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Im wahrsten Sinne und mal mit Liebe betrachtet, ist Familie nämlich vor allem eins: Teamwork. Es ist eine ständige Gruppenarbeit. Ein möglicher Platz, um an unseren Hausaufgaben zu arbeiten. Von und mit allen Beteiligten – das sind definitiv nicht zwangsläufig alle mit derselben DNA – und ständig. Und das ist großartig! Weil ein jeder in seiner Essenz großartig ist! Es fordert von uns allen nämlich vorrangig eins: Die Erlaubnis an uns selbst, Fehler zu machen. Mir ist lieber, alles als Potenzial zu sehen. Mit Entscheidungen Erfahrungen machen zu können. An Lernaufgaben zu wachsen. Statt diese als Fehler zu betiteln. Seine eigenen »Verträge« aufzulösen, sich von Bildern zu lösen und die Größe einzunehmen, zu der oder dem zu stehen, die oder der man ist. Egal, was die Gesellschaft oder die Verwandten dazu sagen. Denn die Frage nach dem, was in jedem Moment die Wahrheit ist, kann uns eh niemand abnehmen. Da wir aber gerne bequem sind und es leichter ist, sich etwas abnehmen zu lassen bzw. abzugeben, suchen wir nach Orientierung im Außen. Dem »Normal«. Dem Hinterhertrotten. Der entscheidende Punkt aber ist, dass alles eine Sache des Vertrauens und der Bereitschaft ist, Verantwortung zu übernehmen – sich also von dem freizumachen, was oder wie andere über unser Handeln »urteilen« würden. Das Vertrauen in die innere Stimme aufgegeben zu haben, hat uns unfrei gemacht. Es ist folglich die Verantwortungslosigkeit, in der wir leben, in der wir Zuflucht suchen. Das klingt sarkastisch? Aber ist es nicht so, dass wir bei positivem wie negativem Ausgang einer Situation die Option schätzen, sagen zu können: »Das hab ich von soundso« (Buch, Lehrer, Freunde etc.). Vor allem bei negativem Ausgang finden wir gerne einen Schuldigen oder wenigstens einen Mitverantwortlichen. Weil uns oft nicht so gut schmeckt, selbst die Verantwortlichen zu sein! Das bevorzugen wir nach meiner Wahrnehmung nur aus einem einzigen Grund: Bei positivem Ausgang einer Situation warten der Ruhm und der Erfolg auf uns. Dann sind wir die Helden, werden ausgezeichnet, kurz: Wir werden gesehen. Das ist es, was wir so vermissen. Denn Wertschätzung scheint sich auf Bezahlung, Auszeichnungen und Erfolg zu reduzieren.
Ein kleiner Ausflug in die Praxis: Es gibt Menschen, die mit »Anomalien« zur Welt kommen. Ob physisch oder psychisch. Also: nicht normal: passt zu keiner Schablone. Das kann schon eine Fehlstellung in der Wirbelsäule sein oder ein nicht ausgebildetes Körperteil. Schon geht die Panik los: »Was haben wir (fragen sich die Eltern) falsch gemacht?« Was, wenn Sie, liebe Eltern, gar nichts falsch gemacht haben? Was, wenn einfach nur jedes Wesen genau die Form einnimmt, die es zur Weiterentwicklung braucht? Das meine ich mit der für den Verstand undurchdringlichen Ordnung, die zu akzeptieren uns so wahnsinnig schwerfällt. Ich komme beispielsweise mit einem »zu engen Hüftbild« auf die Welt, und man verpasst mir relativ bald eine Spreizhose, und meine winzig kleinen Füße werden eingegipst. Offenbar mochte ich das nicht besonders, denn diese kleinen Gipsstiefel habe ich konsequent am Fußende meines Bettchens kleingetreten. Die Entscheidung meiner Mutter, dem Rat der Ärzte in diesem Fall nachzugehen, sollte sich in dem Fall als eine gute erweisen, denn ich kann heute aufrecht und gerade laufen – ohne Hüftprobleme. Gut, ich habe keine Ahnung, ob ich mich auch ohne Spreizhöschen aufrecht entwickelt hätte, aber diese Entscheidung ist damals eben gefallen. In manchen Fällen wäre es vielleicht nicht die richtige Wahl gewesen. Was entscheiden wir beispielsweise, wenn ein Zwitterwesen geboren wird – Penis ab oder Uterus raus? Wonach wird diese Entscheidung gefällt? Womöglich nach dem, was uns nachträglich mit dem Gütesiegel »richtige Entscheidung« ausstatten wird? Wer immer über Richtig & Falsch dann urteilt …
Die Ausgangslage ist aus meiner Sicht: Unsicherheit, die wir mit dem Bedürfnis nach Sicherheit kompensieren. Es ist das Klammern an der Möglichkeit des Richtig. Angesichts des Wunsches nach Sicherheit ist es ja auch ein dickes Ding, die Herausforderung zwischen »Sich-Einlassen« und »Es-vermeintlich-im-Griff-Haben«, dem Richtig & Falsch, auszutarieren, letztlich das Bedürfnis nach Kontrolle immer mehr loslassen zu können. Denn die große Illusion – das ist das Gefühl von Sicherheit – hat uns alle irgendwann eingewickelt. Es beginnt mit dem ersten Erleben von Verletzung und damit dem Bedürfnis nach Schutz. Da nehmen wir die ersten Schritte in die Abhängigkeit. Jedenfalls ins Gefühl von Abhängigkeit. Beispielsweise zurück zu dem Moment auf der Brust meines Vaters beim Mittagsschlaf: Da bin ich – auf ganz menschliche Bedürfnisse reduziert – abhängig. Fakt. Ich »brauche« nun mal jemanden, der mich windelt, füttert, warmhält und mir hilft, mich zu entwickeln. Ich weiß, dass ich ohne die »Großen« aufgeschmissen bin.
Alleine der Gedanke macht mich allerdings nachhaltig traurig. Heute. Denn was ich verstehen kann – und es ging mir ja lange nicht anders –, ist, dass die Reduktion auf die vermeintliche Endlichkeit unserer Existenz und die damit verbundene Emotionalität in Beziehungen einem schier keine andere Wahl lassen, als sich diese als Fixpunkte zu suchen. Alles immer richtig machen wollen oder glauben, beeinflussen zu können: wissen zu können. Aus Angst um das Ende einer Beziehung, Panik, keinen Einfluss auf die Zuwendung oder Abneigung eines anderen zu haben.
Ich weiß. Das klingt unromantisch. Aber ich sage Ihnen: Genau das Gegenteil ist der Fall! Denn heute kann ich sagen, dass ich diese beiden Menschen mit Namen Martin und Inge, meine Eltern, wirklich liebe. Für das, was sie sind – wer sie in ihrem Wesen sind. Ihre Qualitäten. Nicht die Rollen, die sie versucht haben auszufüllen, also was sie je getan haben oder was sie mir gegeben oder nicht gegeben haben. Ich habe den Abstand gewählt und von da aus die emotionalen Verträge gelöst, die Abhängigkeit verlassen: das Mein–Dein–Band durchtrennt. Nur dadurch habe ich die wahre Liebe für sie wiedergefunden. Ich habe mich entschieden, sie wieder zu sehen. Das ist für mich schön. Und wahr. Romantik ist nur der menschliche Ersatz für die energetische Wahrheit von ehrlicher Liebe. Und die musste ich für mich zurückerobern, indem ich sicherheitsgetriebene Emotionen Stück für Stück erspürt, aufgedeckt und geheilt habe. Das war ein langer Prozess. Je mehr ich mich da herausgeschält habe, umso mehr konnten und können auch meine Eltern nachziehen. Das war deren freier Wille. Hätten sie ja auch bleibenlassen können. Denn zuvor hatten wir ja zu jedem bisschen Ja gesagt, das diese Abhängigkeit je begründet hat. Jede Verletzung, jeder Vorwurf wurde und wird auf seine darunter liegende Anspruchshaltung meinerseits überprüft. Heißt eigentlich nichts weiter, als dass ich meine Verantwortung wieder übernommen habe. Heilen sagt hier also nichts anderes als: loslassen. Damit konnte ich mich aus dem emotionalen Netz lösen, das all meine Beziehungen nachhaltig beeinflusst hat.
Alle …!
Das befreit ungemein. Ob Sie das als Tochter/Vater/Mutter/Sohn etc. wählen oder nicht. Fest steht aber, dass wir einander in voller Größe brauchen! Um an- und miteinander wachsen zu können. Und manchmal muss man dabei eben auch unbequem sein. Das heißt: die Bequemlichkeit des Bekannten, Gewohnten, Erwarteten überwinden. Liebe heißt vor allem: Grenzen zu setzen! Oder genauer gesagt: für mich und meine Grenzen einzustehen. Und das erfordert Mut. Mut, Nein zu den emotionalen Verstrickungen zu sagen und stattdessen die innere Anbindung an das Bewusstsein aus dem Körper heraus als solides Fundament zu etablieren. Kurz: mir also treu zu sein. Und damit »gefühlt« gegen den Strom zu schwimmen. Und das ist innerhalb der Familie oft sehr herausfordernd, weil man schon lange und tief drinsteckt. Auch außerhalb von Familien.
Apropos schwimmen. Zum Thema Papa & Tochter möchte ich ein Erlebnis mit Ihnen teilen. In den vergangenen Tagen war ich schwimmen. Und wie ich da so zum Abschluss noch am Rand des Beckens meine Wassergymnastik (sehr zu empfehlen übrigens) mache, betritt ein Mann mit seiner Tochter die Schwimmhalle. Die Kleine reicht ihm kaum bis zum Knie und ist mit ihrer Aufmerksamkeit voll bei ihrem Papa. Die beiden kommen also in das 25-Meter-Becken. Der Vater hangelt sich am Beckenrand entlang, während das kleine Mädchen brustschwimmenderweise darum kämpft, das andere Ende des Beckens zu erreichen. Eine kleine weiße Badekappe ragt da aus dem Wasser. Kaum ist das Kind am Ende angekommen, fallen vom Vater, der einen sanften und liebevollen Eindruck macht, folgende Worte: »Fein, mein Schatz! Dafür bekommst du nochmal zwei Herzen und Pferdeaufkleber für dein Album. Ganz toll!« Das Kind freut sich sichtlich – zittert dabei allerdings wie eine Pappel im Wind. Die Lippen schon blau. Der Vater: »Schaffst du noch eine Bahn?« Das Mädchen mit klapperndem Kiefer: »Ja, Papa!« Die beiden zogen also von dannen. Ich spüre noch einen Moment lang nach, was ich da gerade erlebt habe. Und mir kommen die Tränen. Definitiv hat der Vater nichts falsch gemacht. Es gibt ihm nichts vorzuwerfen. Er bringt seiner Tochter das Schwimmen bei. Aber was ich tatsächlich wahrnehmen konnte, war, wie ein Vater seiner Tochter beigebracht hat zu überleben. Auch wenn der Körper bibbert und bebt, die Erschöpfung schon spürbar ist, gilt: weitermachen. An die Grenzen und über sie hinaus. Es gibt auch für alles eine Belohnung. Und ob es für das Mädchen gestimmt hat oder nicht, haben beide überhaupt nicht hinterfragt oder überprüft. Der Mann hat nicht mal gesehen, dass seine Tochter nur im Erfüllungsmodus für Papa ihre Bahn abgestrampelt hat. Atemnot, Panik und Kälte wurden vollkommen ignoriert. Und nicht, weil es aus Böswilligkeit geschah, sondern einfach nur, weil man es so macht, weil ein tradiertes Muster nicht überprüft wurde. Die Qualität dieser Lehrstunde des Lebens war deutlich. Dem Mann hat man das Schwimmen vermutlich genauso beigebracht, und so hat er es wiederum seiner Tochter weitergegeben. Der Vater selbst war gefangen in dem, was er einst gelernt hat. Das war für mich so offensichtlich. Und das Mädchen wollte dem Papa gefallen und gesehen werden. Hauptsache überleben – das war die Einigung der beiden. Wenn auch für die beiden alles andere als offensichtlich. Das ist ja das Gemeine an unbewussten Strukturen – dass sie uns eben nicht bewusst sind. Nicht sichtbar sind. Denn mein Auge hätte keinen Fehler finden können. Aber ich konnte fühlen, das Unbewusste spüren. Und so wurde für mich an diesem Beispiel sichtbar, wie wir ständig ungefiltert Traditionen oder Lehren weitergeben, ohne sie je überprüft zu haben. Wir ergeben uns dem Funktionieren, dem So-macht-man-es-halt.
Das meine ich mit der »Arbeit«, die es für uns zu leisten gilt: den Blick weit zu halten und die ständige Bereitschaft zu kultivieren, auch zu hinterfragen. Nicht nur mein Papa, meine Mama, meine Familie zu sehen. Stattdessen: uns immer wieder zu öffnen, neu hinzuschauen, offen für uns selbst und unser Gegenüber zu bleiben. Sich von Urteilen und Schablonen freizumachen und also auch sich selbst nicht ständig zu verurteilen, wenn mal was nicht so läuft. Oder sich nicht zu überschätzen, weil mal was richtig gut läuft. Das ist wahre Stärke aus meiner Sicht. Nicht dieses protektive »Ich-kann-alles«– Gehabe.
Ich sage nicht, dass wir alles über Bord werfen und nur noch im Schäfchenwölkchenland rumtanzen sollen. Im Gegenteil. Füße auf den Boden und Augen auf. Vielmehr: Herz auf. Was nehmen wir wirklich wahr?!? Und: stehen wir auch dazu? Erfahrungen und Prägungen zu hinterfragen und dann auch noch zu überwinden, ist eine Aufgabe! Allein, was Verletzungen in Kindheit oder Partnerschaft schon alles angerichtet haben! Aber eines sage ich Ihnen: Einmal der Wahrheit wieder zugewandt, dass alles zusammenhängt, haben Sie gar keine andere Chance, als Eigenverantwortung zu übernehmen. Und auch andere um Unterstützung zu bitten, wenn Sie mal nicht weiterkommen. Andere haben Ihnen wehgetan? Ja! Definitiv. Mir auch. Aber haben Sie entschieden, die Lernaufgabe darin für sich zu verstehen, oder haben Sie entschieden, an dieser Verletzung festzuhalten? Es zu Ihrer Verletzung zu machen? Die jetzt Ihnen gehört. Zu Ihnen gehört. Möglicherweise ewig die Entschuldigung dafür sein wird, dass Sie sich nicht wieder einlassen, nicht wieder vertrauen können …? Verstehen Sie, was ich sagen will: Wir Entscheiden! Wir sind weder Opfer noch Täter. Es gibt Situationen, da möchte man nicht mehr an Gerechtigkeit oder Zusammenhänge glauben. Aber eines ist sicher: Alles kommt zu einem zurück. Niemand ist dafür da, den Dreck von anderen aufzuräumen. Das muss schon jeder selbst machen. Das ist, als würden Sie selbst mit einer Handlung einen Dominostein anstoßen, und durch die Kettenreaktion fällt Ihnen irgendwann wieder einen Klotz auf den Kopf. Das mag sogar manchmal erst in einem anderen Leben sein. Oder statt im Beruf dann in der Gesundheit oder der Beziehung – an einer Stelle, die Ihnen zunächst zusammenhanglos erscheinen mag. Aber die Quittung kommt. In beide Richtungen. Das gilt auch für die Liebe und die Wahrheit, die Sie bereit sind zu leben. Das Universum vergisst oder verliert nichts. Das Schöne an diesem weiten Bogen rund um das Zentrum der Eigenverantwortung ist, dass es tausend kleine Momente gibt, die uns immer wieder zum selben Rückschluss kommen lassen: Es liegt bei Ihnen. Das ist, wie durch Frankreich zu fahren und alle Wege beschildern die Richtung: Paris. Egal, von wo Sie auf die Dinge schauen: Es kommt immer wieder zu Ihnen zurück …
Mit unserem Hirn können wir so unendlich viel entschuldigen, begründen, verteidigen oder erklären – um eben nicht fühlen zu müssen. Diese sich ständig wiederholende Art des Denkens, des Entschuldigens und Sich-wieder-Verstrickens ist die ultimative Medizin, um die Trennung vom großen Ganzen nicht fühlen zu müssen. Die schnelle Lösung. Aber langfristig nicht die ultimative Antwort. Diese Trennung erfahre ich damals als Kind im Nachmittagsschlaf auf der Brust meines Vaters nicht. Da schlafen wir eben beide satt und wohlig. Mein Pa und ich. Aber auch ohne, dass wir das damals vielleicht wollten, wussten wir schon: Da gibt es viel zu tun …
Primaballerina in XL
… viel zu tun! Das ist ein Ausspruch, der das Leben prägt. Ständig. Egal, ob wir dem nachgehen oder nur im Stress sind, weil es so viel zu tun gibt und wir eigentlich gar nichts wirklich dabei tun, außer gestresst zu sein. Dieser Stress des Tuns beginnt ja schon, sobald wir plappern oder laufen können. Da sind sie wieder: die lustigen Bilder oder Ideen der anderen, was wir alles werden sollen. Die Ideen von unseren Mamas und Papas. »Arzt soll er werden oder Künstler.« In meinem Erleben beginnt die Bildung irgendwann mit Blockflöte und Klavierunterricht. Um die Blockflöte komme ich drumrum. Gott sei Dank! Zumindest muss ich nicht selbst drauf rumkauen. Meine Schwester aber. Also bleiben wir vom Klang dieser Tröte doch nicht verschont. Wenn jemand die wirklich spielen kann, ist das ja schön. Aber das Üben …? Unser Hund Anke hat immer schauerlich gejault, wenn »Üben« dran war. Naja. Das Klavier war mir vertrauter. Denn mein Held, mein Papa, spielt auch auf dem Ding. Also lerne ich das auch. In einer Musikschule. So richtig mit Fünf-Mark-Stücken auf den Handrücken und Gerade-Sitzen usw. Bis zu dem Tag, an dem ich die Gershwin-Noten meines Vaters in den Unterricht mitbringe. Das möchte ich spielen lernen! »So etwas unterrichte ich nicht!«, sind die erschütternden Worte meiner Musikschullehrerin. Ein Todesstoß für meine Karriere als Jazzerin. Und auch für die Freude an dem, was mir gefällt – oder womit ich gefallen wollte. Das kann ich schon langsam nicht mehr auseinanderhalten. So oder so: Es trifft mich hart. Ich spiele zwar weiter, aber das hat irgendwie mehr mit »eine gute Tochter sein« zu tun. Und dem berühmten »Spiel mal was vor« (kam nicht oft, aber dennoch). Kennen Sie das? Das ist ähnlich wie: »Sag mal dem Onkel Hallo!« Was aber, wenn ich den Onkel nicht mag, dem also nicht »Hallo« sagen will? Oder gerade nicht den Entertainer am Klavier geben möchte, um der Tanzbär für die Anwesenden zu sein? Damit die humanistische Erziehung meiner Eltern Anklang bei den Zuschauern findet? Mal ehrlich: Welchen anderen Zweck sollte so eine Forderung der Eltern an ihre Kinder sonst haben? Sie ist die Folge eines Familienideals, dem man entsprechen möchte. Wie man gesehen werden möchte. Mehr nicht. Genauso wie die Nummer mit »dem Onkel Hallo sagen«. Mag ich nicht, weil ich fühle, dass mit dem was nicht stimmt. Kann auch meine Tante oder ein Nachbar sein. Nicht, dass jetzt gleich die Schublade »böser, perverser Onkel-Fantasie« aufgeht. Da ist einfach jemand, dem möchte ich nicht »Hallo« sagen. Ich möchte nicht auf Kommando lachen oder Klavier spielen. Darf das einfach so stehenbleiben? Nein. Also meinem eigenen Gefühl zu folgen, ist nicht so up to date. Und weil die Enttäuschung der Großen im Falle der Verweigerung nach einer solchen Aufforderung so niederschmetternd ist, als hätte ich sonst was falsch gemacht, zwinge ich mich – überschreibe mein wahres Gefühl – und gebe brav die Hand. Esse, was man mir gibt. Sage »Danke« und »Bitte« und »Hallo« und »Auf Wiedersehen«, wie es sich eben gehört. Innerlich weine ich gerade, denn das sind all die kleinen Momente, in denen ich einen kleinen Schritt weiter von mir weggegangen bin. Einen Schritt hin zu der vermeintlichen Wahrheit, den Regeln anderer. Ob die für mich stimmen oder nicht. Hauptsache, ich bin noch Teil dieses sozialen Gefüges, in dem ich versorgt und »geliebt« werde. Ich werde mittels meiner eigenen Entscheidungen mehr und mehr zum Tanzbär … Autsch.
Ich erlebe um mich herum, wie alle das machen. Meine Freunde, meine Schwester, meine Eltern, jeder. Jeder vielleicht auf eine andere Art. Die einen ziehen sich zurück. Die anderen werden laut. Die nächsten werden ganz besonders fleißig, und wieder andere stellen so viel Zerstörerisches an wie nur möglich. Auch eine Art zu brüllen, wie ich im Kindergarten damals.
Naja.
Es gibt ja noch andere, schöne Dinge, die man machen kann. Sport zum Beispiel. Meine ältere Schwester Martina geht ins Ballett. Super! Das versuche ich auch. Nur ist sie eine schlanke Gazelle, und ich habe mich noch nicht »gestreckt«, wie es heißt. Kurz: Ich bin pummelig. Und so erfahre ich auch hier eine jähe Zurückweisung: Ich hopse im Ballett fröhlich mit, turne und liebe mein rosa Outfit. Andere sagen, ich sehe etwas gepresst aus in meinem Tutu. Wieder kommen diese Urteile, bereit, meine Freude an den Dingen zu zerschmettern. Aber ich tanze mit, voller Freude – bis zu jenem Tag einer Aufführung unserer Ballettgruppe … Meine zarte Schwester darf in der ersten Reihe tanzen, »das Pummelchen muss in die letzte Reihe«. Damit bin ich gemeint. Da schneidet das tragische Ausmaß des menschlichen Zusammenlebens und Urteilens tief in mein Fleisch. Ein ganzes Kapitel unserer Menschheitsgeschichte offenbart sich mir in diesem einen Moment. Zwei ach so bezaubernde kleine Wesen – zwei Schwestern – werden: verglichen. Und ob wir das wollen oder nicht: Meine Schwester und ich werden auf das Kampfgebiet der Konkurrenz geschleudert. Die Gazelle und die Primaballerina in XL. Das trifft. Wieder so eine Bewertung, die die anderen vollzogen haben. Und die glauben auch noch, dass sie das »Recht« dazu haben! Wer fragt uns denn, ob wir das wollen? Ich finde das grauenvoll. Ich weine. Ich fühle, dass hier was absolut ungerecht ist. Meine Schwester fühlt sich ebenfalls mies, weiß aber gar nicht so recht, wieso. Denn sie mochte die erste Reihe. Kann sie ja nix dafür, dass ich moppelig bin. Aber dass ich weine, mag sie nicht …
Dieses Schwestern-Ding ist für uns beide eh schon so eine Aufgabe. Seit meinem »Ankommen« ist sie ja nicht mehr die Einzige, die im Fokus steht. Da kam ich eben dazu. Mein Erscheinen hat auch sie vor eine Neuerung gestellt. Nicht, dass meine Schwester ein egozentrisches Biest mit narzisstischen Einschlägen wäre. Definitiv nicht! Aber versetzen Sie sich mal in ihren Wahrnehmungshorizont: Da ist man in dieser Blase des alleinigen Fokus. Das erste Enkelkind im Familienclan überhaupt. Und auf einmal kommt noch wer. Ganz simpel: Ab jetzt wird geteilt. Ob man das mag oder nicht. Vom Eis bis zur Aufmerksamkeit der Eltern. Die einen können das gut wegstecken – die anderen eher nicht so. Da wir heute ein außerordentlich liebendes Verhältnis haben, wird sie es mir nicht übelnehmen, wenn ich die eine oder andere Episode erwähne, die sich auf unserem Weg zugetragen hat. Also Lernmomente, die wir als Team in unserem Familienverband durchgemacht haben. So prägt beispielsweise bis zum heutigen Tag die Saga unserer Familienanekdoten die Beobachtung meiner Eltern, dass meine Schwester gerne mal in einem unbeobachteten Moment ihren kleinen Kinderdaumen in meine Fontanelle gedrückt hat (das ist die weiche Spalte oben am Schädel). Worauf ich natürlich geplärrt habe, was wiederum die Aufmerksamkeit der Erwachsenen auf uns gezogen hat – und meine Schwester unter Streicheln meiner Wangen tiefe schwesterliche Liebe hat bekunden können. Gemein, finden Sie nicht? Wir müssen aus heutiger Sicht tatsächlich darüber lachen, denn die Situation ist doch total klar. Die bisher ungeteilte Aufmerksamkeit von gleich zwei Menschen muss wiederhergestellt werden, oder zumindest muss erstmal ausgelotet werden, wer wo seinen Platz hat. Und da ist eine gewisse Form des – ich nenne es mal – Konkurrenzprinzips verständlich. Nicht, dass ich das Verhalten entschuldigen möchte! Hat ja wehgetan! Aber ich kann sehen, was dieser drohende Aufmerksamkeitsverlust ausgelöst hat. Da war erst ein Gefühl von Sicherheit: »Mama und Papa sind nur für mich da.« Und auf einmal ist da noch wer. Das beweist ja konsequenterweise nur, dass auch meine Schwester ein Wesen ist, das irgendwo Verträge eingegangen ist. Besitzansprüche entwickelt hat. Meine Eltern, nicht Unsere. Es ist eben nicht nur meine Schwester, sondern wieder ein Mensch – mit Entscheidungen. Sie ist ebenfalls bewegt und belegt von Erwartungen, Bildern und Identifikationen. Und ob sie es wollte oder nicht – vielleicht hat sich da eine Eifersucht eingenistet. Jedenfalls in den Kindertagen. Je nach Gemütszustand, also Wahl der entsprechenden Frequenz, traf mich entweder ihre Liebe oder eben irgendwas anderes. Vice versa, wie sich von selbst versteht. Ich beispielsweise habe entschieden, sie als die Große anzunehmen. Auch alles andere als auf Augenhöhe … Ihr bin ich gefolgt. Ich bin vor ihrer gelegentlichen Dominanz eingeknickt und habe sie idealisiert. Höher gehalten. Weg von der Augenhöhe zwischen uns. Sie ist die Ältere. Beispielsweise gab es in unserem Familienverbund auch einen Hund: Anke. Und wer den Kopf und wer das Hinterteil streicheln durfte, das hat sie entschieden. Wenn sie mir das gesagt hat, war ich eben für den Po und nicht die weichen Ohren zuständig. Eine willensstarke Persönlichkeit! Da es mir aber an Willen ebenfalls nicht gemangelt hat – oder vielleicht waren wir beide einfach nur stur …? – haben wir uns später auch ganz schön gekloppt! Eines muss ich dazu sagen: Wir lieben uns. Und es gilt hier, nicht sie zum Übeltäter zu machen. Im Gegenteil. Wir haben uns eben manchmal auf dem Spielfeld der Individualität gemessen. In anderen Momenten der Verbundenheit haben wir liebend Händchen gehalten und gemeinsam das Dschungelbuch gehört. Oder mit Papa »Auf der schwäb’schen Eisenbahn« geträllert. Es ist hilfreich, das alles so aufzudröseln, denn es macht so viel sichtbar. Gäbe es nämlich nicht die Aufmerksamkeit der Eltern, dieses ganze emotionale Paket rund um den Begriff Familie, gäbe es auch nicht das Bedürfnis nach Individualität, Aufmerksamkeit und Belohnung. Wir würden vielleicht nur Händchen haltend nebeneinander hertraben und unbeschwert durch den Tag trotten. Stattdessen gibt es für uns die Ballettschule. Ab dem Tag nicht mehr. Jedenfalls nicht für mich. Ich weigere mich. Das Tutu landet in der Ecke. Macht nichts! Gibt ja noch Tennis.
Aber auch da hat naturgemäß Martina schon zuerst die Füße auf den Platz gebracht. Sie ist ja die Ältere. Und siehe da: Sie ist großartig darin! Ein Ansporn und Vorbild für mich, das auch zu können. Diese Aussage ist natürlich schon tief verblendet durch die Kraft der Konkurrenz. Aber da ich das nicht sehen kann, weil ich schon tief drin verwickelt bin, ist es eben meine Lebensrealität. Das mit dem Tennis läuft soweit also ganz gut. Trotz meiner leichten X-Beine treffe ich die Bälle und tue mein Bestes. Aber auch das findet ein jähes Ende. An dem Tag, an dem ich die Hoden meines Trainers abgeschossen habe. Ich schwöre: Das kann man nicht absichtlich! »Hecke! Runter vom Platz!! Ich will dich hier nie! wieder! sehen!« Hm. Also fand auch meine Tenniskarriere ein abruptes Ende. Dick und ungeschickt. Es sind andere, die über mich richten.