100.000 km zwischen Anchorage, Neufundland, dem Pazifik und New Mexico - Teil 2

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Der Flug wird wieder ein wunderschöner, denn der junge Bursche am Steuerknüppel kennt unsere Geschichte und wählt einen anderen Weg. Prima, denn so sehen wir noch ein bisschen mehr von dieser Gegend. Runter muss er aber an der gleichen Stelle, und das „scheucht“ die Dorseys, deren frisch gewaschene Wäsche im Winde flattert, regelrecht auf. Wir können sehen, wie sie flott und diskutierend zum Bootssteg marschieren, denn angesagt war für heute niemand. Unsere Maschine tuckert auf den letzten Metern wieder durch das Schilf und dreht dann bei. Und genau in diesem Moment erkennt mich Joyce, denn während Sabine mit dem Frühstückskorb hinten sitzt, war mein Platz neben dem Piloten. Sie schlägt die Hände vors Gesicht, dann David auf die Schulter, zeigt auf die Maschine, sagt irgendetwas, und ist richtig aufgeregt. David sagt gar nichts, wischt sich nur mit dem Taschentuch übers Gesicht. Als sie aber den Frühstückskorb entdecken, wussten sie worum es ging, denn beim gestrigen Abschied hatte ich David versprochen: „Wenn ich wiederkomme, dann habe ich auch Wein dabei“. Nur, dass das so schnell gehen würde, hat mich selbst auch überrascht. Wie dem auch sei, Sabines Idee finden die beiden „unglaublich“, und freuen sich auch so, und unser kleines Dankeschön wird der Auftakt zu einem wunderschönen Sonntag. Am späten Abend kommt der Pilot zurück, holt uns ab und fliegt noch einmal durch die von der Abendsonne angestrahlten Regenbogenberge. Was für ein Glücksgefühl! Und als sich die kleine Propellermaschine in ihrer Anflugschleife über Eagles Nest ziemlich steil in die Kurve legt, schlägt das Herz noch einmal höher, aus purer Freude am Erlebnis, nicht aus Angst. Und als sich die Maschine wieder in die Lüfte schraubt und unsern Blicken entschwindet sind wir uns auch einig darüber, dass es eine Superidee war, und das „Budget“, das werden wir schon irgendwie wieder in Ordnung bekommen.

Der Tree Crasher (17 Meter lang, 6,4 Meter hoch, 170 Tonnen schwer) rodete 1964 den Wald für den Williston See und zerkleinerte gleichzeitig die Bäume
Der nächsten Morgen bringt dann den endgültigen Abschied von Eagles Nest, wo mir beim Frühstück ein eingerahmtes indianisches Gebet auffällt, das in einer Nische hängt. Nachdem ich es gelesen habe beschließe ich, es zu notieren, denn es passt zu all den Erlebnissen der letzten Tage und den Dingen, von denen uns David erzählt hat. Es unterstreicht auch den Gedanken, dass hier die Wildnis regiert, und der Mensch nur Gast ist:
Indian Prayer
Oh, Great Spirit
Whose voice I hear in the wind,
Whose breath gives life to the word, hear me.
I came to you as one of your children,
I am small and week.
I need your strength and beauty.
Make my eyes ever behold the red and purple sunset,
Make my hands respect the things you have made,
And my ears sharp to your voice.
Make me wise so that I may know the things
You have thought your children,
The lessons you have written in every leaf and rock.
Make me strong, not to be superior to my brothers,
But to fight my greatest enemy
Myself.
Make me ever ready to come to you
With straight eyes,
So that when life fades as the fading sunset
My spirit may come to you
Without shame. (von Unbekannt)
Als ich damals diese Zeilen gelesen und notiert hatte, schwang schon ein wenig Schwermut mit, denn es hieß Abschied nehmen von einer wunderschönen Woche. Dass wir jemals nach hier zurückkommen würden, war so gut wie ausgeschlossen, und eine Frage danach hätte ich vor neun Jahren auch klar verneint. Weil die Welt so groß ist, so viel Schönes zu bieten hat, und weil wir nach dieser zweiten großen Kanadareise schon weit mehr als die touristischen Ziele erlebt hatten. Dass wir 2010 meinen Geburtstag mit Joyce und David bei Lady Enubi feierten, das war dem Zufall zu danken. Wir waren in Alaska und Kanada unterwegs gewesen, hatten die Fähre von Bella Coola nach Port Hardy auf Vancouver Island gebucht, und der eine Tag, der zufällig mein Geburtstag war, „war frei“. Und jener Abend sorgte dann tatsächlich dafür, dass das voreilige „wir kommen nächstes Jahr wieder“, 2011 Wirklichkeit wurde. Eigentlich hatte ich Südamerika-Pläne, aber Sabine hatte schon vorher entschieden, dass sie zu Weihnachten ihr Sparbuch plündert, um Vater und Tochter, die auch ein paar ganz junge Jahre als Amateur im Rennsattel verbracht hat, als Pferdenarren die Rainbow Mountains gemeinsam im Sattel erleben zu lassen. Aber ich bin auch Realist. Ein solcher Ritt war mir bereits vergönnt, und Dörthe, so heißt der Nachwuchs, glaubte mit viel Begeisterung, dass sie bei ihren zwei oder drei mehrtägigen Touren im Sauerland auch auf „Trailritten“ gewesen sei. Auch wenn ich diese Feststellung abwinkte wie vorher bei einem Bekannten, der zu „Kanada“ meinte, dass er das auch schon gemacht habe, um den Balaton herum! Sicherlich, beides kann auch ganz nett sein, nur mit einem Trailritt in der Wildnis hat das so wenig zu tun, wie ein Traktor mit einem Porsche, oder ein Vollblüter mit einem schweren Belgier. Wer aber dieses Land, seine Wildnis, die unendlichen Weiten und die Abgeschiedenheit nicht kennt, der kann es sich ganz einfach auch nicht vorstellen, welch schwieriges Gelände man sich mit diesen Pferden erschließen, und auch wochenlang unterwegs sein kann, ohne Wege und Pfade, und ohne einen einzigen Menschen zu treffen. Doch diese Erfahrungen hatten wir 2002 gemacht und nicht geglaubt, dass man sie noch übertreffen könnte. 2011 war das aber der Fall, doch schön der Reihe nach.
Wir sind also einmal mehr in Kanada und parken unseren „Adventurer“ direkt bei Lady Enubi am See, denn Sabine und Enkelin Annika wollen während unserer Reitwoche „Eagles Nest“ mit eigenem Programm genießen, und hier haben sie einen richtig schönen Standplatz. Das Wasserflugzeug wird sie in die „Rainbows“ und zum Tanya Lake bringen, um das Smoke House zu besuchen. Sie werden auch die Hunlen Fälle überfliegen, die 396 Meter schnurgerade in die Tiefe rauschen, und diese Wasser aus den Turner Lakes über den Hunlen Creek zum Adnarko River schicken. Und auch Petrus, Mitbesitzer jener Oase im Busch, ist mit seinem Jeep für einige Touren als Guide engagiert, denn niemand kennt sich hier mit den versteckten Schönheiten und besonderen Möglichkeiten besser aus als er. Ihn und die „Lady“, als auch die Eagles Nest-Mannschaft mit Tim, Elizabeth und Sarah hatten wir schon vorher begrüßt, während wir die fünf Damen, die ebenfalls in den Sattel steigen wollen, erst beim Abendessen kennenlernen. Alle sind aus Vancouver, im mittleren bis fortgeschrittenen Alter. Vier davon sind Mediziner wie unsere Tochter, die Fünfte arbeitet als Krankenschwester. Wirkliche Reiter waren Lis, Sarah, Georgia, Holly und My Lin nicht, aber nette und fröhliche Zeitgenossen. Was sie allerdings am nächsten Morgen zum Trailhead anschleppten, war ebenfalls lustig anzusehen: Neben sehr komfortablen Zelten und deren Ausrüstung waren das pro Person weitere 40 Kilogramm, inklusive Walking-Stöcken, Klappstühlen, Gummistiefeln, Sportschuhen und jede Menge „Klamotten“. Unsere beiden mittleren Sporttaschen hatten dagegen noch Platz, denn die meiner Tochter war ähnlich gepackt, wie meine: Dreimal Skiunterwäsche, drei wärmere Hemden und drei Paar Socken zum Wechseln; je ein dünner und dickerer Pullover, Handschuhe, Ersatz-Jeans, Schlafanzug, zwei Handtücher und ein Badetuch für die „Bach-Dusche“; Duschgel, Zahnpasta und Bürste, Nivea Creme, Pflaster, Taschenlampe, kleiner Rucksack für Fotoausrüstung. Der Rasierer blieb im Wohnmobil wie der Kamm, denn jener ist beim Trailritt überflüssig, und bei „sechs Millimeter Haarschnitt“ braucht man auch keinen Kamm. Somit blieb nur noch das „Startoutfit“: Jeans, Chaps, Reitstiefeletten, kariertes Flanellhemd, Reitweste, Anorak und Lederhut.
Am Trailhead, im Süden des Parks im verbrannten Wald – 2010 gab es hier ein schweres Feuer – helfen wir zwei der Mannschaft, bis alle Packpferde, die auf jeder Seite 40 Kilogramm tragen, startklar sind. Die Kunst, die Ladung pro Pferd mit einem einzigen langen Seil zu verschnüren, beherrschen wir natürlich nicht, und es ist auch ein äußerst harter Job. Das eine oder andere Ende dabei festhalten, nachziehen oder bei den Regenplanen mehr zuzufassen, das hilft bei diesen letzten Arbeiten aber auch. Was aber Patrick hier innerhalb von etwa zweieinhalb Stunden erledigt – er fungiert als Packer und hat selbst dreißig bis vierzig „Mountain-Horses“ im Stall – ist Schwerstarbeit. Zwischendurch verteilt Joyce die Reitpferde an die Gäste. Meine Tochter Dörthe bekommt die gehfreudige dunkelbraune Mary, die normalerweise Davids „Reservepferd“ ist, und zu meiner reinblütigen Quarterhorse-Fuchsstute Georgia meint Davids Frau: „Du bist der erste Gast, der sie reiten darf.“ Mary ist einen Tick leichter und hat viel Vorwärtsdrang, Georgia ist sehr vorsichtig, äußerst trittsicher, faul und hat es, bei aller Gutmütigkeit, auch ein wenig hinter den Ohren. So dauerte es einen ganzen Tag bis sie akzeptierte, dass sie grundsätzlich flott zu marschieren hat und Bummelei nicht geduldet wird. Das hat ihr anfangs wohl gar nicht gepasst, denn aus heiterem Himmel sprang sie urplötzlich ab wie ein Rennpferd, schlug Haken und mit der Hinterhand aus wie ein Weltmeister. Solche Faxen kann man in diesem Gelände allerdings nicht dulden, und danach wussten wir beide, was wir voneinander zu halten hatten. Von da an hätte ich kein besseres Pferd haben können, als diesen dreifach gestiefelten, sechsjährigen Fuchs mit der großen Blesse. Ein phantastisches „Mountain-Pferd“, auf das man sich voll und ganz verlassen kann. Und Mary war ebenfalls ein großartiger Partner. Wir hatten also unseren Spaß mit diesen beiden Charakteren.
Dann war es soweit, die Karawane mit 26 Pferden, 13 Reitern und den Hunden Joe, Look und Peggy, die die „Horse-Train“ vor Bären sicherten, zog los. Davids „Truck“ blieb im Wald stehen, der Pferdetransporter war bereits weg wie Petrus auch, der die fünf Damen chauffiert hatte, und Sabine und Enkelin Annika fuhren bei strahlendem Sonnenschein mit Davids Tochter Lesly zurück zum Eagles Nest. David führte die Kolonne an, und zu seiner Ausstattung zählte, wie ebenfalls bei Patrick und Paul, auch ein Gewehr für den Notfall. Dahinter, in Dreiergruppen und wie alle anderen im Gänsemarsch, gingen die 13 Packpferde an der Hand von Patrick, Paul, Maria und deren Schwester Aida. Danach kamen die Gäste, während Joyce und ihr Packpferd, das heimwärts an die Hand von Dörthe wechselte und keinen weiteren Artgenossen am Schwanz hängen hatte, das Schlusslicht bildeten. Völlig anders war auch das diesjährige Konzept, denn während wir 2002 die Tanya Lakes als Ziel hatten und täglich ein neues Lager aufschlugen, blieben wir 2011 zwei Nächte im ersten, vier im zweiten Lager und erkundeten von diesen aus auf langen Tagesritten die Umgebung.
Der Anfang der Tour bot gleich den Packpferden einige Schwierigkeiten, denn es galt, das 2010 bei einem großen Buschfeuer verwüstete Waldstück zu durchqueren, wo die meisten der verkohlten Baumstämme nicht mehr standen, sondern gemeinsam mit großen Steinen und Felsbrocken kreuz und quer und übereinander liegend den Boden bedeckten. Als nächstes zogen wir durch ein weites sumpfiges Tal, uneben, von tiefen Gräben, Bächen und kleinen Seen durchzogen, und in dem bis zu vier Meter hohe, dichte Weidenbüsche ganze Abschnitte blockierten. Die Pferde wussten aber damit umzugehen, senkten den Kopf, erkannten die Lücken im Gewirr und erzwangen mit Hals und Schulter den nötigen Durchschlupf, ohne das Tempo merklich zu reduzieren. Für den Reiter waren sie in dieser Situation aber nicht zuständig, denn, ähnlich wie im dichten Wald, wo ihm Knie oder Ellenbogen signalisieren, dass er die Situation falsch eingeschätzt hat, melden sich hier die Oberschenkel oder höher gelagerten Körperteile, dass er zurückschwingende Triebe übersehen hat. Aber Reiterblut ist keine Buttermilch, und damit geht es weiter, und am Ende des Tales mehrere Stunden im Wald bergauf bis wir subalpines Gebiet und unseren ersten Lagerplatz erreichen. Das Plateau ist leicht hügelig, und ein kräftiger, eiskalter Bach trennt unser lichtes Wäldchen von der großen Bergwiese, an deren Rand sich in etwa zwei Kilometer Entfernung krüppeliger Fichtenwald wie ein stummer Wächter aufgestellt hat. Auf der anderen Seite, und uns im Rücken, überbrücken ebenfalls Waldstücke und Hügel den Weg zu den ersten kleinen Bergkämmen, auf denen zahlreiche Schneeflecken daran erinnern, dass auch hier der Sommer kalt und verregnet war. In Kanada heißt das aber auch, dass die Mücken erst jetzt ausschwärmen, statt ihre Saison schon beendet zu haben. Diese Biester sind auch lästig, aber das mitgebrachte Spray mögen sie gar nicht und drehen kurz vor dem Aufsetzen wieder ab. Am Bach muss man aber ziemlich schnell sein, um die Stinkschicht auf „Haut und Zwirn“ wieder anzubringen, denn sonst sind die an sich lahmen Quälgeister, die man locker mit der Hand im Flug wegfangen kann, sehr schnell bei ihrer ungeliebten Arbeit. Die Natur hatte mit uns aber schnell ein Einsehen, schickte nachts nochmals Neuschnee auf die Bergkämme, und der leichte Nachtfrost reichte aus, um diese Plagegeister ins Jenseits zu schicken, während am ersten Abend der Rauch des Feuers half, sie uns vom Halse zu halten.
Und es war auch an diesem späten Nachmittag, dass sich David mit seinem Kaffeepot und einem „halben Stumpen“ zu mir auf den Baumstamm setzte und meinte: „Wir kennen uns nun schon länger, ich weiß wie ihr reitet, und ihr habt auf diesem Trip beide zwei sehr gute Pferde. Ab morgen könnt ihr jeden Tag mit Patrick eure eigene Tagestour reiten und kehrt nur abends ins Lager zurück, während die übrigen Gäste mit mir und Paul in leichteres Gelände gehen“. Als er meine Freude bemerkt fügt er nickend an: “Patrick kennt in den Rainbows jeden Winkel, ist ein ganz ausgezeichneter Horse- und Mountain-Man, und geht, trotz aller Verwegenheit, niemals ein Risiko ein. Ihr könnt Euch auf ihn und die beiden Pferde voll verlassen, denn sonst würde ich das nicht erlauben. Nur am vorletzten Tag, da gehen wir drei zusammen. Ich möchte zwei uralte Jagd-Camps von meinem Großvater suchen und Euch mitnehmen.“ Und nach einer kurzen Pause meinte David noch, dass das alles richtig gute Ritte würden, wie früher, als jeder noch sein eigenes Tal und die Wege dorthin suchte.
Und genau so war das dann auch. Mit Patrick waren wir jeweils zehn bis zwölf Stunden unterwegs, und fast immer am Limit. Zum zweiten Lager ritten wir drei wieder „unsere“ Spezialroute über die Berge und setzen dort unsere täglichen Ritte durch schweres Gelände fort. Der sehr lange Tag mit David fügte sich nahtlos an jene Superritte an, denn auch auf der erfolgreichen Suche nach den alten Jagdcamps, die David in neue Touren einfügen möchte, hatte man das Gefühlt, als wäre man im „Wilden Westen“ auf der Suche nach einer neuen Heimat. Und selbst der letzte Tag war ein weiteres Highlight, denn gemeinsam mit den Packpferden nahmen wir eine Abkürzung, die an Schwierigkeiten kaum etwas ausklammerte, weder Schnee noch die Überquerung von drei Bergzügen, um den Trailhead auf kürzestem Wege zu erreichen, während der restliche Tross mit mehr Kilometer in leichterem Terrain nach Hause ritt.
Und die Tage mit Patrick in den Rainbow Mountains? Zunächst, es ist ein riesiges Gebiet im Norden des Tweedsmuir Provincial Parks, den der Dean River im Nordwesten, die Coast Mountains mit Eisfeldern und Gletschern im Süden, und im Westen das Bella Coola Valley mit Regenwald und gigantischen Roten Zedern begrenzen, während im Osten das Interior Plateau, Cattle und Cowboys das Bild bestimmen. Und Patrick – schlank, mager, zäh, unrasiert, Sechzig-Kilo-Typ, Mitte Vierzig, kompetent, furchtlos, einer der zupacken kann, ein Naturmensch und echter Pferdemann – hat uns alles gezeigt, was man in dieser grandiosen, einsamen Natur überhaupt zu Gesicht bekommen kann. Bis hoch an die Gipfelspitzen sind wir geritten, bis dorthin, wo die letzten Meter wirklich nicht mehr machbar waren, auch nicht zu Fuß, und nur selten noch auf allen Vieren. Dort oben, wo Wälder, Täler, Seen und Flüsse etwa zweitausend Meter unter uns lagen und der Blick auf Augenhöhe über die bunten Berge bis hinüber zu den Küstengebirgen schweifte, wo sich der Mount Weddingten mit seinen 4.019 Metern in die Höhe reckt begriffen wir, was wir diesen Pferden zu verdanken hatten. Es war eine traumhafte Welt, fast aus der Vogelperspektive und mit 360 Grad Rundblick. Und das alles mit einer ganzen Woche Sonnenschein, der nur ein einziges Mal für zwei Stunden hinter fetten Regenwolken verschwand. Und von hier oben sahen die unendlichen Täler wunderbar eben aus, doch in Wirklichkeit waren ihre Talböden alles andere als leichtes Gelände. Sumpf, Gräben, breite und tiefe Bäche, Flüsse, Felsbrocken, Weidenbüsche, Baumgruppen, Tümpel, dichte Waldstreifen und Hügel entpuppten sich erst als solche, wenn man sie durchqueren musste. Und was immer auch kam, Patricks brauner Wallach marschierte flotten Schrittes überall durch, und unsere beiden Stuten folgten ebenso furchtlos und sicher. Selbst Georgia, die sich anfangs doch ziemlich bitten ließ, stand jetzt unter „Volldampf“. Nur ihre äußerste Vorsicht, die gab sie nie auf. Was diese drei Pferde an den Berghängen geleistet haben, hätte ich vorher nie für möglich gehalten. Hoch und runter, im Zickzack, traversal oder direkt, sie meisterten ganze Hänge mit Steinschotter, großen und kleinen Felsbrocken, gingen über Steinmoränen und durch Schneefelder, steil hinab oder hinauf durch losen, schieferartigen rutschigen Bruch, oder auf schmalen Rändern entlang tiefer Schluchten, sprangen über Gräben oder tiefe Bäche, meisterten glitschiges Gelände und alles, was sich in den Weg stellte. Kein Stolpern, kein Fehltritt, kein Zögern und niemals hektisch oder scheu. Unglaublich! Und selbst dort, wo ein mulmiges Gefühl entstand oder sich der Blick fragend auf Patrick richtete, wie es denn jetzt weitergeht, wie und wo hinunter oder hinauf, oder über den nächsten Pass, der aus meiner Sicht doch völlig verschneit war, Patrick hatte die Möglichkeiten längst erkannt und hielt auch nicht an. Vielleicht hier und dort ein kurzes Zurück oder ein kleiner Umweg, mehr aber nicht. Nur bergwärts, wenn es richtig steil wurde, ließen wir unsere Partner mehrfach verschnaufen und gewährten ihnen in Bächen die Zeit, wenn sie trinken wollten. Wirklich angehalten haben wir, jenseits der Mittagspause, nur ein einziges Mal. Der Grund war ein großer Grizzly, der uns in einem Tal auf Sichtweite begleitete. Patrick wollte ihn beobachten, damit er nicht unverhofft einen großen Bogen schlägt und plötzlich hinter uns ist, denn die Grizzly Bären in diesen Bergregionen haben nicht den Überfluss, den die großen Lachsflüsse bescheren, müssen mit wesentlich weniger auskommen und sind daher auch aggressive. Erstaunlich auch, wie schnell dieser Petz über mehrere Kilometer war. Obwohl wir flotten Schrittes unterwegs waren, kam er linkerhand am Talrand von hinten, zog ganz locker und flott an uns vorbei und bog dann weit vor uns nach rechts in ein Seitental ab. Und deswegen hielten wir an und stiegen ab, denn in dieser Gegend im Spätsommer einen Grizzly im Rücken zu haben, wo die fischreichen Gewässer fehlen und er jagen muss, ist gefährlich. Er blieb jedoch seiner Richtung treu und galoppierte weiter durch das Seitental und von uns weg. Diese „verwegenen“ Touren mit Patrick waren einmalig schön, aber nach zehn bis zwölf Stunden im Sattel freuten wir uns auch auf den heißen Kaffee nach der Rückkehr am Lagerfeuer, und auch unsere Pferde hatten den Gang zur Wiese mehr als verdient.
Der Ritt mit David am vorletzten Tag war ein ganz anderer. Wir waren zwar wieder sehr lange unterwegs, aber größtenteils in Tälern und urwüchsigem Wald. Wir mussten auch mehrfach umkehren und einen neuen Durchschlupf suchen, weil eine steile Bergwand, ein tiefer Fluss-Canyon den Weg versperrte, oder wir ganz einfach auf der falschen Fährte waren. Am Ende haben wir beide Jagd-Camps gefunden, mit allerlei alten, verrosteten Utensilien und morschen Hölzern unter gewaltigen Bäumen. David, der seine Gefühle kaum zeigt, ließ hier aber erkennen, dass es ihm schon sehr nahe ging, wenn er den einen oder anderen alten Gegenstand aufhob und betrachtete. Als kleiner Junge war er mit seinem Großvater mehrfach hier gewesen, vor etwa fünfzig Jahren, und danach nie wieder. Wir saßen ab, stöberten ein wenig in den alten Dingen und lauschten den Geschichten, die David von damals erzählte. Auf dem Rückweg markiert er jeweils dort einen Baum, wo der Weg in eine andere Richtung wechselte, oder sein Abzweig schwer zu finden war. Heimwärts reiten wir einen Umweg, denn David möchte uns noch ein anderes Tal zeigen, statt auf gleichen Pfaden wieder zurückzukehren. Auch diese „Extrawurst“ war uns recht, wie all die vorherigen auch, inklusive derer, die vom Grill kamen. Und das, was Joyce am letzten Abend anbot, war auch schon fast fertig, als wir nach knappen zehn Stunden wieder eintrafen: Würste, Stakes, verschiedene Salate, gebackene Kartoffel und dicke Pfannkuchen. Süße mit Creme, Honig oder Kirschen (oder allem), und herzhafte mit Speck und Zwiebel.
Der letzte Abend ist auch immer einer, an dem ein paar Worte des Dankes fällig werden und die Mannschaft einen Obolus erhält. Für Joyse hatten wir als persönliches Geschenk eine Allgäuer Kuhglocke im Gepäck, wodurch künftig das Rufen nach David entfällt, wenn das Essen auf dem Tisch steht. Was dann noch bleibt, sind Lagerfeuer-Romantik, der eine oder andere Drink, ein Dank an die Pferde und reiterliche Zukunftsträume, wer denn wann und wo wieder in den Sattel steigt. Und unser persönliches Resümee? Es war eine grandiose Woche bei allerbestem Wetter, und mit unseren Pferden und Patrick hatten wir dafür die besten Partner an unserer Seite. Was dieses Trio uns ermöglichte, übertraf alle Vorstellungen. Paul, der sein eigenes Pferd ritt, war wieder der lustige „Pferdemensch“ wie vor neun Jahren auch, und die erst 17-jährige Aida besaß schon sehr viel Pferdeverstand, während ihre Schwester Maria als „Koch“ Joyce eine Menge Arbeit abnahm. David, zurückhaltend, aber offen und ehrlich seine Meinung sagend, wenn er danach gefragt wird, ist ohnehin nicht zu übertreffen. Es waren sieben wundervolle, professionell organisierte Tage, die uns abends müde und zufrieden in den Schlafsack sinken ließen. Nach einer Woche „Busch, Bach und unrasiert“ freute man sich aber auch wieder auf eine heiße Dusche und ein richtiges Bett.
Die letzten eineinhalb Stunden durch den 2010 verbrannten Wald waren für die Pferde erneut schwierig, denn dieser Parkabschnitt ist bergig, felsig, mit großen Steinen übersät und gewaltig verwüstet. Als wir mit den Packpferden eintreffen, sind David und Joyce, die mit den restlichen Gästen drei Stunden früher aufgebrochen waren, bereits da und die Ladies mit Petrus schon auf dem Weg zum Eagles Nest. Für uns ist nochmaliges „Anpacken“ jetzt selbstverständlich, denn David und Joyce haben nur „zwei Nächte“, um die nächste Tour vorzubereiten. Deswegen bleiben auch die Pferde hier, die David inspiziert und dann in die Obhut von Patrick entlässt, der sie auch auf der nahen Wiese betreuen wird. Alle müssen in zwei Tagen auch nicht wieder antreten, denn vor dem nächsten Ritt werden einige von ihnen ausgetauscht. Für den Abschied blieb somit auch nur wenig Zeit, ein letzter Händedruck, eine Umarmung, ein letztes Dankeschön. Was für ein Leben! Aber in der Stadt könnten David und Joyce nicht atmen. Sie brauchen ihre Freiheit, die Natur und die Tiere.
Als alle Pferde entladen und die leeren Kisten auf Davids Truck verstaut sind, bringt uns Leslys Allradler zurück zu Lady Enubis Eagles Nest, und dort empfängt uns Sabine am Wohnmobil auch mit den Worten: „Macht euch schnell unter die Dusche, denn ihr duftet ganz erheblich!“ Naja, als sie anschließend bei der Lady eine Flasche Sekt spendiert, ist jene „Beleidigung“ wieder behoben, und bei einem guten Essen genießen wir, gemeinsam mit den Reitern aus Vancouver, wieder die Vorzüge der Zivilisation und das Klavierspiel von Petrus. Als die Musik verstummte und sich die fünf Damen zurückgezogen, lud uns die Hausherrin noch in ihre Bibliothek ein, wo ein Rüdesheimer Kaffee den Schlusspunkt unter ein sehr schönes Abenteuer setzte. Traurigkeit kam dennoch nicht auf, denn nur dieses Erlebnis war zu Ende, nicht aber unsere Reise. Vor dem Wohnmobil lagen noch einige tausend Kilometer, denn wir wollten Dörthe und Annika noch mehr von diesem Land zeigen, und dann südlich der Grenze durch Montana, Idaho und Washington zurückfahren. Und somit lagen auch Nationalparks, heiße Quellen, historische Forts, Fährüberfahrten, der gewaltige Columbia River oder das amerikanische Seattle noch vor uns. Aber all das betrifft erst das Jahr 2011. 24 Monate später werden wir erfahren, dass Lady Enubi verstorben ist und eigentlich zwei völlig unterschiedliche Persönlichkeiten vereinte. Sie war fraglos die charismatische, charmante, großzügige, liebenswerte, warmherzige und hoch intelligente Hausherrin, die ihre Gäste sehr schätzten. Dass sie als „General“ zu Eagle’s Nest agierte war auch erkennbar, nicht aber, dass sie ein „Cult Leader“ war, der mit eiserner Hand auftrat und seine Angestellten restlos beherrschte, manipulierte und ausnützte. Bekannt wurde das erst, als das 2009 verlegte Buch von Alexandra Amor „Cult, A Love Story“ (Fat Head Publishing, Vancouver) zum Dorfgespräch wurde. Zehn Jahre war sie selbst unter den Fittichen der Lady, und als sie ausgestoßen wurde, weil sie immer mehr kritische Fragen stellte und unter der Thematik schrecklich litt, schrieb sie ihre unglaubliche Geschichte nieder. Heute sagt sie, dass sie ein ganz normales Leben führt, „Schreiben“ sie von aller Last befreit hat, und dass es die Umstände waren, die sie in die Arme der Lady trieben.





