte und hustete, Mine riss ihn Käthe aus der Hand und hielt ihn senkrecht, ging mit ihm herum mit energischen Schritten und sprach dabei beruhigend auf ihn ein.
„Gell, gell, es wird alles gut, mein Kleiner, alles wird gut.“
Aber es wurde erst gut, als Fried am übernächsten Tag eine Ziege mitbrachte, als sie nach einem von der Pannier empfohlenen besonderen Verfahren Ziegenmilch verdünnt, aufgekocht und wieder abgekühlt hatten. In Grammportionen flößten sie dem Kind die wässrige Flüssigkeit ein, hielten es aufrecht dabei, nach jedem Trinken warteten sie auf sein Aufstoßen und freuten sich darüber so, dass es ihnen die Tränen in die Augen trieb.
Nach zwei Wochen, die einerseits verflogen wie im Sturmwind, andrerseits aus vielen bleischweren Minuten bestanden, die gestemmt werden mussten, eine nach der anderen, nach diesen ersten Wochen nickte Hélène Pannier und gab ihr d’accord. Es sieht jetzt gut aus. Weiter so, sagte sie. Und dann aber doch: „Lasset ihn bald taufen, auf alle Fälle jedenfalls.“
Zu diesem Zeitpunkt hatte Käthe etwas gelernt, was sie in eine Maxime verwandelte: Man muss alles versuchen, wirklich alles, was nur irgend möglich ist, bevor man verzweifelt oder aufgibt. So viele Wege führen zum Ziel, wenn der eine nichts ist, dann versucht man eben den nächsten.
6
Diese Maxime wurde auch für Georg wichtig. Aber prinzipiell neigte Georg nicht dazu, sich Maximen zuzulegen. Er entschied viel lieber spontan und ganz dem Augenblick verpflichtet. So passten die beiden eben einerseits zusammen und andrerseits wieder nicht, so wie es den meisten Paaren ergeht, und man muss irgendeinen Weg finden. Wechselseitiges Nachgeben. Streit bis zur Überzeugung oder Überredung eines Partners durch den anderen. Rückzug eines jeden auf seine Position, Rücken gegen Rücken stehen. Oder gar auseinandergehen. Für eine Zeit, eine kurze, eine lange, für den Rest des Lebens.
Georg sah Käthe wenig in diesen Tagen. Wenn er kam, nahm er den Kleinen auf den Arm, er machte es beherzt und geschickt, so als ob es eine Selbstverständlichkeit für ihn wäre, und das gefiel Käthe an ihrem Mann, dieses Zupackende. Er war vernarrt in seinen Sohn. Die Sorge, dass er zu schwach sein könnte, um zu bleiben, kannte er nicht oder er verbarg sie so tief in seinem Inneren, dass sie noch nicht einmal einen Anflug von Schatten auf sein Gesicht werfen konnte.
Eine Woche, zwei, drei. Wie sollte es jetzt weitergehen? Bald war März, das war der Zeitpunkt, wo man spätestens wissen sollte, wo man im Sommer arbeiten würde.
„Der Albert hat mir geschrieben. Er hat was für uns, Käthe. Drüben überm Rhein, in Badenweiler. Kurhaus. Also keine schlechte Adresse. Der alte Pächter macht’s vielleicht nicht mehr lang. Wir wollen uns das anschauen, mit Blick auf die Zukunft, verstehst du? Es ist eine Riesenchance.“
Käthe hatte wirklich gehofft, dass sie über den Rhein zurückgingen, mehr in die Nähe seiner Familie. Sie hatte gehofft, den Kleinen dort unterzubringen, jedenfalls in den Stunden, in denen auch sie wieder arbeiten wollte und musste. Und so stellte sie nun fest, dass Georg schon Pläne hatte, die er nicht mit ihr, sondern mit seinem Bruder geschmiedet hatte.
Georg und sein Bruder Albert waren ein Gespann, von frühester Kindheit an.
Schon zu Hause rückten sie zusammen, nachdem der kleine Johann Jakob, der zwischen ihnen geboren wurde, starb mit nur drei Jahren. Als die Mutter den kranken Bruder aus dem Bett nahm, das er mit Albert teilte, schlüpfte Georg hinein in die Hitze seines Fiebers und kuschelte sich an den Rücken des zwei Jahre älteren Bruders. Da waren sie zwei und vier Jahre alt. Von da an waren sie unzertrennlich. Georg half mit beim Wegsammeln der Grumpen, der nicht brauchbaren Blätter der Tabakpflanzen, als die Eltern das von Albert verlangten. Weg mussten sie, damit sie nicht nass dort liegen blieben, schimmelten und die Sandblätter verdarben, die edleren, größeren, die später als Umblätter für die Einlagen dienen würden und das meiste Geld brachten. Georg tat es vor allem, um dem Bruder nah zu bleiben. Zu diesem Zeitpunkt war er sechs und Albert acht Jahre alt.
Seit Generationen verdienten sich die Hugs ihr Brot als Tabakbauern, lebten recht und schlecht davon, so wie fast alle im Dorf, dort in der Ebene, nahe dem Rhein, wo man im Sommer manchmal meinen konnte, man wohne in Afrika. Manches Kindchen starb an einem Mückenstich, der sich von einem kleinen rosa Punkt in einen tellergroßen harten scharlachroten Plätzer mit rotem Stiel verwandeln konnte, eine giftige Quaddel, schwanger mit einem Todeskeim. Das nämlich war dem kleinen Johann Jakob passiert, dem Jaköble, wie sie ihn genannt hatten; alle, die Eltern, der Ernst, der David und der Albert, der gerade die ersten selbständigen Schritte getan hatte, waren sie begeistert um das neue Kindchen herumgestanden, als es zum ersten Mal seine Augen parallel schalten und auf die Augen seines Gegenübers richten konnte, als es begann, den zahnlosen Mund in einem breiten Lächeln zu öffnen, und als es schließlich in ein Lachgrunzen ausbrach, wenn man ihm mit den Fingern auf dem Bauch herumdrückte oder am Ohrläppchen zog. Es war für die älteren Söhne der Hugs, so als ob sie zurückschauen könnten und in ihm die eigene Vergangenheit sähen, eine paradiesische Zeit, in der Mutter und Vater ihr Lächeln und ihre Sanftheit auch auf sie verschwendet hatten, so wie jetzt auf ihn und später dann auf den kleinen Georg, den Johann, die Katharina und noch später auf das neue Jaköble, das auch nur ein paar Wochen bei ihnen blieb. Die Tränen der Sorge und die schluchzende Verzweiflung beim Tod Jakobs des ersten verschaffte den anderen Söhnen von Johann Michael Hug und seiner Frau Catharina Barbara eine Ahnung davon, wieviel auch sie ihren Eltern bedeuteten. Denn das auszusprechen, dazu reichte die Zeit nie, fehlten die Energie, der Frohsinn, die Lebensleichtigkeit.
Trotz dieses frühen Arbeitseinsatzes bestand Frau Hug darauf, dass ihre Söhne Kinder waren und blieben, bis ihre Stimmen zu krächzen begannen und ihre Kinne kantig, die Rücken breiter wurden. Die Mutter wollte, dass jedes ihrer Kinder ein Paar Schuhe hatte, damit es von Oktober bis März in die Dorfschule gehen konnte. Jeder. Die Lederstiefel wurden am Samstagabend geputzt und gewachst, damit sie in der Kirche Gottes Wohlgefallen fanden und damit sie eines Tages weitergereicht werden konnten auf das nachkommende Kind, auch auf die kleine Maria Frieda, die zur großen Befriedigung der Mutter kam und blieb. Eines Tages würde sie in der Küche neben der Mutter stehen und wer weiß, vielleicht musste sie später den alten Eltern den Haushalt führen, wenn ihre Rücken sich gekrümmt und die Gelenke sich schmerzhaft versteift hatten. So geschah das nämlich schon seit Generationen. Ob es gut war oder schlecht, das fragte man nicht. Es war eben so.
Die beiden Jaköble hatten viel zu früh herauswollen aus dem warmen Bauch der Mutter und dann die andere Wärme und die Hitze des frühen Sommers einfach nicht gemocht. Nicht genug Luft zum Atmen hatten sie wohl, als die Schwüle kam. Die Mutter weinte still vor sich hin in ihrem Bett, in dem sie ihr totes Kind einen ganzen Tag lang betrauerte, bis man es ihr gewaltsam wegnahm, bis ihr Mann ihr von seinem kostbaren Zwetschgenschnaps ein und ein zweites und noch zwei weitere Gläser voll einflößte und sich eine Weile zu ihr setzte, Hand in Hand mit ihr auf die Ruhe der Einsicht in diese so alltägliche Auflad’ wartend. Der Herrgott gibt’s und nimmt’s halt wieder. Wir Menschen sollten nicht zu viel Getue um den Einzelnen machen. Das Leben ist doch hart genug. Man muss es einfach hinter sich bringen.
Die Schuhe und die feinen Westchen für den Sonntag, die schön gestrickten Pullover mit den raffinierten Mustern, die sie unverwechselbar machten. Der Strich einer Bürste über jedes der braunen Köpfchen, bevor es am Sonntag in die Kirche ging, das alles und dann die Erzählungen der Catharina Barbara aus der Zeit, als sie beim Oberamtsrichter Eichrodt im Haushalt angestellt war, das waren Georgs und Alberts gemeinsame Erinnerungen.
Der Eichrodt’sche Haushalt erschien in vielen Geschichten, die Catharina ihren Kindern erzählte. Seine Familie, inklusive der Dienerschaft, versammelte der Herr am Sonntagnachmittag um sich und las ihnen seine Gedichte vor. Beobachtete scharf ihre Reaktion und – darauf schwor die spätere Frau Hug einen heiligen Eid – veränderte sie, wenn man nicht lachte oder nicht das Gesicht staunend verzog, gerade so, wie er es eben wollte und sich erhoffte.
„Was ist die Gotteswelt doch schön, wenn man gerade Glieder hat, gut hören tut und richtig sehn, so schön ist es in keiner Stadt.“
Das konnte die Mutter auswendig, das konnten auch Georg und Albert auswendig und sagten es sich vor, manchmal, wenn es sie in eine große Stadt verschlug, nach Paris, nach Berlin, nach London, und sie sich ein bisschen einsam fühlten, ein bisschen aufgeweicht von Heimweh nach den Rheinauen und dem Geratsche der Schwäne oder dem Klackern der jungen Kröten im sumpfigen Gras.
7
Badenweiler, also. Heimatluft fast gar, obwohl weiter drinnen gelegen, schon am Rand zu den Tannenhängen hin, am Saum der Weinberge, inmitten der Zwetschgenbäume vielleicht, ein nobles Haus mit Ausblick? Nein, das nicht. Eher mittendrin, nämlich im Kurhaus Restaurant, denk dir bloß.
Für uns sagte Georg. Wie stellte er sich das denn vor?
„Der Albert hat uns im Paket angeboten, Dich, mich und sich selbst. Sommelier, Maître de Salle und Kaltmamsell.“
„Und der Kleine?“
„Ich habe mit Fried gesprochen. Er und Mine würden ihn hier behalten. Wir würden sie dafür bezahlen. Sie bekommen Hilfe von Lorchen Freitag, dem Küchenmädchen, und auch die Pannier wird ihn stundenweise übernehmen können, wenn die anderen beiden beschäftigt sind. Er ist ja noch so klein, nicht mehr als ein kleines Hündchen. Was er braucht, ist einfach nur, dass man ihn füttert und sauber macht. Es ist doch nur für zwölf Wochen. Schau ihn dir an, wie zufrieden er aussieht, wenn die Mine ihn hält. Er lacht genauso, wenn sie ihn nimmt, wie wenn ich oder du ihn nehmen. Er braucht nur gute Pflege, egal von wem.“
Egal von wem? Käthe war verärgert. Verbittert sogar. Achtete er die Mutterschaft so gering? Was bedeutete ihm sein Sohn eigentlich? War er nur ein kleiner Fortsatz seiner selbst, etwas, das er irgendwo ablegen konnte, wo es gut gepflegt wurde, so wie er seine Kleider richten und seine Schuhe wichsen ließ?
Sie musste darüber schlafen. Musste sich an die Idee gewöhnen, ihren Sohn herzugeben, nicht so auf dem Arm rumtragen und neben sich ins Bett legen zu können, wie sie es jetzt tat. Wie oft würde sie kommen können, um ihn zu sehen? Einmal im Monat allenfalls. Sie bräuchte einen ganzen Tag dafür und wie oft hat man einen ganzen freien Tag?
„Ach“, sagte Mine und ein strahlendes Lächeln breitete sich aus auf ihrem kleinen runden Gesicht, „ ich würde ihn hegen und pflegen wie mein eigenes.“
Daran gab es nichts zu zweifeln. Sie hatte es schon bewiesen und Fried stand an ihrer Seite, man konnte es deutlich sehen.
In Käthes Zögern hinein erzählte sie nun wieder einmal von ihrem großen Kummer, dass sie seit Jahren schon wartete auf ein eigenes Kindchen, das sich einfach nicht einstellen wollte. Und so hatte sie das Gefühl, mit dem kleinen Willi machte das Schicksal ihr ein Angebot.
Sie rechneten und dachten nach, dann legten sie die Pläne weg, so als ob man sie auf ein Papier geschrieben hätte, und werkelten weiter vor sich hin.
Inzwischen führte Käthe den Haushalt, kochte für alle, zauberte etwas aus dem, was Mine und Fried und manchmal auch Georg mitbrachten aus der Küche des Bristol und dazukauften in der Fressgasse. Nicht nur Desserts, das war klar, sie kochte auch Baeckeoffe, Gaisburger Marsch, Linseneintopf und irgendwann ein herrliches Boeuf Bourguignon, da aßen sie drei Tage davon. Georg kam so oft er konnte und sah zufrieden aus. Für ihn lag die Zukunft klar voraus. Die Berichte von der Front irritierten ihn nicht. Mit dem Krieg hatte er nichts zu tun. Es war immer noch nicht sein Krieg. Auch Fried brauchte sich nicht zu fürchten. Er hatte sich an den falschen Herrn gehängt, einen, der im deutschen Heer keine gute Reputation mehr hatte, Fried hatte zu deutlich gezeigt, wie sehr er ihn respektierte und bewunderte, damit war er im Heer nicht mehr erwünscht.
8
Friedrich kam aus Konstanz am Bodensee. Er war dort als Sohn eines angesehenen und talentierten Schusters geboren worden. Leider hatte Friedrich, der älteste Sohn, das Talent des Vaters nicht geerbt. Dennoch besaß er den umgänglichen Ton des alten Frei und dazu eine Begabung zu Respekt und Loyalität. Ein Zufall bescherte ihm eines Tages eine Stelle als Hausdiener beim Fürsten Hermann Ernst zu Hohenlohe-Langenburg, der mit seiner Frau, der badischen Prinzessin Leopoldine, und den Kindern am schönen Seeufer in der Sommerfrische weilte und sich die Jagdstiefel neu besohlen ließ. Das war gerade zu der Zeit, als dieser 1894 als Nachfolger Chlodwigs zu Hohenlohe-Schillingsfürst zum Statthalter des Reichslandes Elsass-Lothringen berufen wurde. Mit seinem Amt übergab der Langenburger dann im Jahr 1907 auch seinen Burschen Friedrich Frei an seinen Nachfolger, den neuen Reichsstatthalter Karl von Wedel. Nun war Friedrich Militär. Er war für die Kleidung und Stiefel des Herrn von Wedel verantwortlich, stand ihm näher fast als die eigene Frau und bekam viel mit vom Wohl und Weh seines Herrn. So auch dessen sich aufbäumende Wut über das Verhalten des deutschen Militärs gegenüber den elsässischen Soldaten im Reichsland Elsass-Lothringen. Die damalige Situation eskalierte in der bereits erwähnten Zabernaffäre. Friedrichs Herr, Karl von Wedel, empörte sich zu Hause in seiner Stube lautstark über die Instinktlosigkeit dieses jungen arroganten Kerls, Leutnant Forster, der nach und nach eine ganze Reihe seiner Kameraden hinter sich gebracht und eine regelrechte Hetz-Kampagne gegen die elsässischen Soldaten losgetreten hatte. Er betrachtete die „Wackes“ als minderwertig, ohne das zu begründen, so wie der Kaiser auch Wert und Unwert von Menschen und anderen Nationen je nach Gutdünken gewichtete. Der junge Forster bewegte sich also in einem Trend, der gerade erst keimte und sich noch aufbäumen sollte in diesem Jahrhundert zu einer Apokalypse von ungeahntem Ausmaß.
Karl von Wedel war ein pensionierter General, der sein Leben lang seine Pflicht getan hatte, ganz dem alten hierarchischen Staatskonzept verpflichtet. Vor allem war er ein Ehrenmann von altem Schlag und ein guter Christ. Jeder Mensch, wo immer er stand, und mochte man das auch oben und unten nennen, hatte für ihn einen Wert an sich. Als Geschöpf Gottes, als Mitgeschöpf, das die Achtung jedes anderen Menschen verdient. Wieviel mehr noch verdiente ein armes Menschenkind, ein verkrüppelter Mann, Rücksicht – ach, es brachte ihn zum Schäumen, wenn er die Berichte der Vorfälle nachlas. Der gehbehinderte Schustergesell Jacques Taillier hatte Forster nicht schnell genug entkommen können, als dieser einen Auflauf von Fabrikarbeitern, die sich gegen die deutschen Frechheiten wehrten, zerstreuen ließ und dabei eifrig mithalf. Taillier wurde vom Säbel des Leutnants niedergestreckt und dabei schwer am Kopf verletzt. Statt die Rechte dieses armen geschundenen Menschen zu verteidigen, wurde nun vom Gericht Forsters Handeln sanktioniert. Wedel hatte zuvor schon dringend empfohlen, den Störenfried und Aufrührer Forster wegzukommandieren und damit die Keimzelle der Unruhen auszumerzen. Er hatte hinter verschlossenen Türen sicher noch mehr erklärt und appelliert an das Verständnis derjenigen, die mit ihm auf Augenhöhe sprachen, dem Regimentskommandeur von Reuter, dem Kommandierenden General von Deimling und anderen, deren Namen verschwunden sind, aber diese waren kaisertreu in jeglicher Hinsicht. Sie glaubten, einer großen Sache zu dienen, und es kam ihnen gelegen, sich Karl von Wedel, der ihre möglicherweise schwelenden eigenen Gewissensbisse inkarnierte, vom Hals zu schaffen.
Friedrich war ein aufgeschlossener Mensch, er gab gerne Auskunft über das, was er dachte, was er für richtig hielt oder falsch. Seine Meinung richtete er aus nach derjenigen seines von ihm sehr verehrten und wertgeschätzten Dienstherrn. So ergab sich eins zum anderen und als Karl von Wedel seinen Posten abgeben musste, war Friedrich, sein Schatten und Sprachrohr, mit ihm eine Unperson geworden. Da kam die Rettung durch Mine, seine ihm angetraute Ehefrau seit sieben Jahren. Sie brachte ihn unter in dem Hotel, wo sie lange schon als Mädchen für alles ein stilles kleines Regiment in den Wäsche- und Abstellkammern führte, schmerzlich vermisst an jedem ihrer freien Tage. Friedrich begann im Bristol als Hausdiener, nur wenige Monate bevor Georg dort seinen Dienst antrat.
Wenn man nun noch wusste, dass Wilhelmine Frei, geborene Ponard, aus La Petite-Pierre stammte, einer Verbindung des ortsansässigen Schreiners Ponard mit einer jungen schönen Frau aus Meersburg am Bodensee entsprossen, die das Schicksal als Kind einer Ferienfamilie in das idyllische Burgstädtchen gelockt und so dem jungen Ponard ans Herz gelegt hatte, dann kannte man auch Mines Herkunft. Ihre Tante Monique väterlicherseits hatte sie als Dreizehnjährige in die Hauptstadt des Reichslandes mitgenommen und im Bristol untergebracht, zuerst nur um Gemüse zu schälen.
So trafen sie also in Straßburg zusammen, die vier Menschen, die für die ersten Jahre des kleinen Willi die wichtigsten waren. Wie einen Kieselstein rieben sie ihn sanft zwischen sich, schliffen ihn zu einer noch groben und unklaren Form, deren Unverwechselbarkeit jedoch mit jedem seiner Lebenstage deutlicher wurde.
Sie waren sich in vielem einig. In ihrer Achtung vor anderen Menschen, wie gering oder auch wie hoch oben sie angesiedelt sein mochten auf der gesellschaftlichen Pyramide. Sie hassten den Krieg, das Hurra-Schreien der Soldaten und Offiziere. Sie liebten den geschmeidigen Ablauf der vielen ineinander greifenden täglichen Verrichtungen des Hotelpersonals. Die große Halle, die glänzend gewienerten Gänge, die flutenden vorderen Treppenaufgänge und die gewundenen engen Stiegen im Hinterhaus, das ausgelegte Silber, die steif gestärkten Servietten, den Tischdamast, die Kerzen, oh ja, die vielen schönen herrlich duftenden Kerzen in den Leuchtern; das ganze Räderwerk des Hotels, das war ihre Welt. Das war die Luft, die sie brauchten zum Leben, alle vier.
Sie liebten äußere Ordnung, ein gutes Essen zur Mittagszeit. Sie liebten es, Pläne zu schmieden, und sie konnten dabei leicht ihren Horizont beliebig dehnen über das augenblicklich Sichtbare hinaus. Nun hatten sie noch ein viel größeres gemeinsames Interesse: das Kind. Sie liebten den kleinen Willi, jeder auf seine Weise. Genug Liebe umfing ihn also, genug Pflege bekam er auch. Deshalb hob er bald schon sein Köpfchen, auf dem ihm ein weißblonder Flaum wuchs, der zu Kringeln und Wellen neigte so wie die goldbraunen Haare seiner Mutter; auch seine Augen nahmen die melancholische Ernsthaftigkeit des mütterlichen Blickes an, seine Gliedmaßen blieben zart. Er kam zum Sitzen, zog sich an Stühlen hoch und stellte sich auf seine Beinchen, und dann eines Tages ließ er den Halt los, drehte sich um und stolperte schwankend in Mines Arme, die vor Glück aufjauchzte.
Alle vier waren aufgeschlossen, kontaktfreudig, liefen mit offenen Augen und Ohren durch die Welt, nie verlegen, sich ein eigenes Urteil zu bilden und Lösungen zu sehen, wo andere nur Probleme vermuteten.
9
Willi war hineingeboren worden in die letzten Seufzer einer Epoche, die man eines Tages die Wilhelminische nennen würde. Schnell verging sein erstes Lebensjahr. Das Zwischenspiel in Badenweiler dauerte nur einen Sommer lang. Käthe und Georg kehrten beide ins Bristol zurück, standen aber erneut in Verhandlungen für das kommende Jahr.
Der Angriffskrieg an der Westfront hatte sich in einen Stellungskrieg in den Schützengräben verwandelt. Reichskanzler Bethmann-Hollweg warnte in Berlin vor einem unbeschränkten U-Boot-Krieg, ein Lieblingsprojekt des Kaisers. Was für schreckliche Auswüchse die ungebremste Renommiersucht noch einmal trieb, erfüllte vor allem Georg mit heißer Wut, als man eines Tages an einem hellen Frühlingsmorgen im Mai überall in den Zeitungen lesen musste vom Untergang der Lusitania. Ein U-Boot der kaiserlichen Marine hatte sie vor der Südküste von Irland versenkt und 2000 Menschen ertranken nach schrecklichem Todeskampf in den grauen Wassern des Atlantik. Der Kanzler machte nun deutlich, dass damit ein Eingreifen der Amerikaner wohl unumgänglich werde. „Man wird uns erschlagen wie einen tollen Hund!“, so formulierte er es bildhaft.
Und obwohl der Kaiser den uneingeschränkten U-Boot-Einsatz für beendet erklärte, konnte er das Kriegsgeschick nicht mehr wenden.
Das würde Georg immer wieder erzählen. Diese unbewältigte Wut, die Zerstörungssucht der Mächtigen, die sich um „Wilhelm Zwo“ scharten, löste ihm immer wieder die Zunge. Aber dass das schöne Schiff ein so schmähliches Ende gefunden hatte, stand dabei am Anfang jeder derartiger Geschichten. Danach verlor sich sein Blick irgendwo in einer unsichtbaren Ferne und er begann zu erzählen vom Salondeck, den Lüsterlampen, die von der mehrere Stockwerke hohen Decke hingen und das glänzende dunkle Holzpaneel zum Leuchten brachten, so als ob dort kleine Feuer brennen würden. Das Orchester, das bis spät in die Nächte hinein spielte, die Gespräche der Herren, die hinter den aromatischen Duftwolken kubanischer Zigarren verborgen alles besprachen, was die Welt in Bewegung hielt. Das perlende Lachen der Damen, ihre Federfächer, ihre aufgetürmten Frisuren, die Colliers, und wie sie ihn anschauen konnten, wenn sie sich den ersten kleinen Happen einer besonders schmackhaften Süßspeise mit dem zierlichen Silberlöffel in einer zarten Hand im glänzenden Satinhandschuh zwischen die schönen Lippen schoben – es mochte eine aufgefächerte exotische Frucht mit Meringensplitter sein oder –, wenn er hier nicht recht weiter wusste, sprang ihm Käthe dann zur Seite und half ihm die verrücktesten Kaltschalen zu zitieren, beiden wurde der Mund wässrig dabei, während der kleine und größer werdende Sohn sich vor allem an einem erfreute, dass die beiden sich einig waren, dass sie solche gemeinsamen Träume besaßen, die sie doch immer wieder jenseits aller trennenden Gedanken aneinander banden.