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Blutige Schlieren vom Kampf; von beiden kleben die Handabdrücke, große, kleine, rot auf den Fliesen.
Nein, du machst das falsch, sage ich zu ihr: Ava; neuer Name. Sie trägt ein Rüschenkleid, das Ruth ihr angezogen hat, mir wären Jeans und T-Shirt lieber gewesen, aber sie kann boshaft sein. Ich umrunde das Mädchen, prüfe ihre Griffe, Bisse wie ein Boxtrainer.
Meine Zähne rutschen ab, greint sie.
Du hast zu viele Horrorfilme gesehen: Man schlägt den Kiefer nicht rein, man reißt das Nackenfleisch raus.
Was‽ … Das kann ich nicht.
Blut allein reicht nicht für dich. Du verwandelst dich gerade, du brauchst mehr, sonst laugt es dich aus.
Sie tut sich wirklich schwer: würgt, als sie ein Hautstück abbekommt, das sie gleich auf den Boden spuckt. Ihr Mund ist blutnass. Ich schaff’s nicht, Martin. Bitte, lass mich.
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Mit der Linken greife ich mir den Leib; mit der Rechten schäle ich einen Halsmuskel ab, den ich Ava vor die Füße werfe, als wäre sie ein Hund. Reiß dich zusammen. Schluck’s runter!
Sie kotzt in die Dusche, eine glitzernde, schwarze Pfütze.
Ruckartig ziehe ich sie hoch; halte ihr mein Klappmesser hin: Das ist ein Feeding Razor aus England. Damit geht’s leichter …
Ava nimmt es in die Hand, fühlt mit dem Daumen über den ziselierten Griff, bis sie es aufklappt.
Ich deute auf den Körper: Seine Haut wird blau, weil das Blut in den Adern stockt. Beeil dich, gleich ist es bitter.
Nein! Scheppernd lässt sie das Messer fallen.
So, du willst nicht? Aber du musst! Warum vergeude ich Zeit mit dieser Göre? Zwei Anrufe warten. Und ich will trinken. Ewiges Leben oder der Tod, entscheide dich.
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Als Voyeur betrachte ich sie durch den Türspalt: Wie sich Ava mit der Klinge selbst verletzt, sich am Handgelenk ritzt – und losheult, als sie begreift, dass sie nicht tiefer schneiden kann; weil sie leben will.
Dann wird der Hunger zu groß. Ich kenne das, habe es so oft gesehen, miterlebt, durchgemacht; und sie trennt doch ein Fleischstück ab. Ihre Finger zucken, aber sie schafft es, steckt es sich in den Mund, kaut; würgt und kaut und schluckt es runter. Es bleibt unten.
Glückwunsch. Applaudierend trete ich ein: Lass mich deine Wunden verbinden.
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Sie hockt auf dem Sofa, die blutigen Hände im Schoß, während das alte Leben von ihr abfällt. Verloren, ihr trauriger Blick, der mich gestern schon berührt hat: Wenn man nicht weiß, aber ahnt, dass deine drei Wünsche nicht in Erfüllung gehen werden: die große Liebe, das Leben im Rampenlicht – oder die Welt zu verändern, zum Guten. Wenn die Woge sich langsam, ganz langsam auftürmt; man die Kraft dahinter spürt, die über dich hinwegrollen wird, mit voller Wucht, ehe sie sich zurückzieht – nur den Schaum deiner Träume übriglässt, knisternd in der Sonne; wenn du am Strand liegst, zerschmettert, nicht als Meerjungfrau, sondern als Fisch, der bald stinkt, von Möwen gefressen, bei Ebbe, und voller Fliegen; bis die nächste Flut es fortwäscht.
Willst du was trinken?, frage ich.
Sie schüttelt den Kopf.
Na komm, sage ich; wobei ich zur Anrichte gehe, mir ein Glas auffülle, ein zweites für sie. Nimm.
Und sie gehorcht; klemmt es zwischen die Beine, ohne zu trinken, starrt nur in die bernsteinschwere Flüssigkeit, seltsam fasziniert von den Reflexionen der Kerzen.
Ich rücke den Ohrensessel heran, um ihr gegenüber zu sitzen; leere den Bourbon in einem Zug und stelle mein Glas weg, ehe ich mich gelassen zurücklehne. Gut; wer bist du?, frage ich sie. Und wer willst du sein?
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Das Gänseblümchen am Puls, neben den Schnitten; der obligatorische Totenkopf, und ein Mädchen auf der Schaukel, die nassen Haare im Gesicht. Woher die Tattoos? frage ich.
Was geht’s dich an?
Ich sauge am Reißzahn. Wie alt bist du wirklich?
Sie hebt eine Augenbraue. Siebzehn?
Gestern ein Jahr mehr …
Ja, und‽ Was soll’s? Ich hab nächsten Monat Geburtstag.
Dachte, man muss volljährig sein, um –
Nicht, wenn Papa unterschreibt.
Ach so. Okay. Die Situation entgleitet mir.
Ich muss nach Hause, sagt sie plötzlich, steht auf. Meine Mum wird sich sorgen.
Setz dich hin!
Ava fügt sich.
Ich nehme das Glas aus ihrem Schoß und koste: zu warm, zu dunkelsüß, und trinke aus, stelle es gegen meins. Hör zu …
Was?
Dein altes Leben ist weg. Paff! Vergiss deine Eltern; was du jahrelang im Klassenraum gelernt hast; deine falschen Freunde, deine öden Hobbys oder den Schulschwarm, den du sowieso nicht gekriegt hättest, nicht jetzt, aber in zehn Jahren hätte er vielleicht deinen Sportwagen repariert. Alles Schatten einer anderen Welt …
Ein Schluchzen schüttelt ihre Schultern. Was soll das bitte heißen?
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Ich will dir etwas zeigen, reiche ich ihr die Hand; und Ava lässt sich auf den Balkon hinausführen. Der Abend ist kalt und regnerisch. Noch Verkehr um die Uhrzeit, vielleicht ein Konzert im Stadion, zu dem sie hinfahren, angezogen wie Motten vom Licht. Eine Ampel schaltet auf Grün.
Sieh sie dir an, die vielen Menschen in der Großstadt … aber leben sie wirklich, oder imitieren sie ein Leben? Das Lächeln als Mimikry? Die Träume auf Raten?
Was?, fragt sie verwirrt.
Schau hin.
Auf dem Bürgersteig halten sie ihre Köpfe gesenkt, die Kapuzen hochgeschlagen; Regenschirme glänzen wie aus schwarzem Chitin. Eine gesichtslose Menge. Eine Masse von Leibern. Man konkurriert und setzt sich durch, die Ellenbogen raus! Jeder gegen jeden. Ach, sie lieben ihre Hierarchien in den kleinen Babeltürmen: Nach oben buckeln, nach unten treten, während man die Karriereleiter erklimmt, Stockwerk für Stockwerk, um oben, ganz weit oben, vom Dach zu springen, völlig ausgebrannt und verzweifelt: Es ist so einsam an der Spitze.
Nach der Uni eine Reise als Rucksacktourist, um sich selbst zu finden, und dann … erst Autos, dann Häuser … Die Kinder sind himmelblau oder pink im Casinospiel des Lebens. Oder Monopoly. Oder Fußballspiele um einen albernen Goldpokal. Die Castingshows im Fernsehen.
Ich verstehe nicht …
Der Mensch ist so viel wert, wie er verdient! Man trägt sein Gehalt wie ein Preisschild am Leib, obgleich jeder Körper spottbillig ist: nur heiße Luft und Wasser, die paar Metalle – jeder eine schlecht konstruierte Maschine. Parfümierte Affen und Schweine, diese Helden der Arbeitsfront: Wie Orden tragen sie ihre Überstunden an stolzgeschwellter Brust, doch ihre Augen sind blutunterlaufen, die Wangen grau, die Zähne gelb vom Rauchen und zu viel Kaffee. Sie sind schwach.
Was redest du da?
Was uns absolut berechtigt, sie als Beute zu reißen; wir, die Jäger – wir sind die Alphatiere, die diesem Naturgesetz folgen: fressen oder gefressen werden. Wir sind unter ihnen, außerhalb, beobachten sie mit Raubtieraugen. Wir sind die Stärksten, machen die Regeln, bestimmen, was geschieht. Verstehst du‽ Der Alkohol kratzt mich auf.
Sie starrt auf die Lichter, auf den Wechsel von Rot zu Grün, bevor die Kolonne weiterruckelt.
Sag schon.
Statt zu antworten, lässt mich Ava einfach stehen, entzieht sich mir, als sie zurück ins Zimmer wankt. Ich laufe ihr nach. Hey!
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Der Sessel, das Sofa. Eine Kerze flackert und verlischt. Was geschieht mit mir?, fragt sie nach langem Schweigen.
Du stirbst. Nein, du verwandelst dich – oder wirst verwandelt.
Von wem?
Von was, ist die korrekte Frage. Ich schwenke den Wodka, ein letzter Eiswürfel klirrt; mehr war nicht im Kühlschrank. Habe die Formschale unterm Wasserhahn aufgefüllt und wieder reingestellt. Für später. Kennst du die Mythen? Vergiss das! Wie gut warst du in Biologie, und damit meine ich nicht das Pimmelbild im Schulbuch, wo ihr mit dem Lineal kichernd die Zentimeter nachgemessen habt.
Hatte eine Drei in der letzten Klausur …
Sollte reichen, griene ich und setze mich breitbeinig hin. Doch plötzlich bin ich müde, ihr Mentor zu sein, erneut den Vortrag zu halten.
Und?
Nichts, sage ich, massiere mir die Stirn. Also, hör zu …
Ja?
Das Übersinnliche gibt es nicht: diese schönen, gefallenen Engel oder Gott. Nein, nein. Es ist eine doppelte Krankheit, wenn du so willst: ein Bakterium, dazu ein Virus, beides wurde durch Fledermäuse übertragen wie Malaria und Tollwut, derart aggressiv, dass sie das Blut verseuchen, unser Verhalten verändern, die Muskulatur; unsere Zellen. Alles. Sie haben unsere Restriktionsenzyme angepasst, die unser Erbgut reparieren: Wir kriegen selten Krebs; dazu andere, genetische Besonderheiten, sodass wir kaum altern und schnell gesund werden.
Wir sind robust, zäh und elegant, verführerisch durch unsere Präsenz, unsere Pheromone; und fast unsichtbar, sofern wir wollen, fast schneller als das Auge folgen kann: nur schlierige Konturen oder Schatten, auch auf Überwachungskameras.
Dafür greift diese Krankheit unser Hämoglobin an, baut es ab, sodass wir ständig neues Blut brauchen oder dessen Bestandteile: für die rote Farbe, die den Sauerstoff bindet. Sonst ersticken wir. Auch die Körpertemperatur sinkt, weil unser Stoffwechsel dauernd in den Keller rutscht.
Aber, sind wir unsterblich?
Tut mir leid, auch das ist ein Mythos. Wir werden erwachsen, altern bis dreißig, fünfunddreißig, dann nicht mehr. Altere Vampire wurden später infiziert. Und wir werden steinalt, sofern uns nichts passiert. De Gruyter! Was will er? Ich verdränge den Gedanken.
Ava, schläfrige Augen. Ah, verstehe.
Wirklich?
Mir schwirrt der Kopf …
Sollen wir eine Pause machen?
Nein.
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Mit Weihrauch gesegnetes Weihwasser kann bei uns einen anaphylaktischen Schock auslösen, Atemnot oder eine schwere Nesselsucht: weiße Quaddeln auf der Haut, die brennen. Der Rest ist Hokuspokus, eine psychosomatische Reaktion oder ein Schutzreflex, den man zu unterdrücken lernt: Ein Kreuz trägst du selbst am Hals. In einen Spiegel willst du gerade nicht schauen, aber du siehst dich. Kannst dir also weiterhin die Augenbrauen zupfen …
Okay.
Ach, die Pflöcke: mehr Ritual als Notwendigkeit, um uns zu töten. Das Küchenmesser vom Shoppingkanal reicht aus. Haben wir alles? Nein, das Tageslicht. Stimmt, wir sind anfällig, viel zu grell ist der Tag, weil unsere Pupillen geweitet sind für die Nacht; doch erst im Sommer wird es kritisch … falls du hypersensibel bist wie Ruth: Kurz draußen gewesen, schon hat sie einen Sonnenbrand. Johann ist längst abgehärtet, ich nicht so sehr. Dafür sehen wir im Dunkeln besser als Katzen. Der Wodka brennt auf meiner Zunge.
Miau, macht sie, und ich muss lachen.
Sag es …
Hm?
Was wir sind!
Vampire, sage ich. Parasiten. Wir sind der Tod, der dich findet.
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Das Sterben ist dem Leben inhärent.
Bitte?, fragt sie.
Ich zeige auf einen Lavendelstrauß, der auf dem Fensterbrett verwelkt. Jede Blume, die man pflückt, wegen ihrer Schönheit, ihrem Duft, ist dem Tod geweiht.
Die verblühen sowieso, ergänzt sie, und ihre Augen schimmern. Darum geht es doch, was?
Ja, nicke ich; das ist das Sinnbild. Du hast verstanden.
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Haben wir einen Puls?, fragt sie verstört.
Ob dein Herz schlägt?, höhne ich. Na los, prüf es nach. Nur zu …
Und sie legt zwei zittrige Finger in die Mulde an ihrem Hals, spürt das Pochen. Ja, seufzt sie erleichtert.
Du bist nicht tot, nur verwandelt. Du siehst die Welt mit anderen Augen.
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Blutdurst, hakt sie nach; wie im Splatterfilm?
Mehr als einen Liter kannst du nicht schlucken, sonst musst du kotzen; also nichts mit aussaugen. Klar?
Klar.
Dazu das Fleisch. Wir ernähren uns von ihnen, sind Kannibalen oder … Zombies, falls dir das besser gefällt. Wir brauchen unsere Droge tagtäglich und wissen auch, warum: Das ist alles längst erforscht, durch wissenschaftliche Studien, die so geheim sind wie unsere ganze Existenz. Ich schmecke das letzte Wort nach.
Und?
Es ist eine Geschlechtskrankheit, wenn du so willst. Wir sind ansteckend, virulent.
Ihr Kopf ruckt hoch: Was‽
Sie wird durch Sex übertragen, also nimm Kondome mit. Ich lege eine Kunstpause ein. Oder töte dein Opfer, danach.
Witzig! Doch sie sinkt aufs Kissen zurück. Mann, ich will einfach nur nach Hause …
Das geht nicht.
Schade; ein dünnes Lächeln. Und da ist es wieder: Ava fügt sich in ihr Schicksal. Ich nicke ihr zu. Wie geht es dir jetzt?
Nicht so gut …
Soll ich fortfahren?
Sie zuckt die Schultern.
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Im Menschenblut sind die lebenswichtigen Bausteine, die wir als Nahrung brauchen; dass neues Hämoglobin, neue rote Blutkörperchen im Knochenmark produziert werden können. Aber es ist noch viel mehr, es ist die menschliche Essenz, destilliert und lupenrein, der kostbare Lebenssaft!
Klingt komisch, gibt Ava zurück.
Bitte?
Auch diese megaschlauen Erklärungen … Willst du mich etwa damit beeindrucken?
Nein, lüge ich; wohl kaum. Noch vor Augen, wie sie gestern zu mir aufgeschaut hat: neugierig, lächelnd, und so wissensdurstig; als ich ihr, wie Pralinen, meine Gedanken aufs Bett gelegt habe – dieser unsicheren, kleinen Göre auf der Suche nach Orientierung und Halt in einer Welt, die verrückt geworden ist; oder es immer schon war. Und jetzt?
Martin, bittet sie, schlägt die Augen auf.
Was?
Erklär mir alles …
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Anfangs verträgst du nur Blut, auch das von Tieren, oder Menschenfleisch; später, nach und nach, kannst du deinen Körper wieder an normale Nahrung gewöhnen: an Cornflakes mit Kuhmilch, an den Burger mit doppelt Käse oder den Döner mit Salat, mit extra scharf. Schmeckt aber nicht mehr so, wie es schmecken sollte. Na ja. Für dich vorerst nur Babynahrung – während du zahnst. Und du bleibst zeitlebens abhängig.
Wie wird man zum Vampir?
Ah, sage ich. Durch einen Biss werden die Viren im Speichel übertragen, machen Ghule aus unserer Beute, sofern sie nicht sterben, weil der Erreger das Gehirn und das Nervensystem angreift – nur in Kombination mit dem Bakterium, das die Infektion abschwächt, wird ein echter Vampir draus. Dazu muss unser Blut in ihren Kreislauf gelangen. Alles klar?
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Ein neues Glas, bis ich, mit schwerer Zunge, sinniere: Unsere Sucht nach Leben wird durch die Jagd gestillt, in der Nacht oder am Tag, was schwieriger ist; ein Rausch der Verführung und des Tötens im Spiel mit der gefangenen Maus.
Verstehe. Ava richtet sich auf, hält meinem Blick stand: Und, war ich ein netter Zeitvertreib für dich? Hat es dir gut gefallen‽ Weißt du, ich habe jede Minute davon gehasst. Deinen Geruch. Wie du mich angefasst hast!
Schwerfällig bewege ich die Hand, weiß gar nicht, was ich sagen wollte. Hör zu, ich –
Du bist der große böse Wolf, nicht wahr? Und ich die Jungfrau in Nöten …
Jungfrau, von wegen! Pennst doch mit jedem Kerl, der dir Aufmerksamkeit schenkt.
Fick dich.
Fick dich selbst.
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Wir schweigen uns an.
Schließlich sagt sie, mit starren Augen: Wer gibt euch das Recht, zu entscheiden, wer leben darf, wer stirbt: Bist du der Teufel oder Gott? Nee. Du bist nur ein Serienkiller im Anzug, mit deiner blöden Krawatte; und lächelnd nimmst du Leben, gerade so, wie es dir passt – als ob euch die Welt gehören würde, dir und deiner Brut.
Hör mal …, beginne ich.
Du bist schwanzgesteuert, ein Triebtäter, ein Psycho, der seine kranke Mordlust stillt.
Genug. Das reicht jetzt.
Hat dir eine das Herz gebrochen? Warst du ein Spielzeug für jemanden, der nur spielen wollte? Jagst du deshalb kleine Mädchen, weil sie dir nicht wehtun können? Kleine, unreife –
Es reicht!
Also was?, zischt sie. Ihr Ausdruck hat sich verändert: Eine Hand an der Wange zieht sie eine Flunsch, starrt auf ihre nackten Füße voller Blut.
Geh duschen, sage ich.
Was, schreit sie mich an. Dein Ernst‽ Du Schwein! Da liegt ein Mann, den ich gekillt habe.
Nur Fleisch, sage ich, spüre aber, wie ich die Kontrolle verliere.
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Neben uns fliegt die Haustür auf: Im Flur stehen Ruth und Johann, sichtlich angeschlagen. Dachte, du wolltest dich drum … kümmern?, säuselt sie; dabei lässt sie die Flasche fallen, klirr, und Rotwein sprenkelt die Tapete. Wieso steht dieses Taxi noch unten? Sag bloß –
Nicht so laut, fluche ich. Kommt rein.
Nein, ihr kommt raus, fordert Johann. Das wird sofort erledigt.
Ich stehe auf; stehe dort, auf dem Parkett, und spüre die Körper um mich herum: ihre schlagenden Herzen, voller Blut – und den Toten. Nein, wir reden erst, sage ich mit möglichst klarer Stimme, und Ruth tritt kichernd ein, stolpert ein paar Schritte, ehe sie mir eine Hand auf die Brust legt: Ja, Meister, was immer Ihr befehlt.
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Scheiße auch. Sie starren ins Bad: das schorfige Blut auf den Fliesen wie an Zähnen. Und jetzt?
Kofferraum, sagt er. Was sonst.
Wer fährt?
Wir schauen Ava an – alle drei betrunken, wie so oft, träge am Tag, und nachts hellwach. Bin es so elend leid.
Was?, keucht sie. Nein, das läuft nicht!
Also entschieden.
Komm mit ins Gästeklo, sagt Johann. Ich putz dir schnell den Mund ab.
FÜNF
Ava am Steuer, Ruth neben ihr – ich und Johann kleben am Rücksitz und bewegen uns kaum. Holprig lenkt sie das Taxi vom Bordstein, der zweite Gang knirscht; dann gleiten wir zur Kreuzung und biegen nach links in die Ringstraße ein.
Uhrzeit: 5:14.
Du fährst wie ne gesengte Sau, ruft Johann nach vorn, nippt am letzten oder am ersten Konterbier.
Mann, ich hatte eine Stunde auf dem Übungsplatz, mit Papa, und sechs Fahrstunden.
Wir lachen sie aus.
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Dann der Flow … Wenn die Laternen im Takt der Musik vorbeiziehen mit diesem Heiligenschein aus Dunst. Wir hören Radio, irgendeinen Chillout-Sender, während die Vögel auf den Strommasten hocken und es mit jedem Kilometer heller wird: Sonnenaufgang, erst trübe, schmierig wie Butter auf Papier, dann grell! Wir ziehen die Köpfe ein. Der Regen glitzert, kleine Pfützen auf dem Asphalt. Ein Sonntag, an dem die Leute ausschlafen, später beim Bäcker die Brötchen holen fürs gemeinsame Frühstück.
Wohin soll ich fahren?, fragt Ava.
Geradeaus.
Also, wir packen ihn in den Container, erklärt Johann, nach Dubai oder Schottland oder woanders hin. Fällt keinem auf, sobald ich am Rechner sitze. Er grinst.
Gut, sage ich. Wie immer also. Aber wir müssen auch sein Taxi loswerden …
Mache ich bei der Spätschicht heute; lassen die Karre solange stehen.
Verbeulte Zäune, die Industrieruinen abgrenzen: Baukräne und Montagehallen. Ein heiles Fenster, eisüberkrustet. Eine Telefonzelle am Stadtrand; wir haben das Hafengebiet erreicht, dahinter: der Fluss, wo die Frachtschiffe vom Meer kommen oder ins Meer zurückgleiten.
Ich beuge mich vor, rüttle Ruth an der Schulter, die eingenickt ist: Hey, wach auf! Wir sind da.
Der Motor versackt.
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Ein Parkplatz an der Regiobahn: die Endhaltestelle. Im Sommer staubgrauer Sand, der bei jedem Schritt wölkt und in der Nase kitzelt, das Zirpen der Grillen; flimmernde Hitze, ein Geruch von Autoreifen und Kamille – doch jetzt ist der Boden steinhart, die Büsche kahl und vereist. Ein nackter Baum im Gegenlicht. Ihr Atem beschlägt, als wir aus dem Taxi steigen, meiner ist dünn, zu niedrige Körpertemperatur; lange her, dass ich getrunken oder etwas gefressen habe. Und ich spüre, wie der Entzug näherkommt, sich wie ein Tier im Käfig aufbäumen wird, wie jedes Mal, so, wie Ruth diese Enge nicht erträgt, wieder ausbricht im neuen Rausch …
Ich bin ein Junkie.
Wir alle sind es, stumpf, teilnahmslos oder gefährlich durch die Droge, die wir brauchen. Jeden Tag.
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In der ersten Bahn zurück; wortlos lassen wir das Bier kreisen, blicken an uns vorbei aus dem Fenster: noch diese magische Welt, wo Eistropfen schillern, an Ästen, an Grashalmen. Weite Felder, dann Teiche. Eine Vogelscheuche aus Besenstil und Mülltüten, einen Putzeimer als Kopf. Die Krähe fliegt davon …
Ava weint.
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Häuserschlucht, so viele Balkone im Schatten, dort eine Wäschespindel, hier stehen Plastikstühle, tote Blumen. Satellitenschüsseln. Eine schmutzige Deutschlandflagge. Mein Handy klingelt, ich gehe ran: Was?
Bist du crazy‽ Ein Meeting am Samstag? Sein englischer Akzent, den er einfach nicht loswird. Dein, wie heißt das: Betriebsrat hat mir eine E-Mail geschickt …
Hallo Vater.
Spar dir den Ton. Du kannst mit deinen Leuten nicht spielen wie mit Rats. Das ist schlecht für die Moral.
Okay.
Obwohl ich natürlich weiß, dass –
Genau, unterbreche ich ihn. Sehe ihn vor mir, sein kantiges Gesicht mit den eisgrauen Schläfen.
Wir sind eine Corporation, Martin. Wann begreifst du das endlich? Eine Dynastie, zieht er das Wort lang.
Nein, du bist die Dynastie! Ich bin dein missratener Sohn, eine herbe Enttäuschung.
Habe gedacht, dass sich das irgendwann ändert, aber –
… Ich bin immer noch der Taugenichts von früher: keine Ideale, keine Ziele vor Augen. Lebe einfach in den Tag hinein und lasse mich treiben wie ein Teenager.
Werdet erwachsen, das gilt für euch alle, übernehmt, damn: Wie heißt das Wort?
Verantwortung?, helfe ich nach.
Wir haben ein Erbe zu bewahren, das auch deins ist.
Schon klar.
No, ich denke nicht, dass dir das klar ist, Martin. Bitte, tu es nicht schon wieder, dafür habe ich dich nicht zum … Vampire gemacht. Du sollst mir eine Hilfe sein, in diesen harten Zeiten, und kein neues Ärgernis. Wäre dein Bruder nicht –
Tot, knurre ich. Ist er aber. Bist du fertig‽
Doch er hat schon aufgelegt.
Dein Dad? Ruth zieht die Stirn in Falten.
Wer sonst.
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Hinter uns die Schiebetüren, und während die Bahn weiterzieht, wechseln wir die Straßenseite zum Hauseingang: Die Türklingeln sind adrett beschriftet, andere mit schrägen Etikettierbändern, mit Kreppband und Kuli – oder der Name fehlt ganz. Ich stecke den Schlüssel ins Schloss, schließe auf, und die anderen gleiten die Treppen hoch wie ein Nebel.
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Wir hocken am Frühstückstisch, es ist nach neun; im Ofen diese billigen Aufbackbrötchen, die Kaffeemaschine röchelt vor sich hin. Keiner sagt etwas, bis ich das Schweigen breche: Wo wart ihr gestern?
Um die Häuser gezogen, meint Johann, der aufsteht, die Klappe öffnet, das heiße Blech mit dem Spültuch herausnimmt. Dampfend. Heiß!
Sicher, ich meinte … ach egal. Ich sehe ihm dabei zu, wie er die Brötchen einzeln in eine Bastschale legt, dann auf den Tisch stellt. Bedient euch. Ruth greift zu, ich greife zu – Ava hält die Hände im Schoß, schaut nicht auf. Er nimmt sich selbst eins, zersäbelt es in zwei Hälften und streicht Butter und die Marmelade drauf. Beißt rein.
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Erzähl uns von dir … Ruth will sie aufmuntern. Liest du denn gern?
Was?, fragt Ava.
Na, welche Bücher kennst du?
Keine Ahnung.
Lass dir Zeit.
Wir warten, während sie an diesen Puffärmeln zerrt.
Sag schon, herrsche ich sie an – und Ava ruckt hoch: Gestern hat mich das klare Porzellanweiß ihrer Augen fasziniert, dieses Zerbrechliche, und ihr hoffnungsfrohes Lächeln. Heute sind sie stumpf, gerötet und verquollen. An Daumen und Zeigefinger ist schwarzer Nagellack abgeblättert. Ja, beginnt sie, plötzlich ganz ruhig: Harry Potter.
Logisch …
Alice im Wunderland. Lolita. Knochenmädchen im Pelze mit Peitsche.
Von Sacher-Masoch?, grinst Ruth. Ich mag dich, kleine Schwindlerin.
Das zählt nicht, sage ich.
Und ob das zählt!
Na, besser als Der kleine Prinz.
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Wie hat Santana dich gefunden?, wechselt Ruth das Thema und legt sich eine Salami auf die Brötchenhälfte, starrt sie an, ohne zu essen.
Wer?, fragt Ava.
Was, wer, fluche ich. Scheiße auch.
Entspann dich. Johann greift meine Hand, die ich zurückziehe. Ist bloß der Entzug.
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