- -
- 100%
- +
»Gib vorsichtig … Gas«, keuchte Ska, seinen Kopf gegen die Lehne stützend. Er stöhnte. Blut sickerte ihm aus Mund und Nase. »Der Flame kam rein, als ich die Apparaturen, den Kubus … benutzte. Hab nur ein Drittel der Memories im Kopf.«
Kurz musterte sie ihn, die kalkweiße Haut, den Schweiß auf seiner Stirn; er zitterte stark. »Du, wie schlimm bist du verletzt?«
»Ich glaub, ich pack’s nicht«, keuchte Ska und hustete Blut.
»Quatsch«, sagte Céline hart, doch Tränen sammelten sich in ihren Augen, verschleierten ihr die ohnehin schlechte Sicht. »Klar kommst du durch, ich bring dich ins St. John.«
»Nein!« Skas Brustkorb pumpte Luft. »Die stellen Fragen, bring mich nach Hause, ruf die Schwarze Ambulanz.«
»Okay.« Mit der Handfläche wischte sie sich die Tränen ab, neue kamen nach. Céline fuhr einfach geradeaus, über die Kreuzung, weiter; und endlich zog der Wagen an und wurde schneller.
Zwei Häuserblocks später griff Ska nach ihrem Arm. »Céline, halt an. Du musst dir die … Erinnerungen rausholen, jetzt sofort.«
»Halt durch, ja?«
»Sei … sei nicht dumm, fahr den Wagen rechts ran.«
»Also gut«, sagte Céline erstickt. Etwas schnürte ihr die Kehle zu, sie konnte kaum atmen, als sie abbremste und den Wagen im Neonschatten einer Wäscherei stoppte. Von hinten wehte kalter Regen zu ihnen hinein.
»Beeil dich, gleich bin ich weg.« Seine Augenlider flatterten, Ska starrte ins Leere. »Los!«
Mechanisch holte Céline die Pistole und den Kubus aus der Tasche, legte beides aufs nasse Sitzpolster. Ein Kurzschluss knisterte über das Gehäuse; Céline bemerkte es nicht, als sie beide Haftungen anbrachte. »Okay«, flüsterte sie, hämmerte auf den Knopf:
Und ein Strudel von Memories drang in sie ein – Bilder, Klänge und Empfindungen aus einem Leben, das nicht ihr eigenes war, und sich dennoch seltsam vertraut anfühlte: Kindheit, goldenes Viertel, Mord an ihrer Mutter, gravierte Klingen, Drache, Teufel, Schulfabrik, Einsamkeit, Untergrund, Spraydosen, Gefängnis, Waffen, Feuer über Feuer, ein Blitz, ein blauer Hund und dann Graffiti mit Knochen und Blumen und Tod, surreal und doch so echt, dass sich Mirós Erinnerungen mit den ihren mischten, sich beim dritten Kurzschluss miteinander verzahnten. Céline schrie auf, während sich das letzte Memory in ihr aufblähte wie eine Seifenblase und – zerplatzte! Schwärze und Rauschen. Skas Körper war kollabiert.
Eine Neonrose als Schädel
In den Dornenaugen
Sterne
Flaggen sprießen
Aus dem Kiefer
Farben der Revolution
»Er ist tot, steig aus.« Das nachtblaue Auto hatte neben Céline angehalten, ein Fahrer und ein Mann hinten, der eine Waffe auf sie richtete, ebenso wie der Flame; er stand vor ihrem Fenster und blickte düster auf sie herab. Sein Monitorauge simulierte einen schnellen Wimpernschlag. »Steig aus, hab ich gesagt. Pronto!«
»Ja, gut.« Unauffällig ließ Céline die Pistole in ihren Rückenbund gleiten und zerrte den Plastikmantel drüber. Sie nahm die Haftungen ab und stieg aus. Draußen trommelte Regen auf die Motorhauben.
»Gutes Mädchen«, sagte der Flame und trat zwei Schritte zurück. »Du hast doch nicht etwa geglaubt, mich verarschen zu können?«
»Wieso bist du schon hier?«, fragte Céline. »Ich sollte dir die Memories erst morgens bringen.«
Der Flame lachte freudlos. »Glaubst du wirklich, dass ich das Gelingen meiner Geschäfte allein in die Hände eines Kindes lege? Vier Sammler waren heute Nacht für mich unterwegs.« Der Gewehrlauf zeigte jetzt auf ihren Kopf. »Hast etwas, das mir gehört, Mädchen. Wir werden deinen Kubus be–«
»Ka!« In einer geübten Bewegung sprang Céline über den Kofferraum, rutschte und fiel, drehte sich, zog die Waffe, kam hoch und feuerte drei Kugeln auf den Flamen und seine Begleiter ab. Mirós Erinnerungen halfen ihr; sie wusste, was sie tun musste. Die vierte Kugel durchschlug die Scheibe und den Brustkorb des Fahrers, die fünfte traf den Flamen an der Schulter, die sechste ging in seinen Kopf. Augenblicklich verlosch der Monitor und wurde grau, als der Flame steif wie eine Puppe nach hinten stürzte und reglos auf der Straße liegen blieb. Sein Blut trieb in eines der Abflussgitter.
»Hau ab, sonst mach ich dich kalt!«, brüllte Céline den letzten Mann an. »Bitte, hau endlich ab!«
Dieser ließ zögernd die Waffe fallen, kletterte aus dem Fahrzeug und rannte, rannte die Straße entlang und verschwand an einer Werbesäule.
Céline atmete tief durch; sie ließ die Pistole sinken. Und dann übermannten sie Schock und Trauer, und sie heulte, mit zitternden Schultern, während der Regen fiel und fiel.
Vom letzten Krieg
Ein alter Bunker
Jede Wand
Bunt wie ein Falter
Unten die Stahltür
Mit Fabelwesen drauf
»Mehr hast du nicht?« Der Schocksprayer schaltete den Kubus ab.
»Eure Namen, eure Ziele, die Memories von eurem Versteck«, wiederholte Céline; sie nickte ihm zu. »Macht achttausend, plus ein warmes Abendessen.«
»Okay«, sagte ihr Gegenüber und lächelte. »Dann sind wir im Geschäft.«
GELÉE ROYALE
Das Insekt ist zu mir geflogen, warum, weiß ich nicht. Falls es nicht aus einem benachbarten Container stammt, muss es den langen Weg durch die Lüftungsschächte genommen haben, das ganze verzweigte Röhrensystem hinauf bis zu meiner Arbeitszelle. Natürlich: kein echtes Tier, es gibt keine Insekten mehr in den Städten, zu heiß, zu viel Maschinenöl, zu viel Lärm, Elektrosmog und Dreck; doch die Kopie wirkt täuschend echt, solange ich mein Lupenauge nicht auf volle Brennweite stelle: Erst dann kann ich die Feinmechanik der Beine, Fühler und des ganzen Flugapparates sehen, ein Uhrwerk, das ins goldene Gehäuse eingepasst worden ist. Seine Flügel bestehen aus Glas.
Wie ist es hier reingekommen?
Hat es tatsächlich das ganze verzweigte Röhrensystem passiert, die riesigen Ventilatoren? Oder eine Fuge in einer Stahlwand gefunden, ein Loch vielleicht, ausgehöhlt von Regen, Korrosion? Ich zögere einen Moment; dann kopple ich mich vom Netzwerk ab, obgleich ich als Rechenknecht noch eine Reihe von Datenkaskaden zu verarbeiten habe, ehe meine Schicht vorbei ist – vorsichtig, ganz langsam entferne ich alle Licht-nadeln aus meinem Kopf.
Durch die eingelagerten Informationen ist mein Schädel über die Zyklen hinweg angeschwollen, derart, dass meine Stirn vornüberhängt, aufgedunsen und weich wie ein Schwamm: Jede Nacht, jeden Tag wächst der Speichertumor weiter, um neue Zellverbände zu formen, Datenklassen, Unterklassen. Totes Gewebe wird nach außen abgegeben, bildet einen kupfernen Schorf auf der Haut, den ich ständig abschaben muss, eine lästige, schmerzhafte Prozedur, die ich gerne gelassen hätte; doch es juckt und brennt und kann sich rasch entzünden, wenn ich die Hygiene vernachlässige.
Ich kratze mich an der Stirn, an Wangen und Hals, worauf ich das Interface wegschwenke und auf Standby schalte. Mein Zeitkonto ist stark überbucht, doch dieses Insekt fasziniert mich zu sehr: schließlich das erste Mal, dass so etwas geschieht. Gewöhnlich wird der Kalkulationsprozess durch Stromausfälle oder eine Verstopfung der Nahrungshähne gestört; auch kommt es vor, dass mein Wohncontainer in eine neue Stadt, Fabrik oder Großhalle transportiert wird – doch Besuch bekomme ich nie, obwohl der Codex eine Interaktion zwischen Rechenknechten nicht verbietet, wenn auch nicht gerade begünstigt.
Mit dem Rollstuhl fahre ich näher an das Insekt heran: Es hat das Lüftungsgitter inzwischen verlassen und schwirrt jetzt in Halbkreisen auf die Glühlampe zu. Dort steht meine Schlafwanne, halb gefüllt mit Isoliergel, einer braunen, geruchlosen Masse, die mich bei Nacht gegen Kälte schützt. Eine Heizung gibt es nicht.
»Das ... ist«, sage ich, als die Glasflügel im Licht kurz aufblitzen. Seit Monaten habe ich kein Wort gesprochen – Zahlen; nur Zahlen auf Zahlen auf Zahlen.
Die Lüftung brummt.
Der Rollstuhl quietscht.
Noch ein, zwei Schwünge, dann greife ich in die Räder und halte vor den Nahrungshähnen an. Ich schaue mich um. Wo ist es? Dort hinten: Es krabbelt auf dem Rand der Wanne und spreizt dabei die Flügel ab. Dreht die Fühler hin und her. Hebt seinen Hinterleib an. Was tut es da nur ... Daten sammeln, verwerten? Ich stelle mein Lupenauge neu ein, um diesen (Tanz) von Nahem zu betrachten:
Ein rhythmischer Bewegungsablauf, eine Programmsequenz als Schleife, die nach fünf Sekunden von Neuem beginnt, sobald das Insekt zu Punkt A zurückgekehrt ist. Erstaunlich! Welcher Klasse gehört es an?
Ich wende den Rollstuhl und bugsiere ihn durch einen Vorhang aus Kabeln, Teile meines Traumfängers, der neben der Wanne hängt, falls ich nicht einschlafen kann. Dahinter, in einer Ecke, befindet sich ein Büchergestell: zwei Kinderromane, eine Betriebsanleitung für einen Monoflügler und ein Lexikon, das auf dem Index steht; alle Folien verkrustet und braun. Umsichtig ziehe ich den Band heraus, lege ihn in meinen Schoß, um die Kapitel durchzublättern ...
(Apis), kein Zweifel; der Bauplan des Insekts ist einer (Honigbiene) nachempfunden. Einer Königin.
Ob jemand die Bienen gezielt zu mir sendet – von der Basis hierhin, hier nach oben, wo Windböen das rostige Containergerüst in 0,1 bis 0,3 Hz Schwingung versetzen? Ich habe mich längst an das konstante Schwanken gewöhnt. Anfangs, neu im Rechenverband 2.13 eingefügt, war das sehr störend gewesen: Permanenter Schwindel und Übelkeit hemmten meine Kalkulationen, führten sogar zu Rundungsfehlern, an denen allein diese (Nausea) schuld war. Ich habe die Krankheit nachgeschlagen, so wie ich jetzt erneut des Lexikon zurate ziehe, um herauszufinden, warum der (Bienenschwarm) diese bizarre Wabenstruktur in einer Nische über der Schlafwanne errichtet.
Binnen Tagen hat sich ihre Anzahl zehnfach potenziert: Noch am selben Abend ist der Königin eine neue, kleinere Replikation gefolgt, der wiederum vier Artefakte gleichen Bautyps folgten ... Mittlerweile schwirren hunderte dieser Einheiten durch meinen Wohncontainer; verschwinden hinter dem Lüftungsgitter und kehren erst nach einer Weile zum, da steht es: (Bienennest), zurück.
Aber wozu?
Zu welchem Zweck kleben sie Hexagone aus schwarzem, industriellen Wachs aneinander?
Ich will auch die restlichen analogen Zeilen in mich einspeichern, doch Schmerzen pochen in meinem Datentumor und mein Lupenauge brennt, alle Buchstaben verschwimmen. Erschöpft klappe ich das Lexikon zu und stelle es zurück ins Gestell. Morgen ein neuer Versuch.
»Diese Methode des Datentransfers ist ineffizient«, sage ich zu meinen Bienen, mit denen ich bisweilen spreche, denn ich habe das Gefühl, dass sie mir tatsächlich zuhören: Beim Klang meiner Stimme unterbrechen sie ihren Bauprozess, stoppen die mechanischen Sequenzen; verharren wie abgeschaltet.
Verfügen sie etwa über I/O-Schnittstellen, einen Prozessor? Oder ist das purer Zufall, ein Konstruktionsfehler, weshalb Schallwellen den Programmablauf hemmen können? Ich muss eine von ihnen sezieren ...
Doch ich finde keine Zeit:
Ein Signalton bedeutet mir, zum Terminal zurückzukehren und das Interface zu benutzen. Eine Nachricht für mich, bestimmt eine neue Verwarnung. Auch die letzten Tage habe ich nicht genügend kalkuliert und konnte das Defizit nicht tilgen, obwohl eine Nacht ohne Schlaf ausgereicht hätte, um die fehlenden Datenkaskaden abzuarbeiten. Aber mir war nicht danach.
»Sie werden mir die Lizenz entziehen«, sage ich lauter in den Raum, um das Brausen zu übertönen, während ich den Rollstuhl mit kräftigen Schüben vorwärts bewege, an meiner Schlafwanne, an der Lüftung vorbei, auf deren Gitter die Bienen nur so wimmeln. Wie viele mehr werden der Königin noch folgen? Ihre wachsende Anzahl irritiert mich, denn mein Wohnraum ist eng, obwohl ich ihre Nähe bis jetzt nicht als störend empfinde – im Gegenteil: Ein mir halb bewusstes Gefühl von Leere ist verschwunden. Ich fühle mich ... wohl.
Stoppe die Räder; lege die Fahrsperre an, ehe ich hastig nach dem Glasfaserbündel greife, um alle Lichtnadeln in den Kopf einzustecken. Ein kurzes Stechen, und die Einwahl beginnt:
### Einheit 6.20.233.04, 2.13, Name: Chémo
### Zugriffsrechte bestätigt
### Verbindung hergestellt
### Heutige Schicht bis: 195.8
### Zeitkonto: -325
### 1 neue Nachricht vom Hauptwerk: Arbeitsplatzwechsel von Nordsektor B, Planquadrat 331.32, nach Südsektor C, Planquadrat 811.47
### Zeitkonto wird auf -417 gesetzt
Kaum habe ich die letzte Zeile biologisch umgesetzt, da höre ich auch schon das Schleifen der Großwalzen, die meinen Container hoch zum Dach befördern; es rumpelt hinter den Wänden – dann ein wuchtiger Schlag, bevor Zangen einer Frachtlibelle draußen über die Rillen schaben, andocken, einrasten, den Behälter aus der Verankerung wegreißen.
Der Boden wackelt. Mit aller Kraft klammere ich mich am Rollstuhl fest, schließe die Augen, als plötzlicher Schwindel mir zusetzt.
Der Bienenschwarm surrt, aufgebracht.
Dann ein Gefühl wie Schwerelosigkeit, ein Pendeln über dem Abgrund, während brüllende Rotoren die Ladung rauf in den Himmel hieven. Einmal habe ich sie mit eigenen Augen gesehen, diese Frachtlibellen, schwarze Monster aus Maschinen und Treibstoff, als meine alte Wohnzelle gegen eine neue ausgetauscht werden musste, weil die Decke durchgerostet war und leckte und tropfte, die Elektronik ständig ausfiel. An diesem Tag fegten Regenschauer über das Geländer, von wo aus ich zum ersten Mal – frierend, kauernd, nur notdürftig durch eine Folie geschützt, die mich und meinen Rollstuhl umhüllte – den Nordsektor B sehen konnte:
Die Stadt, eine Krake aus Metall; im Zentrum das Hauptwerk, geodätische Kuppeln, so schwarz wie die Wolken, die sie durchstoßen. Von dort ein vielarmiges Netz aus Fabriken, das bis zum toten Horizont greift – Hallen, Lager, Schornsteine, Qualm, dazwischen die Rechenanlagen, turmhohe Gerüste, in denen die Container festhängen. Und für das Blinzeln eines Auges: die Sonne! Ein Riss im Himmel lässt die Strukturen erstrahlen, ein Bernsteinlicht wie goldenes Öl, funkelnde Tropfen, überall! Nie zuvor hatte ich etwas Schöneres gesehen. Viele Zyklen ist das her ...
Ein Ruck, ein Schwanken, und die Rotoren kreischen, bevor der Flug schneller und holpriger wird. Verkrampft, die Hände steif an den Griffen, lasse ich die Windstöße über mich ergehen, die immer und immer wieder gegen die Wände donnern. Um meine Angst, meinen Schwindel zu verdrängen, stelle ich mir vor, welche Landschaft unter meinem Wohnbehälter vorbeizieht – zuerst die Containerwelt, in denen die Rechenknechte, Archivare und Protokollanten zwischen den Fabrikkomplexen leben, darin die unheimlichen Werkshelfer, halb Mensch, halb Maschine; ihre Arme gespickt mit Werkzeugen, mit Sägen und Schweißgeräten; und in ihren Adern schwarzes Blut.
Ich mag sie nicht, sie sind mir unheimlich, obwohl ich noch keinen dieser Schwerarbeiter zu Gesicht bekommen habe, doch es gibt Codegerüchte, schlecht versteckt zwischen den Einsen und Nullen, die von Revolten und Sabotage flüstern. Sie meiden uns, so wie wir sie meiden, denn jeder hat seine Klasse, zu der er gehört ...
Die Ausläufer der Stadt sind mir als grob gezackte Skizzen im Gedächtnis; und was dahinterliegt, weiß ich nur von einer alten, topografischen Karte, die ein Archivar mit mir gegen Zeitrationen eintauschte. Wo war das gewesen? Und wann? Eine Wüste, aus rotem brennenden Licht. Dann wieder eine Stadt, Südsektor B, dann Südsektor C und dahinter ... die fraktale Küste eines Meeres aus stark verdünnter Salzsäure, HCL.
Gerade will ich neue Bilddaten aus meinem Speichertumor abrufen, als eine scharfe, fauchende Schlagböe die Frachtlibelle erfasst und zum Trudeln bringt: Fliehkräfte zerren am Container, Vibrationen laufen durch meinen Körper und mein Rollstuhl wackelt, ehe sich hinten an der Wanne das Bienennest ablöst und schmatzend auf dem Boden zerbirst.
Die Bienen toben! Unscharf kann ich sehen, wie sie ihre Köni-gin aus dem Haufen zu befreien versuchen.
Da ist sie.
Ihr Gehäuse scheint intakt. Zum Glück!
Als der Wohnbehälter polternd abgesenkt wird, nehmen weder ein Stahlgerüst noch ein Walzwerk das schwere Gewicht auf: ein Knirschen wie von Stein, nachdem die Zangen gelöst sind und ein Rotorenkreischen den Abflug der Libelle einleitet. Schon wird die Maschine leiser, bis nichts mehr außer dem Lüftungsstrom zu hören ist, der neue, fremdartige Gerüche in meine Arbeitszelle bläst – süßlicher Rost, vermischt mit scharfem Lösungsmittel. Das Klima hier im Süden scheint besser, die Luft ist trocken und frisch und eine angenehme Wärme sickert durch die Deckenplatten; meine Schlafwanne werde ich wohl nachts nicht länger nutzen müssen ...
Ob die Sonne draußen scheint? Vielleicht sollte ich einen Formantrag auf Ausgang stellen, obwohl: Ich glaube kaum, dass sie mir ein solches Privileg gewähren würden, solange mein Konto überbucht ist. Nein, ganz sicher nicht. Muss mich mehr anstrengen, die versäumte Zeit aufholen. Kalkulationen. Zwischenschritte. Summen. Darauf kommt es an! Ich drücke einen Knopf, um das Standby abzuschalten.
### Einheit 6.20.233.04, 2.13, Name Chémo
### Zugriffsrechte bestätigt
### Verbindung hergestellt
### Heutige Schicht bis: 201.5
### Zeitkonto: -417
### 1 neue Nachricht vom Hauptwerk:
### Arbeitsplatzwechsel von Nordsektor B, Planquadrat 331.32, nach Südsektor C, Planquadrat 811.47 ## Status:
abgeschlossen!
### Bei Betriebsstörungen bitte Instandhaltung Z12 benachrichtigen
### Willkommen 6.20.233.04, 2.13!
Mit dem Zwinkern eines Auges hole ich die ersten Datenpakete ab, zerlege sie, fülle sie in mein Rechenregister, lasse die logischen Operationen im Kopf durchlaufen, während ich immer mehr in einen katatonischen Zustand verfalle – schnell die Zeit und den Raum um mich herum vergesse. Fühle mich leicht, wie schlafend; träume von silbernen Gleichungen, auf denen Bilanzen als Güterzüge in die Finsternis rauschen, ein endloser, ratternder Strom aus Zahlenkolonnen. Ich sitze an den Gleisen und schaue ihnen nach, nicke, wenn sie am Horizont verblassen.
Erst sehr viel später werde ich von einem Frösteln geweckt, das mir scharf den Rücken runterläuft; schweißgebadet schrecke ich im Rollstuhl hoch und taste mechanisch – steife Finger – nach den Lichtnadeln, die ich zitternd herausziehe.
Die Wärme ist fort.
Abend? Oder Nacht? Im Halbdunkel des Containers kann ich das Wabennest nur schemenhaft erkennen: Es hängt exakt am selben Platz über der Schlafwanne, in der Nische zwischen Stromzähler und Verteilerkasten ... Die Bienen müssen es komplett vom Boden abgetragen haben, um es dann neu an die Wand zu heften. Bemerkenswert, wie fleißig diese kleinen, zerbrechlich dünnen Artefakte sind.
### Zeitkonto: -217
Ich sollte mir ein Beispiel nehmen!
Drei Zyklen sind durch. Mein Konto steht auf +118, der Antrag ist gestellt – nun heißt es warten, bis der endgültige Bescheid kommt; ob positiv oder negativ, ist schwer zu kalkulieren, das Hauptwerk entzieht sich jeder Logik, sodass eine Wahrscheinlichkeitsberechnung immer nur ins Leere läuft. Manche flüstern, es arbeite auch mit Zufallsmodi, um dynamische Prozesse anzustoßen, doch das sind Gerüchte ohne Wert.
Chaotische Kontrolle = Anarchie.
Ich nutze die Zeit, um den Bienenschwarm zu untersuchen: Eines der Insekten habe ich mit bloßer Hand gefangen und zerlegt; die Einzelteile liegen auf einem Plastikteller, säuberlich geordnet, sodass ich das Artefakt auch wieder zusammenbauen kann, wenn die Analyse vorbei ist. Mein Lupenauge zeigt mir:
zwei Tropfensensoren, facettiert,
eine Mikrobatterie als Stromquelle, gespeist durch
Solarzellen in den Flügeln, die ab 0,25 lx arbeiten,
ein Prozessor, groß wie ein Stecknadelkopf,
eine Speicherkapsel, digital,
diverse Feinmechaniken, einem Uhrwerk nachempfunden,
goldene Drähte, 45,2 · 106 S/m
eine Signatur ... tatsächlich! Eingeätzt in den Wehrstachel, der vermutlich als Empfangsantenne dient:
Ah Muken Cab, 3.31.XXX.XX, X.XX.
Ob das der Name des Handwerkers ist? Seine Kennnummer, die er sorgsam verschlüsselt hat? Und plötzlich, als ich die Batterie aufnehme, wieder im Gehäuse fixieren will, da ahne ich:
Diese Bienen sind ungesetzlich!
Es muss gefährlich sein, sie zu besitzen, sie müssen gegen den Codex verstoßen. Aber das hieße ja: Ich habe eine Straftat begangen – sie freiwillig in meinen Container gelassen, anstatt das Hauptwerk zu informieren! Meine Finger zucken; das Kleinteil fällt mir aus der Hand und rollt vom Teller auf den Boden, bis es gegen die Wanne springt, dort liegen bleibt.
Was mache ich? Was mache ich bloß?
Zerstreut, nervös, kratze ich mir Schorf ab, während ich den Rollstuhl erst zum Netzwerk, dann zur Luke drehe: Die Iristür darf nur im Notfall manuell geöffnet werden; ohne Bescheid kein Ausgang, ansonsten folgt eine Bußbelastung des Zeitkontos; Wiederholungstäter werden mit einer Herabstufung der Arbeiterklasse abgestraft, §935.a und §935.b. Die Paragrafen hallen durch meinen Kopf; verharre reglos, kann mich zu keiner Aktion zwingen; stecke im Patt, die Gleichung ist zu beiden Seiten blockiert, egal, was ich tue, es ist das Falsche: Ich verliere mein Gesicht und werde vom Rechenknecht zum Werkshelfer modifiziert, wie ich einst vom Konstrukteur zur Rechenmaschine transformiert worden bin.
Panik, schreckliche Angst.
Nein, mir bleibt eine Option offen: Schweigen und alles für mich behalten. Wenn ich nicht auffalle, wird auch weiter nichts passieren. Ich werde meine Pflicht erfüllen – arbeiten, essen, schlafen. So wie alle anderen auch!
Die Zyklen vergehen, doch ich zähle sie nicht mehr. Ein taubes Gefühl beherrscht mich, eine ständige Müdigkeit, die es mir schwer macht, mich auf die Rechensequenzen zu konzentrieren; meine Fehlerquote liegt weit über Normal. Nachts schlafe ich schlecht, muss oft den Traumfänger benutzen, um die quälenden Gedanken abzustellen, die durch meine Zellen tanzen, sobald ich in der Wanne liege, im rötlichen Halbdunkel, umgeben vom braunen Isoliergel, das mich kaum wärmt.
Tagsüber friere ich trotz der Wärme in den Metallplatten; vermutlich bin ich krank, eine Grippe, ein Virus, das mich befallen hat, weil ich noch nicht an das trockene Klima gewöhnt bin ... oder ein Nervenleiden, das mich von innen heraus zerfrisst.
Die Schuld belastet mich.
Ständig kommt mir der Gedanke, dass ich den Schwarm zerstören sollte – zerlegen, zertrümmern, die Reste durch den Abfallschacht entsorgen. Dann habe ich das Werkzeug meist schon in der Hand, kann mich jedoch nicht überwinden. Ihre Nähe hat etwas Tröstendes, ich war so lange ganz allein, abgeschottet von der Außenwelt, die durch diese Insekten ein Stück weit zu mir gekommen ist; was auch immer da draußen sein mag.
Mein Wunsch, den Container zu verlassen, wurde vom Hauptwerk abgelehnt. Gründe hierfür gab es keine ... Zufallsmodus? Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr will ich es glauben. Oder wird ein Ausgang möglicherweise nie erlaubt, und wir sind freiwillig und treu unsere eigenen Wärter in einem Gefängnis ohne Stäbe? Was hält mich eigentlich davon ab, nicht einfach die Iristür zu öffnen, hinauszufahren oder mit Krücken auf den Korridor, den Steg, das Baugerüst zu steigen, das mich wegbringt aus diesem Gefängnis aus schwarzen Nullen, schwarzen Einsen! Wer verpflichtet mich zu einer Arbeit, die ich mir nicht ausgesucht habe? Wer hat dazu ein Recht!
Gefährliche Gedanken.
Ich zittere, die Lippen beben, und lange geht mein Atem stoßweise, bis ich mich endlich beruhigen kann. Mir ist kalt, eiskalt.
Die Bienen haben etwas mitgebracht, eine zähe, goldbraune Masse, die klebrige Fäden zwischen meinen Fingern zieht. Erst bin ich davon ausgegangen, dass es (Blütenhonig) ist, bevor mir die Unsinnigkeit dieser Hypothese bewusst wurde: Keines der Artefakte verfügt über einen eigenen Metabolismus, noch gibt es eine richtige Vegetation da draußen, geschweige denn Blumen oder Bäume.
Aber was ist es dann?
Vorsichtig führe ich einen Finger an meine Zunge und koste die Substanz – süß, so muss süßliche Nahrung schmecken; viel besser als das Zeug, das lauwarm aus den Hähnen klatscht. Glukose, ein synthetischer Fruchtzucker? Das gab es früher manchmal, flüsterte mir ein Archivar; heute gibt es nur noch Brei. 40 µl pro Artefakt und Flug, so schafft jedes Insekt einen Tropfen nach dem anderen herbei; sie bleiben am Gehäuse haften, an den Fühlern, an den filigranen Beinen – ich habe die Menge hochgerechnet: Bei einer Anzahl von fünfhundert Bienen dauert es knapp einen halben Zyklus, bis ein ganzer Liter in den Wachswaben eingelagert ist.