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Wieso hinterfragen wir das nicht? Mochten Sie das als Kind all diesem »Richtig & Falsch« ausgesetzt zu sein? »Später werden wir uns gegen die Bewertungen von außen auf heroische Art und Weise zur Wehr setzen«, so denken wir als Kinder noch! So denke ich damals auch, als ich mit meiner Bastelfreude auf Jungenhaftigkeit reduziert werde. Aber schon die Reaktionen auf diese ersten Prägungen verstricken mich so tief, dass ich ab da glaube, mich »freischwimmen« zu müssen. Diese späteren, pubertären oder lebenslangen Rebellionen sind ein sich im Kreis drehendes Model. Es ist die Reaktion auf die Reaktion auf die Reaktion. Letztlich »verbessern« wir vielleicht unser Dasein aus unserer Sicht, aber das Fundament ist dann schon lange nicht mehr unsere wahre Kraft. Es wird die eines Kriegers oder einer Kriegerin sein. Es sind nämlich die kleinen Dinge, die stetig auf uns einwirken, deren Prägung wir annehmen. Mit jeder Entscheidung. Freier Wille. Für oder gegen die innere Wahrheit …
Als junges Mädchen mache ich noch andere Dinge, die nicht in die mir vorgelegte Schablone passen. Ich möchte beispielsweise die Haare kurz tragen. Bei meiner Einschulung später brüllt dann ein Mitschüler, als ich mich vorstelle: »Wie, das ist’n Mädchen?«. Auch dieser Junge: ein geprägtes Wesen. Nicht nur ein Mitschüler. Da zieht die gedankenverlorene Weitergabe von Wertungen und Schablonen seine Kreise. Ein wahrscheinlich ganz sensibler, feiner Junge ist schon so von Bildern geprägt, dass er mir volle Breitseite diesen Spruch verpasst. Und das scheppert ordentlich in mir. Wahrscheinlich nochmal mehr, weil ich mich mit dieser blöden Wie-sind-Jungs-und-wie-sind-Mädchen?-Etikettiererei eh schon rumschlagen muss. Mir wird das Gefühl vermittelt, mit mir sei was nicht in Ordnung. Ich sei in irgendeinem Punkt falsch. Kennen Sie das? Da hat jemand etwas Hässliches oder Wertendes über Sie gesagt, als Sie noch Kind waren – vielleicht sogar jemand, den Sie mochten. Womöglich nur in einem Nebensatz. Vielleicht einen Satz wie: »Lass das mal, du hast eh keine Ahnung. Ich mach das« oder: »Das kannst du nicht. Du bist ein Mädchen.« Und schon ist sie da, die Offerte der Entscheidung: Nehmen Sie das Paket »Wertlosigkeit« an, sinken ins Drama des Daseins und verhärten sich in Reaktionen – also übernehmen diesen Glaubenssatz und verbuddeln ihr Selbstvertrauen? Halten Sie also für den Rest des Lebens an einer Aussage fest, die eine Person Ihnen gegenüber getroffen hat, die alles, nur nicht wirklich Sie, also ihr wahres Wesen kennt und Sie mit einem nicht-wertschätzenden Blick angesprochen hat? Oder durchdringen Sie das Spiel, bleiben bei sich und in dem tiefen Vertrauen darauf, dass Sie spüren, dass das nicht stimmt – dass dieser dumme Spruch nicht zu Ihnen gehört. Dass er zu dem Ich-bezogenen Sender N°2 gehört, der Sie bewusst verletzen will, um Sie klein zu halten, damit Sie nicht ihre eigenen Schritte gehen. Damit Sender N°1 keine Option wird.
Apropos eigene Schritte. Dazu fällt mir ein von meinem Vater immer wieder gerne zitierter Moment unsere Familiengeschichte ein: Wir waren mal irgendwo auf einer Bergwanderung. In dem Wort liegt schon das Potenzial von Höhe verborgen. Familie Hecke läuft auf einen Gipfel zu, ich kleiner Knirps löse mich von der Truppe, renne zur äußersten Kante. »Deine Fußspitzen ragten über dem Abgrund«, sagt mein Vater. Und fährt fort: » … mir ist das Herz stehengeblieben. Es ging tausend Meter in die Tiefe. Du aber hast die Arme ausgestreckt und gerufen Schau mal, Papi, ich bin ein Vögelchen!« – Angstbefreit? Möglich. Grenzgängerisch? Definitv! Das ist nur ein kleiner Vorgeschmack auf mein ganz eigenes Wettbewerbsprinzip, auf das ich mich später eingelassen habe. Vielleicht eine Rebellion gegen das Mädchen joah-Klischee. Es wird ein Wettbewerb mit mir selbst. Schaffe ich es allein? Wie weit kann ich gehen? Aber auch das, so werde ich später erkennen, ist nur das Ausmaß einer Kette von Reaktionen auf das, was mir bis dahin schon alles begegnet ist. Was ich wohl noch alles würde ausloten wollen auf dieser Reise …?
Als Kinder sind wir noch klein, was unmittelbar Versorgungsgefühle bei den Großen auslöst. Das ist auch gut so, denn wir können uns ja noch nicht alleine versorgen. So ist das Phänomen Beschützerinstinkt ein wunderbares Element der Grundausstattung unserer Spezies. Das haben wir einfach. Woher?, finde ich interessant zu fragen. Aus der Schule sicherlich nicht. Ich erinnere jedenfalls keine Unterrichtsstunde, in der »Babys versorgen und gernhaben« an der Tafel stand. Sie? Wir haben das einfach. Eine Selbstverständlichkeit. Beruhend auf dem eigentlich tiefen Gefühl der Verbundenheit. Woher sonst? Es ist uns gegeben. Und wie wir leider aus dem Beispiel der Kindstötung bei »falschem« Geschlecht in anderen Kulturen wissen, kann dieser Beschützerinstinkt auch ignoriert werden. In dem Fall, würde ich meinen, wurde er einfach nur überlagert von all dem Wissen, dem Angelernten, dem »Richtig & Falsch« der nicht hinterfragten Traditionen und Rituale. Ich bin sicher: Ablegen kann man das nicht. Aber ignorieren.
In diesem Zusammenhang klingt für mich eine vertiefende Frage an: Was machen wir mit dieser Fähigkeit, wenn wir sie annehmen? Wie verantwortungsbewusst üben wir sie aus? Wie gehen wir mit den Kindern um? Schauen wir uns zum Beispiel an, hören wir zu, was das Kind wirklich braucht, oder ist es mehr die eigene Freude am »Geliebtwerden« oder was immer die Motivation ist, wenn wir von Kinderaugen angestrahlt werden, denen wir gerade ein Geschenk gemacht haben?
Dazu die Praxis. Wir siedeln jäh in den Garten meiner Großeltern über. Ostern 1981. Vor einiger Zeit habe ich ein altes High8-Video zugespielt bekommen. Aufnahmen, die mein Großvater gemacht hat. Tonlos und in Sepia-gelb. Und verwackelt. Also kaum Netflix-tauglich. Aber das aufschlussreichste Geschenk, das mir je in die Hände gefallen ist. Es zeigt meine Familie und mich. Ich sitze da vor einer winzig kleinen Tanne, kaum 30 cm hoch – ich selbst habe übrigens auch ein kaum höheres Stockmaß – und erfreue mich sichtlich an diesem Gewächs. Sprechen und Laufen sind noch nicht meine Stärken. Ich genieße einfach. Nur ich und dieses junge, grüne Leben. In diese Idylle hinein greifen zwei lange Arme eines deutlich größeren Menschenwesens, werfen mich jubelnd in die Luft – mehrfach – bis ich mich schier überschlage. Durchlässigkeit ist offenbar ein Teil meiner Grundausstattung, die ich für dieses Leben gewählt habe, denn es wird sofort deutlich: Meinem Vergnügen dient das hier gerade nicht! Mit Sicherheit würde der »Werfer« aus dieser Geschichte Stein und Bein schwören, dass er aus Liebe gehandelt und mir weiß Gott nichts Böses wollte. Im Gegenteil. Er wollte mich erheitern. Aber ich frage jetzt mal: warum? Warum ist die Stille und die Seligkeit des Kindes, vertraut im Eins-Sein mit Natur und sich selbst, »erheiternsbedürftig« – oder möglicherweise schier nicht auszuhalten? Ja, wir sind in dieser Phase des Lebens kleine Menschen, die Schutz brauchen. Wir können noch nicht selbst einkaufen, kochen oder sonst was. Aber wir großen Menschen erlauben uns einfach, mit Macht, Entscheidungsgewalt und Respektlosigkeit über diese kleinen Menschen zu entscheiden und zu machen, was wir gerne hätten.
Es bleibt interessant. Denn was in dem Video weiter unter den Höhenflügen vier und fünf geschieht, ist für mich im Erwachsenenalter zu betrachten mehr als aufschlussreich. Offenbar lasse ich mich nämlich von der Freude des Werfenden so sehr ergreifen, dass ich anfange mitzumachen. Mitzulachen. Also mein ursprüngliches Gefühl zu überschreiben. Ich hätte ja auch losheulen können. Nein – ich lache mit. Ich lache übrigens heute noch, wenn richtig schlimme Dinge geschehen. Unfälle oder andere schockierende Ereignisse. Und dieses Video zeigt mir, dass viele Situationen ähnlicher Couleur dazu geführt haben, mich mehr und mehr hinten anzustellen, und das, was ich für richtig halte oder gerne gemacht hätte, zugunsten der Erheiterung meines Gegenübers einzutauschen. Zu kompensieren aus Sympathie für die anderen. Der Todesstoß für jeden klaren Blick. All diese kleinen Momente, diese Zwischentöne und bewussten oder unbewussten Entscheidungen waren Schritte weg von dem, was ich mit einem Gefühl von Allverbundenheit meine. Dem Gefühl der Existenz in einem Bewusstsein, dass ich für niemanden etwas tun oder sein muss. Auch für mich nicht. Dass mein Leben, also mein Handeln, keine Bürde oder Pflicht ist. Aber sowohl dem Erwachsenen, der sich offenbar nicht zu meiner Freude, sondern zu dessen eigenen Vergnügen erlaubt hat, mich durch die Luft zu schleudern, als auch mir, die es nach einiger Zeit mit dem ersehnten Widerhall des kindlichen Kieksens zurückgegeben hat, obliegt es, eine Entscheidung zu treffen: mit-zu-machen oder mit-sich-eins-zu-bleiben. Also mache ich etwas oder bin ich. Aus einem rein menschlichen Blickwinkel macht das Sinn: das Mitmachen. Das Adere-nicht-enttäuschen-Wollen. Dazugehören. Denn: Wer will nicht geliebt werden! Wer wird gerne zurückgewiesen?
Meine Kindergartenerfahrung schlägt eine weitere Kerbe ins Holz. Ein weiterer Warnschuss: »Reih dich ein!« Damals reihe ich mich aber noch nicht ein. Ich mache nicht mit, ich will ums Überleben nicht in den Kindergarten. Ich schreie, bis ich die Luft anhalte und umfalle. Man nennt das fachgerecht »frühkindliche Hysterie«. Zack: Label drauf. Denn warum ich nicht dahin will, ist kein Thema. Ich funktioniere nicht. Das reicht, um einen Gang zum Arzt und eine Diagnose zu rechtfertigen. Der Hinweis meiner Kinderärztin, dass ich, wenn das nicht aufhört, zu einem Kinderpsychologen muss, trifft meine Mutter hart. Das spüre ich. Sie will ja auch nicht unangenehm auffallen mit so einem Brüllkäfer. Und auch, wenn das eben mein Ausdruck ist, zu sagen: »Hört mich doch bitte!« (zugegeben laut – ich hoffte, auch wirksam … naja.), spüre ich und muss erkennen: Das ist nicht das geeignete Mittel. Denn Mamas Liebe will ich nicht verlieren. Ich gebe also auf und stelle das Gebrülle ein. Ich reihe mich ein. Ich muss erkennen, dass Mitlaufen ein Teil dessen ist, was das Menschsein auszumachen scheint. Dass mir die Nonnen im katholischen Kindergarten mit ihren dunklen Kutten Angst machen, dass die anderen Kinder mir Angst machen, dass dieses Lernen mit anderen außerhalb der Familie, mit denen ich nun umgehen muss, eine Aufgabe für mich ist – darüber reden wir nicht. Das da Energien spürbar werden, die mich einschüchtern sollen, auch nicht. Da mussten alle durch. Es wird nicht gesehen. Nicht, weil das keiner will. Diese Liebe würde ich meinen Eltern schon zuschreiben. Aber weil man das nicht hinterfragt, weil es Teil der Wiederholbarkeit ist, durch die wir uns eben gegenseitig durchschleusen. Man macht das eben so. Kindergarten, Schule, Uni, Ehe, Reihenhaus, Altersvorsorge, Sargdeckel. Auf dieses lineare System haben wir uns geeinigt. Das ist das Grundgefühl von Zugehörigkeit. Ein Leben, das mit der Geburt beginnt und mit dem Tod endet. Und dazwischen suchen wir uns ein kleines bisschen Glück, Liebe, Erfolg … Ist das nicht trostlos? Was geben wir da weiter an die kleinen Großen? Vielmehr …: Was nehmen wir ihnen weg? Weg mit dem Urvertrauen – her mit dem Sicherheitsdenken.
In diesem Netz des Dazugehörens und Mitmachens werde ich allerdings zunehmend unglücklich. Ich spüre einfach nach wie vor, dass daran irgendwas nicht stimmt. Das Foto meiner Einschulung spricht Bände. Es wird sichtbar: Ab jetzt möchte ich irgendwie gefallen. Ich sehe bezaubernd aus. Lächle brav. Aber der Ausdruck in meinen Augen spricht Bände. Er ist tief traurig. Was ich spätestens jetzt verstanden habe, ist: Es gibt eine äußere Fassade und einen inneren Kern. Das ist langsam, aber sicher nicht mehr Dasselbe. Das geht verloren mit jeder Wiederholung. Die Währung, mit der wir handeln, ist Zugehörigkeit. Zu was oder zu wem? Es ist eine Frage der Frequenz, auf die wir uns einschwingen. Gemeinsame Wahrheit oder Individualisten-Kabarett? Radiostation N°1 oder N°2? Die absolute Mehrheit tanzt Solo. Also auf zum Staatsballett der Solisten! Der vom großen Ganzen Getrennten. Gemeinsam einsam. Wie gut, dass Ballett nie meine Stärke sein wird …
Familienporträt
Stark und haltend. So hat sich der Nachmittagsschlaf auf der Brust meines Vaters angefühlt. Daran kann ich mich noch gut erinnern, wenngleich ich da noch sehr klein war. Das waren – Schnarchen hin oder her –tief entspannte und wohlige Momente für mich. Offenbar für uns beide. Ein Moment der Ausdehnung. Verbunden. Warm und vertraut. Es ist die erste Zugehörigkeit, zu der wir uns einreihen – zu der ich mich einreihe. Meine erste Clubmitgliedschaft sozusagen: meine Familie. Frei Haus. Inklusive iher sämtlichen Pflichten und Annehmlichkeiten. Und auch die all derjenigen, die auch noch dazu gehören: Onkel, Tanten, Omas und Opas, Cousinen und Cousins. Für meine Welt sind die Vorstandsvorsitzenden Mama und Papa. Insgeheim sind das vielleicht auch andere …
»Ich hatte Angst, dich zu zerbrechen«, sind die liebevollen Worte meiner Mutter, die mich im Erwachsenenalter erreichen. Sie waren die Antwort auf meine Frage, warum mein Vater mich als Kind gebadet hat, und nicht sie. Meine leichte und feine Statur hatte meine Mutter dazu bewogen, das Baden an ihn abzugeben. Das ist eine mögliche, menschliche Erklärung. Definitiv hat meine Mutter meine Sensitivität gespürt. Mich als pure Reflexion wahrgenommen. Das war ja schon bei der Geburt klar. Vielleicht wäre das Baden und Halten fortführend eine zu große Konfrontation mit ihrer eigenen Sensitivität gewesen …
Grundsätzlich wird ja dem Verhältnis von Kindern und ihren Eltern nachgesagt, dass Mütter & Söhne sowie Väter & Töchter eine besondere Bindung haben. Dass dem Vater im Leben einer Frau eine ganz spezielle Rolle zuteilwird, so wie der Mutter im Leben eines Mannes. Das wird auch in meinem Leben schon ganz zu Beginn deutlich. Mal ehrlich. Hier sind sie wieder: Diese Momente. Es sind Entscheidungen. Beispielsweise die Frage nach den Clubvorsitzenden: Mama und Papa. Kann ich meinen Vater als den Menschen sehen, den ich mir mit all seinen Bedürfnissen, Prägungen und Eigenschaften ausgesucht habe, mich großzuziehen – oder: mache ich ihn zu meinem ganz eigenen Papa. Ist meine Mutter für mich die Frau, die ich mir ausgesucht habe, mich zu unterstützen, groß zu werden, mit meinem tiefen Respekt für ihre Eigenschaften, Werte und Schwachstellen – oder: ist das einfach nur Meine-ich-will-mich-bei-dir-wohlfühlen-sorg-für-mich-Mama.
Mein. Ganz. Eigener. Papa. Meine. Ganz. Eigene. Mama.
Das machen die mit mir ja auch. Unsere Tochter. Was da wohl auch schon für Vorstellungen dran hängen …? Unsere. Tochter. Rums. Das sind Worte, die schon für sich genommen eine große Bürde sind. Für beide Parteien. Ein Brauchen und ein Gebrauchtwerden. Ein Besitz. Ein Feuerwerk an Ansprüchen und Erwartungen. Beladen mit Bildern und Vorstellungen, die uns dann definieren: Rollenbildern. Später wird sich in unserem Zusammenleben zeigen, dass diese vorgefertigten Schablonen die Grundbausteine für gegenseitige Forderungshaltungen sind – und damit auch die Basis dafür, dass ich und/oder meine Eltern potenziell enttäuscht oder begeistert werden könnten. Jedenfalls begründet es eine Art ständige Erwartungshaltung, eine emotionale Bindung. Die hat ja auch wahnsinnig schöne Seiten. Die Verantwortung füreinander zum Beispiel. Bei den Eltern im Bett schlafen, sonntags spazieren gehen, im Garten grillen. Und das genau lieben wir! Naja: Lieben insofern, als es das nächst Beste ist, das uns zur Verfügung steht. Wir greifen nach allem, was uns verbunden fühlen lässt.
Wir brauchen uns gegenseitig, um uns verbunden zu fühlen, weil wir das Zusammengehörigkeitsgefühl auf globalem Grund abgestreift haben. Dieser Ersatz schafft Abhängigkeiten. Menschliche Verbindungen. Die wiederum das gewünschte Zugehörigkeitsgefühl hervorbringen. Es ist aber eine reduzierte Version. Lieben tun wir das im Inneren also nicht wirklich, würde ich meinen. Denn Liebe braucht nichts. Liebe ist. Nur: das Sein ist irgendwann nicht mehr genug. Und dann braucht es diesen Ersatz, die emotionale Bindung an konkrete Menschen, um den Verlust des Gefühls umfassender, universeller Zugehörigkeit und Allverbundenheit kompensieren zu können. Das Ersatzgefühl dafür, dass wir energetisch alle verbunden sind, ewig und unbedingt geliebt, daraus aber eine totgeglaubte Sache gemacht haben. Das klingt in manchen Ohren vielleicht überzogen. Aber seien wir doch mal ehrlich: Genau das ist es, was wir da machen! Oder würden Sie sagen, dass Sie frei von jeder Erwartung innerhalb der Familie, ihrer Beziehung oder ihren Freundschaften wären? Wir knüpfen emotionale Bande. Wir personifizieren, belegen uns mit Erwartungen und Bildern auf Basis dieser emotionalen Struktur, weil wir nur diese Realität sehen: Mensch zu Mensch. Materie zu Materie. Nichts weiter. Nicht: Seele zu Seele. Nicht: Lernschritte im großen Zusammenhang.
Ganz praktisch gesprochen: Selbstverständlich sind das Mama und Papa. Aber: Sie sind vor allem Menschen – inkarnierte Spirits – mit Hausaufgaben! Und sie haben ihre Geschichte. Sie haben ihre Verletzungen, Ängste, etwas falsch zu machen, Vorsätze, etwas besonders richtig machen zu wollen – eben ihr Netz aus ihren Entscheidungen und Prägungen, in das sie sich eingewoben haben. Und alleine die Tatsache, dass ich geboren bin – so sehr beide ihre Liebe für mich haben – so sehr sind sie auch schon mit Wünschen und Erwartungen an mich unterwegs. Wir sind schon beschwert mit Bildern davon, wie wir zu sein haben. Und sei es nur der Fakt, dass ich ein Mädchen bin. Es sind unsere Ansprüche aneinander, die unausgesprochen zwischen uns liegen. Mit welcher Wucht das volle Menschenleben da auf einen einbricht, wenn man auf die Welt kommt!
Ich weiß, dass meine Eltern nicht frei sind, mich einfach nur unterstützen zu wollen und mich frei von ihren Erwartungen in die Welt hinein zu begleiten. Ich hab die beiden ja beobachtet und ausgesucht. Diese Gewissheit schrumpft allerdings mit jedem Tag. Mit jedem Mama- und Papa-Ausruf. Denn ich bediene damit immer das mein. Also den Besitz. Das ist wenig universell. Ich weiß, dass schon bei meiner Geburt auch bei ihnen eine ganz lange Liste von Do’s and Don’ts im Hintergrund stand. Ob die zu mir passen oder nicht, wird von ihnen nur nicht hinterfragt. Ob die zu ihnen selbst passen, haben sie vielleicht ebenso wenig hinterfragt. Weil man das nicht tut. Man ist nur mit Weitermachen beschäftigt. Nie aber mit Anhalten und Nachspüren oder gar Hinterfragen. Denn ob wir einfach weitergeben, was uns beigebracht wurde, oder ob wir es überprüfen und womöglich neue Wege gehen, das wäre eben wieder eine Entscheidung. Die treffen die wenigsten. Da soll noch einer sagen: junges Familienglück!
Während sich meine Intelligenz darauf beruft zu wissen, wann ich Hunger habe oder schlafen möchte – übrigens auch keine durch ein Studium erlangten Fähigkeiten, sondern das Wissen einer tiefen Körperintelligenz. Die Basis dieser Intelligenz hält mich auch noch sensibilisiert für diese Deals, die um mich herum ablaufen, und denen ich möglicherweise schon mit meiner Reinkarnation bereitwillig zugestimmt, oder sie wenigstens billigend in Kauf genommen habe.
In diesem Gefüge Familie haben alle ihre Kämpfe auszutragen. Wir sind alle mit Schablonen und Ansprüchen konfrontiert, die wir als Menschheit selbst kreiert haben. Was es beispielsweise bedeutet, eine gute Mutter zu sein? Alleine an dieser Frage arbeiten sich Generationen für Generationen ab. Vor allem hält sich die Frage hartnäckig. Weil man es »richtig« machen will, statt einfach nur zu »vertrauen«. Sehen Sie, wie sich dieses verteufelte Richtig & Falsch-Prinzip überall seine Plattform sucht? Als ob es eine Blaupause für’s Menschsein gäbe! So viele Menschen, wie es gibt, so viele Wege muss es geben, Mutter zu sein für das Wesen, das da gerade die Welt neu bzw. er-neu-t betreten hat. Dasselbe gilt für die Väter! Die Frage nach dem guten Vater ist ebenso Thema. Welche Aufgabe hat man als Mann überhaupt? Was ist Mann-Sein? Was bedeutet Intimität im väterlichen Dasein? Als Vorbild? Hat man da seine Finger in der Gestaltung der Erziehung oder nicht …? Alleine die Frage finde ich schon absurd. Wieso nicht? Natürlich sind zur Erziehung beide gefragt! Eigentlich sind alle gefragt, die unmittelbar mit dem Neuling zu tun haben. Erziehung ist eine gemeinschaftliche Angelegenheit, verantwortungsbewusst für das Ausdehnen der Persönlichkeit, dem Lernen und Abbarbeiten der Hausaufgaben dieses Spirits zu Seite zu stehen. Aber das Wörtchen »mein« im Zusammenhang mit »Kind« lässt uns eng werden und reduziert die Erziehung als Aufgabe für Mama und Papa. Damit geht es nicht mehr darum, was gebraucht ist, sondern wer es zu liefern hat. Welch eine Last für Eltern in diesem Modell der Trennung! Deswegen sind ja Eltern immer so stolz, weil sie da was geschafft – vielmehr geschaffen – haben. In dieser Welt der Einzelkämpfer. Sie haben diese Aufgabe gemeistert! Sie haben ein Kind zustande gebracht. Andere leiden ewig darunter, diesem Idealbild nie entsprochen zu haben. Egal, ob die Frage nach der perfekten Mutter oder dem perfekten Vater gestellt wird – diese Idealbilder machen es den werdenden oder seienden Eltern schwer genug. Wir machen es uns schon schwer genug. Verantwortung: Ja! Aber Überfrachtung?! Sobald die Autorität über die Antwort auf diese Fragen an das Außen abgegeben wird, an das Richtlinienprinzip derer, die das »Eltern-Sein« vorher schon absolviert haben, ist es verlockend und leicht für Folgeeltern, sich in diese Bilder hineinsinken zu lassen, der Bequemlichkeit nachzugeben, ihre Verantwortung abzugeben und einem bestehenden Rollenbild zu folgen, dem sie von nun an aber auch verhaftet sind. Im Hinblick darauf, dass wir alle zusammenhängen, sind wir damit hoffnungslos verloren. Wir drehen uns im Kreis …
Ich selbst habe keine Kinder. Aber Familien habe ich um mich herum. Und selbst die, die keine Kinder haben, sind ja selbst Töchter und Söhne. Auch denen ist dieses FamilienDings nicht fremd. Wir sind nicht ahnungslos, nur weil wir nicht selbst Kinder gezeugt, geboren und aufgezogen haben. Ich habe tiefen Respekt vor allen, die sich der Aufgabe des Eltern-Daseins stellen! Jede Mutter, die ich kenne, und das gilt auch für die Väter, sagt: »Ich fühle, was mein Kind braucht. Auch im Verhältnis zu anderen Menschen.« Unbedingt! Vertrauen Sie darauf! Tauschen Sie Ihre Autorität nicht gegen eine Unsicherheit ein, weil man Ihnen vielleicht gesagt hat, dass andere es besser wissen, Ärzte oder Lehrer oder andere berufene Autoritäten. Sie wissen es. Vielmehr: fühlen es. Halten Sie an. Spüren Sie nach. Nicht denken. Spüren. Sie kennen die Antwort.
Es ist nur die Ausrichtung auf ein Perfekt, eine Ich-habe-es-gemacht-Identifikation, die uns beständig antreibt und uns damit voll in die Bredouille bringt. Auch die perfekte Familie ist so eine an Emotionen, Bildern und Erwartungen überfrachtete Vorstellung! Es ist die Definition von Erzeuger, Nachkommen und Vorfahren. Blutslinien. Mögen oder Nichtmögen spielt hier oft keine Rolle. Respekt und Wertschätzung: soweit wage ich mich gar nicht vor. Wenn mein Vater gestresst aus dem Büro kam und wir Kinder rumgealbert haben, dann landete schon mal seine Faust donnernd auf dem Tisch, gefolgt von einem energischen »Silencio!« Kann man ja verstehen. Er war angespannt, und wir waren laut. Ich bin trotzdem jedes Mal zusammengefahren und hatte Angst. Angst vor dieser Gewalt. So hat es sich damals angefühlt. Meine Mutter nahm das, wenig begeistert, hin.
Unter dem Dach der heiligen Familie geschehen die unglaublichsten Dinge. Dafür, dass wir sie so hochhalten, geschehen – statistisch gesehen – interessanterweise die meisten Verbrechen im Familienverbund: häusliche Gewalt, seelischer und körperlicher Missbrauch. Bluttaten. Rachetaten. Kämpfe ums Erbe. In manchen Kulturen wird die Familie sogar zum Ort für Fehden, Mord und Verstümmelung, wenn etwas dem traditionellen Familienbild nicht entspricht. Da darf man das. Die Familie ist von außen unangreifbar, und wir – also die Familienmitglieder selbst – schützen sie entsprechend im Innenverhältnis. »Blut ist dicker als Wasser«, solche Sprüche zementieren das Bild Familie. Das ist eine ganz eigene Clubmitgliedschaft. Da wollen wir am wenigsten wahrhaben, wenn etwas schiefläuft. Es ist vertraut, familiär also. Und deshalb schauen wir gerne weg oder lassen uns täuschen. Da verzeihen wir weit mehr, als wir es je in Freundschaften täten. Die vermeintliche Sicherheit im Familienverbund, des Wir gegen die anderen oder die Gesellschaft, ist ein trügerisches Netz aus selbstgeschaffenen Idealen. Einmal verhaftet in diesem Bund, den wir auf die entsprechenden Beteiligten reduziert haben, sind wir ihm nahezu ausgeliefert. Zumindest als Kinder. Das Idealbild der perfekten Familie hat uns fest im Griff. Der Anspruch auf Perfektion kann allerdings nur scheitern. Wie eingangs erwähnt: Perfekt gibt es nicht! Denn die Welt dreht sich. Entscheiden Sie etwas, sind im nächsten Moment schon die nächsten Schritte angefragt. Es gibt keine Pausen. Von Moment zu Moment, Atemzug zu Atemzug vertieft sich alles. Nicht Perfektion, vielmehr Expansion. Das erfordert Präsenz und Wachsamkeit. Und vor allem Offenheit. Das Gegenteil zur Enge von manchem Familienporträt.