100.000 km zwischen Anchorage, Neufundland, dem Pazifik und New Mexico - Teil 2

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Gegen Mittag hat der Regen aufgehört, doch Davids Feuer ist sehr willkommen, als wir im Hochwald pausieren, dessen Boden mit Moosen, Farnen und kleinen Sträuchern bewachsen ist. Neben unserer Lichtung rauscht ein stürmischer, breiter Bach mit viel Gefälle vorbei, den man wohl besser als River bezeichnet. Oberhalb seines Ufers hat David ganz schnell einen dürren Baum zusammengesägt, der schon wohlige Wärme verströmt, als wir uns alle mit Mittagsbroten, heißem Kaffee und klammen Fingern im großen Rund um die Flammen versammeln. Wirklich nass sind wir zwar nicht geworden, denn die Regenkleidung hat gehalten, was sie versprach, dennoch, die Wärme tut gut. Nur Willie scheint weder sie noch eine Pause zu brauchen, denn er springt immer wieder hinunter zum Bach und wartet im seichten Wasser darauf, dass jemand mit ihm spielt. Rio sieht das ganz anders. Er legte sich sofort in das Huckle-Berry-Kraut – die Frucht ist eine Art sehr wohlschmeckende große Heidelbeere – und belauscht, mit dem Kopf auf den Vorderpfoten, von unten heraus das Geschehen an der Feuerstelle. Vielleicht beobachtet er dort aber auch nur ganz verwundert John, der, auf einem Baumstamm sitzend die nackten Füße auf einen großen Stein stützt und seine Socken und Wildlederhalbschuhe an zwei langen Stöcken Richtung Feuer hält, um sie zu trocknen. Ein köstliches Bild, doch „eine solche Ausrüstung“ gehört überall hin, nur nicht auf einen Trailritt.
Wieder im Sattel führt der Weg weiter bergab. Links der Bach in seiner immer größer und tiefer werdenden Schlucht, rechterhand zieht dichter Wald nach oben und lässt uns wenig Raum. Hier geht es aber nicht anders, und als wir wieder vom Gewässer abdrehen und versuchen, den besten Weg im Gänsemarsch durch den Wald nach unten zu finden, kommt der Tross zum Stehen. David ruft nach der Motorsäge und Axt. Das hatten wir schon mehrfach, aber dieses Mal sieht es ziemlich wüst aus, was da vor uns über- und durcheinander den Weg versperrt. Außerdem ist der Hang ziemlich steil, durch den Regen rutschig geworden und mit vielen dicken Wurzeln durchsetzt. Wir Männer sitzen ab, stellen die Pferde quer und helfen David und Paul in den nächsten dreißig Minuten das Windbruch-Chaos soweit zu beseitigen, dass auch die Packpferde durchkommen. Die restlichen Stunden verlaufen unkompliziert. Wir reiten zunächst durch ein langes Tal, dann über eine letzte Anhöhe und erreichen das Smoke House am Tanya Lake bei schönstem Sonnenschein. Auf den letzten Kilometern nach hier wurden auch die Schritte unserer Pferde immer freier. Sie waren zwar in diesem Jahr noch nicht hier, aber sie kennen die herrlichen Wiesen, die sie hier erwarten. Wir sehen das mit einem lachenden und einem weinenden Auge, weil unser Ritt hier zu Ende geht. Wir würden gern noch weitermachen, ohne Wenn und Aber, und ohne Ausnahme. Auch unter dem Gesichtspunkt, dass wir heute das Wetter aller vier Jahreszeiten kennengelernt haben und wissen, dass das jederzeit wieder so sein könnte. Wirklich gestört hat es uns aber nicht, und es war auch unter diesen Bedingungen eine runde Sache und ein toller Tag, so wie der gesamte Ritt.
Die Schwarzen Berge, das Mackenzie-Tal und der Grease Trail, auf dem einst die Küstenindianer mit Fischöl ins Innere des Landes zogen, um ihre Ware gegen Felle einzutauschen, waren Stationen, der Tanya Lake unser Ziel. Dazwischen lagen alpine Wiesen, Sümpfe, Bäche, Flüsse, Wasserfälle, Geröll- und Steinfelder, tiefste Wälder, Schluchten, steilste Hänge, Moränen, glatter Fels, dichtes Unterholz, Hochebenen mit Weidenbüschen, die Ross und Reiter verdeckten oder die Rainbow Mountains, eine Droge, die die Augen beruhigte. Unser Weg war voller Stille, Schönheit, Weite und menschenleer. Unsere Pferde, die keinen Stall kennen, waren großartig. Auf der Hinterhand rutschten sie mit absoluter Sicherheit in tiefe Gräben, oder übersprangen sie, wenn ihnen das ratsamer erschien. An Hängen mit Wurzeln, Steinen, Baumstämmen waren sie in der Lage, ihre Richtung mit dem nächsten Schritt um 180 Grad zu ändern, und dennoch sicher aufzufußen. Wurde es abwärts glitschig, kannten sie die Festigkeit des Gebüschs und wichen nach dort aus. Stets aber vorsichtig, und nur in der Not mit einem ordentlichen Satz. Und hatten sie am Wasser Flussbettzustand und Tiefe erkannt, ging es mit aller Ruhe zielstrebig weiter. Diese Pferde, Quaterhorses oder Kreuzungen mit ihnen, waren in keiner Situation hektisch oder unsicher, und eigentlich suchten sie sich ihren Weg ganz allein. Ihre Tritt- und Geländesicherheit, ihre Ruhe waren verblüffend. „Reiten können“ muss man nicht unbedingt, um sich mit ihnen die Natur zu erschließen. Es reicht, mit Pferden vertraut zu sein, oder ihnen das Vertrauen ganz einfach nur zu schenken. Normal gute Fitness, keine Angst und sich den rustikalen Gegebenheiten anpassen zu können, sind für ein solches Abenteuer jedoch unerlässlich. Morgen- und Abendtoilette am Bach und im Busch gehörten ebenso zum Erlebnis, wie die Nachbarschaft zu Bären und Elchen und die Abende am Lagerfeuer, wenn nach getaner Arbeit so manche Geschichte die Runde machte. Von David erfuhren wir sehr viel über seine Vorfahren und Ansichten zur Natur und ihren Geschöpfen. Und wir stellten fest, dass nicht nur ein Europäer von diesem großartigen Charakter noch sehr viel lernen kann.
An diesem Abend wird das „Smoke House“ – neun Jahre später fast zugewachsen – zum Mittelpunkt unseres Camps. „Haus“ ist übertrieben, denn das mit Rindenschindeln abgedichtete Baumstammdach ruht lediglich auf acht Pfählen, vielmehr gibt es nicht. Die Tanya Lakes jedoch, auch bekannt als Long Lakes, waren etwa viertausend Jahre lang für die Ulkatcho Indianer und ihre Nachbarn ein wichtiger Treffpunkt, wenn in jedem Juli die Steelheads und Spring-Salmons vom Dean River kommend den Takia hochschwammen, um ihre Laichplätze zu erreichen. Dann versammelten sich die Ureinwohner an den Fällen, um ihren jährlichen Fischbedarf, der an Ort und Stelle geräuchert und getrocknet wurde, zu decken und feierten auch ein großes Fest. Sie kamen sogar von so weit entfernten Orten wie Nazko und Kluskus im Osten, von Burns Lake und Choslatta im Norden, vom Chilcotin im Süden und Bella Coola im Westen. Der Fischfang galt gleichzeitig auch als wichtiger sozialer Treff, denn das ganze Jahr über lebten diese „Native People“ in kleinen, isolierten Familiengruppierungen. Hier konnten sie sich ihre Geschichten teilen, handeln, und ihre traditionellen Spiele und Riten gemeinsam zelebrieren. Damit wurden diese Seen für sie auch zu einem wichtigen kulturellen Ort. Als Chief Jimmy Stillas, der letzte Häuptling der Ulkatchos, 1987 diese ererbten, traditionellen Rechte seines Volkes auch öffentlich geltend machte, campten mehr als zweihundert Leute seines Stammes eine ganze Woche lang am See und feierten ihr Fest.
Das Smoke House hat sich seit damals auch kaum gewandelt. Unter seinem Dach hängen nur einige neue Utensilien, die David oder Wanderer nach hier brachten, wenn sie unter ihm rasteten, um danach ihren Weg auf dem nahen „Mackenzie Heritage Trail“ fortzusetzen. Dessen 420 Kilometer beginnen in der Nähe von Quesnel am Blackwater River und erreichen nach 300 Kilometer durch das Interior Plateau auch den Tweedsmuir Park, den er am Highway 20 wieder verlässt, um Bella Coola zu erreichen und den letzten der 1.800 Höhenmeter hinter sich zu bringen. Für die restlichen 65 Kilometer der historischen Route braucht man dann allerdings ein Boot, denn der Sir Mackenzie Provincial Park, der den „Mackenzie Felsen“ schützt, liegt am Nordufer des Dean Channels. 2010 hatten wir diesen Felsen auch auf dem Programm, aber als unsere Fähre in Ocean Falls ankerte, hatte der Himmel alle Schleusen geöffnet und machte diesen kurzen Ausflug unmöglich. Der landschaftlich schönste Abschnitt auf dem „Mackenzie-Pfad“ sind jedoch die 80 Kilometer durch den „Tweedsmuir“, wo der Wanderer im Juni und Juli aber noch mit Schneefeldern und vollen Flüssen rechnen muss. Diese Tour ist allerdings eine schwere, und eine genaue Beschreibung gehört so zwingend ins Gepäck, wie die zahlreichen Abschnittskarten und ein GPS-Gerät. Mackenzie folgte diesen Indianerpfaden 1793 und erreichte das Bella Coola Tal nach vierzehn Tagen. Für ihn war es der letzte Abschnitt, um Kanada komplett, von „See zu See“, auf dem Landweg durchquert zu haben. Heute folgen begeisterte Wanderer seinen Spuren, die sich Teile, abzweigende Touren oder auch den gesamten Weg, den auch erfahrene Buschmarschierer nicht unter drei Wochen schaffen, zum Ziel setzen. Dank der Wasserflugzeuge lassen sich Ein- oder Ausstieg zwar wesentlich erleichtern, und auch bärensichere Verpflegungsdepots anlegen, doch der Tweedsmuir-Provinzpark ist reine Wildnis und nichts für „Anfänger“ ohne Führer. Hitze, Schneesturm, Regen, schweres Gelände und Flussdurchquerungen sind aber auch dann zu überstehen, um diese Herausforderung als großartiges Erlebnis zu meistern.
Der Standplatz des Smoke Houses war strategisch gut gewählt, weil sich hier einige der wichtigsten Indianerpfade früherer Zeit treffen. So gehören der „Nuxalk Carrier Grease Trail“ und der „Rainbow Valley Trail“, die beide von den Pfaden „Ulkatcho Bella Coola “ und „Salmon House“ gekreuzt werden, heute zur „Mackenzie Heritage Route“. Und warum „Grease Trail“? Weil über diese Pfade das Fischöl der Küstenindianer in das Innere des Landes getragen wurde, das als Nahrung oder Medizin Verwendung fand. Gewonnen wurde es von dem zwanzig Zentimeter langen „Euchlachon“ (silberne Seiten, brauner bis schwarzer Rücken), den die Eingeborenen auch „Saviour-Fish“ (Retter, Erlöser) nannten, weil er der erste war, der nach einem langen Winter die Flüsse hochschwamm und das Hungern beendete. Die ersten Siedler bezeichneten diesen Dünnling, der, im getrockneten Zustand wie eine Kerze fungierte, auch Candle-Fish.
Für uns war das „Räucherhaus“, auf dessen Wiesen wir die Zelte ein letztes Mal aufschlugen, ebenfalls ein wunderschöner Platz. An drei Seiten von Wald begrenzt eilt der Blick nach vorn über die Wiesen und hinunter zu dem See mit seinen schilfbewachsenen Ufern und Wasserarmen Und ganz in der Nähe rauscht auch noch ein Wasserfall. Das stimmt friedlich und ist Balsam fürs Gemüt. Ein wenig Wehmut schleicht sich bei diesem sanften Anblick aber auch ein, denn morgen, am späten Nachmittag, wird die Beaver auf dem See landen und uns abholen. Die Pferde werden wir früh am Tag noch einmal satteln, aber danach geht er hier, am südlichsten der drei in einander übergehende Tanya Lakes, unwiderruflich zu Ende, der kurze Traum vom Tweedsmuir Park. Aus diesem See entspringt auch der Takia River, der nach zwanzig Meilen seine Wasser dem Dean-Fluss übergibt. Und unweit dieser Mündung liegen mit den „Salmon House Falls“ auch die einstigen Fischgründe der Indianer dieser Region. Ihren Namen verdankten die Fälle den vom Wasser ausgespülten Felshöhlen, in deren ruhigem Wasser sich die Lachse ausruhen, ehe sie den Fall überwinden. Der Weg nach dort ist allerdings beschwerlich und führt über sehr zerklüftetes Terrain, so dass unsere Zeit dafür nicht mehr ausreicht.
War es überhaupt wichtig, dass der „White Man“ eine Landroute zum Pacific zu finden suchte, wenn es schon andere Einwohner gab, die hier seit der Zeiten der Gletscher zu Hause waren? War es richtig, dass sie Mackenzie und seinen Leuten als Gastgeber dienten, sie verpflegten und ihnen den Weg zur Küste zeigten? Mit dem weißen Mann, der ihnen den Namen „Indians“ gab und sich damit geographisch um „eine halbe Welt“ irrte, kamen praktische Handelsgüter, aber auch die Pocken, Geschlechtskrankheiten und Alkohol in das Land, das ihnen größtenteils auch noch genommen wurde. Wenn die ersten Schritte der Europäer noch eine Art Blick ins Paradies waren, begannen sie mit ihrem Betreten dieses auch gleich zu zerstören, als sie in eine intakte Wildnis massiv eingriffen? Erst wurden die Büffel, dann die Bieber fast ausgerottet, und auch mit den Eingeborenen, von denen viele durch die fehlenden Büffel ihre Lebensgrundlage verloren, wurde nicht zimperlich verfahren, ehe Holzschlag und seine Abfahrtwege, Stromleitungen oder Allrad-Trucks ihre Spuren hinterließen. Gut, dass der Mensch gelernt hat umzudenken. und nun versucht, beides in Einklang zu bringen, die Erhaltung der Natur und seine eigenen Interessen. Für die Indianer ist der Mackenzie-Trail, auch Grease Trail oder West Road genannt, keine Errungenschaft des „Weißen Mannes“, sondern ein „Non-Event“, denn letztlich ist es ihr Pfad, der einer ihrer uralten Verbindungen im Trailnetz des kanadischen Westen war. Dass man sich darauf besann, solche Gebiete zu schützen und auch die Ureinwohner daran teilhaben zu lassen, muss als kluge und mutige Entscheidung gelten, doch wenn die Besucher der Nationalparks nicht begreifen sollten, dass die Natur nicht allein auf diese beschränkt ist, dann hätten wir verloren.
Nach einem ersten „Ankunfts-Kaffee“ hatten wir alle mitgeholfen, das Smoke House häuslich einzurichten und auch Joyse’s Küche wieder entstehen zu lassen. Paul kümmerte sich danach um die Pferde, David und ich um neues Feuerholz. Der Verbrauch muss stets ersetzt werden, und bei der Auswahl war David nur auf verdorrte und umgestürzte Bäume bedacht, deren gesägte Klötzer von Ferdl gehackt und John gestapelt wurden. Anschließend erledigte jeder seinen eigenen Kram. Für mich hieß das Packsäcke holen, einen geeigneten Zeltplatz auf der Wiese aussuchen und unsere gelb-blaue Bleibe aufzubauen. Und als die kleine Behausung gerade so steht, kommen auch schon die Pferde, fegen zwischen den Zelten entlang und galoppieren zielstrebig durch eine kleine Schlucht zu ihrer Wiese unten am See. Die, die sich „ohne“ nachts zu weit vom Lager entfernen, sind zwar an den Vorderbeinen „gekoppelt“ und können nur kleinere Schritte machen, aber sie haben längst eine Technik entwickelt, die sie nur wenig langsamer sein lässt. Sie erlaubt ihnen sogar den kürzeren Weg über zwei kleine Gräben zu nehmen, die sie ganz locker springen. Nur der vierjährige Fuchs, der erstmals dabei ist und Säge, Äxte und Benzin trug, der hat den Dreh mit den Vorderbeinen noch nicht raus und hoppelt wie ein Schaukelpferd hinterher. Er hat heute aber auch alle Zeit der Welt, nur Paul hatte es eilig, den sein Nachbar noch vor dem Abendessen mit dem Wasserflugzeug abholte, denn bis Montagfrüh hat er frei und will zu seiner Familie. Für alle anderen wird es ein langer, schöner Sommerabend am Feuer. Für uns Gäste ist es zwar der letzte hier draußen, doch ganz zu Ende ist weder diese Geschichte, noch unsere Reise.
Am nächsten Morgen ist Samstag, und wieder meint es die Sonne mit uns gut, als wir zu dem nahem Wasserfall gehen, wo uns David den Lachsfang mit dem Speer zeigen wollte. Es ist aber ganz gut, dass die großen Fische noch nicht da sind, denn ob an der Angel oder am Speer, ich muss das nicht unbedingt sehen. Auf dem kurzen und schönen Heimweg können wir an den vielen leckeren Huckle- und Salmon Berries nicht so einfach vorbeigehen, und nehmen uns für die letzteren, eine Art große Himbeere, leicht säuerlich und sehr wohlschmeckend, ein paar Minuten Zeit, um sie in den Lederhut zu pflücken, bis Willie und Rio ein Stückchen voraus ein furchtbares Spektakel beginnen. Der Grund war ein Schwarzbär, der vor ihnen auf einen Baum geflüchtet war. Er war einer der jüngeren und gehörte noch nicht zu den ausgepufften Revierbesitzern, die den Weg so schnell nicht räumen wenn sie angekläfft werden. Als wir seinen Baum alle weit genug hinter uns hatten pfiff David die Hunde zurück, und im Wald wurde es wieder still.
Am frühen Mittag steigen wir letztmals in die Sättel und reiten hinüber zur anderen Seite des Sees um die Hütte zu besuchen, die Davids Großvater Lester noch gebaut hat, und die in sehr gutem Zustand ist. Genutzt wird sie als Jagdhütte und Zuflucht für Wanderer, die auf dem langen Trail durch den Park unterwegs sind. Und zwei von diesen eisernen „Hikers“ schultern gerade ihre schweren Rucksäcke zum Weitermarsch, als wir den Holzbohlenbau erreichen. Das junge Pärchen, das vor mehr als einer Woche in Bella Coola aufgebrochen war um Mackenzies Spuren zu folgen, hatte hier übernachtet, weil es seine Kleidung trocknen musste. Der Grund war ein ganz einfacher gewesen, denn gestern Abend hatte ihnen, im wahrsten Sinne des Wortes, das Wasser bis zum Halse gestanden, als sie einen Fluss durchqueren mussten. Von David bekommen sie zu dieser Gegend noch einige Ratschläge und Informationen, dann wünschen sie uns einen schönen Tag und verschwinden im Wald.
Diese Hütte nützt David auch noch selbst, wenn er im Herbst mit Jägern hier unterwegs ist. Auch das gehört zu seinem Geschäft „Guiding and Packing in dritter Generation“. Hütte und benachbarter Schuppen schützen so manch „altes Ding“, das noch immer gute Dienste verrichtet. Dem riesigen eisernen Ofen mit „Wasserpfanne“, großer Backröhre und einem Ofenrohr, das direkt zum Dach strebt sieht man an, welch große Wärme er ausstrahlen kann, wenn er richtig befeuert wird. Mich erinnert er an ein ähnliches Stück, das in meinen Kindertagen bei meinen Großeltern in der Küche des Bauernhofes stand, eigentlich die gleiche Version, nur mit einem anderen Herstellernamen an der kippbaren Backofentür. Auch andernorts war das oft so, dass mir Wagen und Geräte begegneten, die auch mein Großvater noch verwendete, oder mit denen ich in ganz jungen Jahren noch selbst gearbeitet habe. Im Wagenschuppen hatten auch ein Korbwagen und ein „vornehmer“ Landauer ihren Platz, da hingen die gleichen Pferdegeschirre, und die Mähmaschine oder der Selbstbinder verkündeten lediglich ein anderes Fabrikat als die, die ich in Kanada an „Historischen Orten“ oder in Freilichtmuseen sah. Auch die Heurechen und Heuwender mit Doppeldeichsel, in der ein einzelnes Pferd agierte, sahen hier nicht anders aus als die, auf deren eisernem Sitz ich Platz nahm, wenn im Sommer nach der Schule jede Hand gebraucht wurde. Dazu gehörten auch die Leiterwagen für die Heu- und Getreideernte, die sich durch Austausch der Aufbauten zum Kastenwagen wandelten, wenn Kartoffel, Rüben oder Möhren vom Feld abgefahren werden mussten. Auch die „selbstgehenden“ Ackerpflüge waren mir längst bekannt. Diese hatten statt einer einzigen „festen“ Pflugschar, zweimal zwei drehbare, damit auch in der Gegenrichtung gepflügt werden konnte. Für mich als helfender Bub hatten sie neben dem Vorteil, dass man sie unterwegs nicht festhalten musste, auch einen Nachteil, sie waren sehr schwer. Und für mich, als 13- oder 14-jährigem Knirps kam das Problem dort, wo am Feldrand gewendet wurde, um die nächsten fünfzig Zentimeter in entgegengesetzter Richtung umzupflügen. Ich musste unter die Handgriffe des Pfluges kriechen, um das schwere Gerät mit den Schultern anheben und um 180 Grad drehen zu können. Derartiges gab es hier in der Blockhütte natürlich nicht, dafür aber Ambos, Hufeisen, Sense, Dengelzeug, Pech, Faden und Sattlernadeln, Äxte, Eimer, Siebe, Bandsäge, Gummistiefel, Decken, Seile, Rucksäcke, Lederriemen und Kleinkram, der an der Wand oder unter dem Dach hing.
Der Ritt zurück zum Camp führte über einen kleinen Umweg, und dort wird, nach einem schnellen, allerletzten Kaffee, der Duffel Bag reisefertig gemacht. Die Zelte bleiben stehen, denn in zwei Tagen bringt das Buschflugzeug neue Reiter nach hier. Unser Sack ist schnell gepackt und verschnürt, und so stiefeln wir durchs hohe Gras hinunter zum See, um uns von den Pferden zu verabschieden. Escort grast vorn an der Wiese, mein Schimmel schläft ziemlich weit hinten am Ufer. Dem Schwarzen streiche ich nur einige Male zum Dank wortlos über den Hals, dann gehe ich weiter. Ich weiß, dass Sabine jetzt mit ihm allein sein möchte, denn für mich gilt das auch. Als ich näher komme, steht Richard auf. Ich streichle seinen Hals, graule ihn zwischen den Ohren, dann nehme ich seinen Kopf in beide Hände. Und während ich leise mit ihm spreche, schauen seine großen, dunklen Augen aus, als würde er jedes Wort verstehen. Er war mir ein treuer, zuverlässiger Kamerad gewesen, nicht hübsch oder auffallend, aber ein ganz tolles Pferd, das mir ans Herz gewachsen war. Und ich bin froh, jetzt mit ihm ganz allein zu sein. Eigentlich bin ich eher ein „harter Hund“, doch der Abschied von diesem Pferd geht mir unglaublich nahe. Ich habe ihm aber alles gesagt, was ich ihm sagen wollte, und nach einer letzten Umarmung und „Lebewohl“ gehe ich schnurstracks zurück zum Zelt. Im Moment möchte ich mit niemandem sprechen, nur einige Augenblicke allein sein. Und als ich um die Ecke in die kleine Schlucht einbiege, lehnt David an einer verwitterten Fichte. Er hatte das Ganze wohl beobachtet. Er sagt aber kein Wort, nickte mir nur unmerklich zu …
Wenig später hören wir die Beaver kommen. Sie hat den typischen Sound dieser kleinen Maschinen, hart, tief und kernig. Das Buschflugzeug mit den Wasserkuven zieht einen Halbkreis über dem See und setzt weit draußen auf. Und während wir unsere geschulterten Packsäcke Richtung Anlegestelle – ein paar Bretter im Gras – tragen, kommt die Maschine auch schon durchs Schilf getuckert, dreht bei und schaukelt lautlos zum Rand des Wasserarmes. David packt das kurze Seil, das an der Tragfläche baumelt, und hält es fest, bis der Pilot sie vertäut hat. Die Stimmung ist jetzt auch bei den vier Kanadiern gedrückt, denn wir hatten Menschen kennen gelernt, die uns mehr gegeben hatten als ein wunderschönes Naturerlebnis. Und ich glaube auch heute noch – einige Jahre später – dass wir auf unseren Reisen nie zuvor oder danach Menschen trafen, von denen uns der Abschied ähnlich schwer fiel, wie von Joyce und David. Den Pferden wünschten wir, dann mit Engländern im Sattel, einen guten und sicheren Weg zurück. Dass der Chef persönlich am Steuerknüppel saß beruhigte die, die erstmals in eine kleine Maschine einstiegen. Aber diesen Buschfliegern kann man sich getrost ohne Wenn und Aber anvertrauen. Sie können fliegen, am technischen Zustand gibt es keinerlei Zweifel und die Maschinen sind ihr Broterwerb und ihre eigene Lebensversicherung. Vor Jahresfrist im afrikanischen Tansania waren die Gefühle schon etwas anders. Auch jener Pilot war gut, doch waren das auch die Finanzen der Firma? Damals ging jedenfalls alles glatt, und der Flug entlang eines wolkenlosen Kilimanjaros war ebenso beeindruckend, wie die große Safari. Seither sind mir diese kleinen Maschinen äußerst sympathisch. Ganz besonders aber, wenn es sich um nordamerikanische Wasserflugzeuge handelt, mit einheimischen oder englischen Piloten.
Vor dem Einsteigen werden noch einige Kartons für Davids Nachschub ausgeladen, und dann geht alles sehr schnell. Ein letzter Händedruck, das Versprechen „wir kommen wieder“, ein kurzes Winken des Piloten und der Siebensitzer dreht ab zum offenen See. Dort gewinnt er über dem hellgrün schimmernden Wasser schnell an Höhe und zeigt uns rechterhand, dass sich hinter dem Ufer weite Waldflächen ausbreiten, während gegenüber schneebedeckte Berge den Horizont säumen. Minuten später ist unter uns nichts als Wald, nur einige Flüsse heben sich glänzend ab. Hier und dort leuchtet auch ein hellgrünes Tal zu uns herauf, und die Holzeinschläge gleichen kompakten Feldern, runden und viereckigen. Die Wege, die von ihnen wegführen, ähneln ungeglätteten Wollfäden, die sich irgendwo unter uns verliert. Und als es durch die Rainbow Mountains geht, sitze ich auch auf der richtigen Seite, denn die von der Sonne angestrahlten Felsen leuchten jetzt in ihrer ganzen Pracht, und dass der Pilot wegen der Aufwinde nahe am Hang entlang fliegt, macht das Ganze noch attraktiver. So nahe über dieses bunte Gebirge zu fliegen ist grandios, und das der Pilot – Absicht, Zufall oder kundenfreundlicher Service – noch zusätzlich eine scharfe Kurve fliegt und anschließend eine „Acht“, ist besonders schön. Ersteres erfreut die rechts sitzenden Passagiere, die nun in den Genuss der ganzen Farbenpracht kommen, während die Acht einer Grizzlyfamilie galt, die der Pilot entdeckt hatte. Die insgesamt etwa vierzig Minuten vergingen im wahrsten Sinne wie im Flug, und als die Maschine auf unserem Heimatsee, dem Anahim Lake, aufsetzt, hat es weder geholpert noch gespritzt, man merkt rein gar nichts. Die restlichen Meter bis zum Bootssteg von Eagles Nest dauern keine zwei Minuten, und damit ist das Abenteuer Trailritt zu Ende.
Die nächste Stunde gehört jedem selbst, und nach gründlicher „Wäsche und Rasur“ wartet die Dame des Hauses mit kaltem Bier und einem zünftigem Abendessen auf uns, und in Salzburg oder Tirol hätte auch nichts Besseres auf dem Tisch stehen können. Nur der Wein, mit dem wir anschließend unsere schöne Tour feiern, war kein Grüner Veltiner, sondern kalifornischer Roter. Bei der einen Flasche ist es natürlich nicht geblieben, aber sehr spät wurde es auch nicht, denn unsere vier kanadischen Mitstreiter mussten am nächsten Morgen zeitig aufbrechen, denn der Weg bis Calgary ist weit, und am Folgetag rief wieder die Arbeit. Und somit war der neue Tag auch für uns noch sehr jung, als wir den beiden Paaren nachwinkten und uns dann selbst an den gedeckten Frühstückstisch setzten. Was dann aber kam, klingt nicht nur ziemlich verrückt, es war es auch, und die Idee dazu wurde urplötzlich aus dem Nichts beim Frühstück geboren. Lady Enubi fand Sabines Wunschgedanken großartig und goss sofort Öl ins Feuer: „Spontane Dinge sind immer die besten. Tun Sie’s doch einfach. Die Dorseys werden das nie wieder vergessen!“ So schön es wäre, aber auf Anhieb kann ich mich mit „jenem“ Gedanken nicht anfreunden, denn er kostet einen zusätzlichen Tag, und umsonst geht es auch nicht. Andererseits, so meine Gedanken, verdient hätten es Joyce und David, und erneut fliegen? Das wäre ein Superding, und ein paar Reservetage haben ich ja auch noch in unsere Reise „eingebaut“. Da würde einer doch nicht wehtun? Diese Denkweise ging aber schon viel zu weit und war gefährlich, denn die Schlussfolgerung daraus folgt auf den Fuß, ein schnelles „Kostentelefonat“. Und mit dessen Beantwortung ist die Verrücktheit auch schon besiegelt: Die Hausherrin von Eagles Nest packt uns einen handfesten Frühstückskorb, fügt zwei Flaschen Chardonnay im Eiskübel hinzu, und dann fliegen wir zwei mit einer dreisitzigen Cessna zurück zum Tanya Lake!





