Kreation Vollblut – das Rennpferd eroberte die Welt. Teil III

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Gaditz im Oktober 1986 am Tag der offenen Tür (Foto: Siegfried Müller, Leipzig)
GRADITZ STARTETE ALS KÖNIGLICH-PREUßISCHES HAUPTGESTÜT
In die Zucht des deutschen Vollblutpferdes, die die Brüder Biel durch Ankäufe im englischen Auktionshaus Tattersalls in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts starteten, spielte die sechs Kilometer flussabwärts von Torgau am Ostufer der Elbe im Schutze des langgestreckten Deiches liegende kleine Ortschaft Graditz eine wichtige Rolle, und ihr Name hatte bald einen europäischen Klang. Und diesen internationalen Ruf verschafften ihm die Pferde. Hier lag das Königlich Preußische Hauptgestüt Graditz, das Aufstieg, Niedergang und Neubeginn erleben sollte. Und als es 1866 in die Vollblutzucht einstieg, geschah das drei Jahre früher als in Schlenderhan. Graditz, dass in der Planung seiner fünf Höfe (Vorwerke) und Baulichkeit auf Ideen von August des Starken gründet, und 1815 vom Preußischen Staat übernommen wurde, ist mit der deutschen Vollblutzucht auf das Engste verwachsen, wenn gleich Altefeld in den Zwanziger Jahren für eine gewisse Zeit die Graditzer beherbergte. Allerdings sollen auf dem federnden, sandigen Boden, der von einer sehr fruchtbaren Lößschicht bedeckt ist und von dem milden, ausgeglichenem Klima der Elbniederung profitiert, schon viel früher Pferde für die Marställe und Heere der sächsischen Kurfürsten gegrast haben. Barocke Prunkpferde und Gewichtsträger …
Die Gründung von Graditz ist nicht genau feststellbar, aber sie fällt in die Zeit des Kurfürsten Johann Georg III von Sachsen um das Jahr 1686 auf dem rechten Elbufer, während die Vorwerke Döhlen und Neubleesern etwa fünf Kilometer östlich von Torgau lagen. Insgesamt umfasste die Gestütsanlage 1.336 Hektar, und bis auf 536, die Ackerland waren, handelte es sich beim Rest um Weidegebiet. Auf Anordnung des Kurfürsten wurde zunächst Repitz, vier Jahre später Döhlen entwickelt, und bereits 1630 erwähnt der Kurfürst in einem Brief an Oberstallmeister von Tauben das „Stutterey-Vorwerk Graditz“. Als der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) zu Ende ging, war Graditz ein verpachtetes Kammergut, das Pferde für den Dresdener Marstall zu liefern hatte, und 1665 berichtete der Verwalter Ketterlein, dass in Graditz noch 34 Pferde standen: 19 alte Stuten, vier Vierjährige, je zwei Zweijährige und Jährlinge, vier Fohlen, zwei Deckhengste und ein Wallach. 1681 wurde die Landwirtschaft von Graditz mit dem erwähnten Döhlen, das schon 1597 als „Vorwerk Graditz mit dem Gute Döhlen“ erwähnt wurde, verpachtet. Im Frühjahr 1686 kaufte der Kurfürst die „Mark Rewitz“ nördlich von Torgau auf dem linken Elbufer (später als Gestüts-Vorwerk Repitz bezeichnet), und richtete dort eine „Stutterly“ ein. Über dem Eingangstor zu diesem Gestütshof steht, im Gegensatz zu den Döhler-Bauten mit 1690, die Jahreszahl 1686. 1691 kamen durch Kauf auch Ländereien des Dorfes Werdau hinzu.
1718 beschloss August der Starke die Errichtung der Gestüte Graditz und Kreyschau, deren Ausbau 1722 und 1723 erfolgte, während gleichzeitig mehrere andere Gestüte aufgelöst oder nach „Graditz“ verlagert wurden, sodass damals in den Stallungen 545 Pferde, darunter 60 englische und orientalische Stuten, gestanden haben sollen. 1723 wurde das Graditzer Barockschloss, das später der Wohnsitz des Landstallmeisters war, nach den Zeichnungen des Hofbaumeisters M. D. Pöppelmann mit den zugehörigen Gebäuden für den sächsischen Kurfürsten und König von Polen, August den Starken, gebaut. Als der Meister des Dresdner Barock, dessen Handschrift auch der weltberühmten Zwinger, Schloss Pillnitz oder das Jagdschloss und Marstall Moritzburg tragen, seine Pläne verwirklicht hatte, war ein hochherrschaftlicher Bau um einen ebensolchen Innenhof mit Schloss und großzügigen Stallungen entstanden.
Am Ende des Napoleonischen Krieges und dem Wiener Kongress 1815, als Sachsen an Preußen ging, fiel auch Graditz mit einem Bestand von 186 Stuten, 179 Fohlen und acht Hengsten an die neuen Herren, und die Warmblutzucht wurde wieder aufgenommen, weil Preußen leichte, zähe, wendige und flinke Pferde für das Heer brauchte. Die dafür notwendigen Veredlertypen mussten jedoch erst eingeführt oder gezüchtet werden. „Veredlungs-Material“ kam einige Jahre später auch aus Neustadt an der Dosse, das 1787 von König Friedrich Wilhelm II. als Gestüt gegründet worden war.

Das Graditzer Schloss am Tag der offenen Tür „300 Jahre Graditz“am 11.10.1986 – inzwischen hat der Freistaat Sachsen die Gestütsanlage in altem Glanz wiederhergestellt – (Foto: Siegfried Müller, Leipzig)
Hier traf 1790 auch die erste vom Staat angekaufte Vollblutstute, die Godolphin Arabian-Urenkelin Gentle Kitty (1774; Silvio) ein, deren Familie später in der österreichisch- ungarischen Zucht eine wichtige Rolle spielte. 1787 war in Neustadt auch der erste nachweisbar importierte Vollblutbeschäler aus England ausgeladen worden, doch deckte der von dem Cade-Sohn Matchem stammende Alfred (1970), dessen Mutter Snap Mare eine Flying Childers Urenkelin war, hier nur ein Jahr. 1805 folgte ihm der 1800 geborene Saxony, der von dem Highflyer-Sohn Delphini stammte, und den Stallmeister C. J. Stubberg im gleichen Jahr auf der Insel gekauft hatte. Im Oktober 1806 musste der Hengst, zusammen mit weiteren 45 Gestütspferden und unter der Führung des „Pferdearztes“ G. Gottlieb Ammon aus Neustadt zu Fuß vor Napoleon fliehen. Zunächst ging es nach Trakehnen, wo sich der dortige Bestand dem Tross anschloss, um gemeinsam in das Gebiet von Szawlen nach Russland zu ziehen. Auf der Rückreise deckte der Vollblüter als Hauptbeschäler einige Jahre in Trakehnen, später wieder in Neustadt.
An dieser Stelle sei auch ein kurzer Blick auf das einstige Trakehnen gerichtet, das der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. 1732 mit mehr als 1.100 Pferden als das „Königliche Stutamt Trakehnen“ im Osten seines Reiches gründete, um die Kavalleriepferde selbst zu züchten. Das Land um den Gründungsort „Trakischken“ – zwischen Gumbinnen und Stallupönen – wurde gerodet und trocken gelegt. Die Gestütsanlagen wurden parkähnlich gestaltet, und im Laufe der Zeit entstand ein Staat im Staate, der sich selbst versorgen konnte, und in dem 1940 etwa 1.000 Menschen Arbeit fanden. Auf den 10.000 Hektar verteilten sich 16 Zuchthöfe mit großer Landwirtschaft, eigenen Handwerksbetrieben, mehreren Schulen, Krankenhaus, Apotheke, Post, einer damals hochmodernen Mühle mit angeschlossenem Speicher, Verwaltung, Wohnungen, dem zentral gelegenem, bekannten Hotel Elch und Friedhöfen. Am Ende des zweiten Weltkrieges mussten die Trakehner aus Ostpreußen fliehen, und eine kleine Population, die den Treck in den Westen schaffte, sicherte den Fortbestand dieser traditionsreichen und ältesten Reitpferdrasse Deutschlands, die auch international als Ursprungszucht längst anerkannt ist. Logisch auch, dass sich die Trakehner Zucht genetisch lückenlos auf die Gründung des Hauptgestüts Trakehnen zurückführen lässt. 1947 wurde in Hamburg der Trakehner Verband gegründet, der heute in Neumünster seinen Sitz hat, und 2007, anlässlich des Trakehner Hengstmarktes, „275 Jahre Trakehner“ mit einer eindrucksvollen Gala feierte.
Als Hofgestüt gegründet, ging das Hauptgestüt 1786 nach dem Tod Friedrich II., mangels privater testamentarischer Verfügung, in das Eigentum des Staates über. Der Aufbau der Zucht wurde durch Kriege und Evakuierungen – 1806/7 nach Russland; 1812/13 nach Schlesien oder durch den Ersten Weltkrieg (1914/1918) – erschwert. Die Hauptaufgabe des Gestüts bestand für etwa 200 Jahre darin, Hengste für die Landespferdezucht zu liefern, während nach dem Ersten Weltkrieg Militär und Landwirtschaft ganz konkrete Anforderungen an die Trakehner stellten, wobei die Landstallmeister Graf Siegfried von Lehndorff, der mit 143 Siegen (495 Starts) im Rennsattel drei mehr notierte als sein Vater Georg, und Dr. Ehlert sich ganz besonders engagierten. Und bis heute werden die Trakehner als einzige Reitpferderasse nach den Prinzipien der Reinzucht mit hohen genetischen Anteilen des englischen und arabischen Vollblüters, des Shagya- und Anglo-Arabers unter Berücksichtigung vorgegebener Selektionskriterien gezüchtet. Und als Hauptaufgabe dazu sieht der Verband „diese Ursprungszucht in ihrer besonderen trakehnerspezifischen Ausprägung zu fördern und durch geeignete Maßnahmen einen bestmöglichen Zuchtfortschritt sicherzustellen,“ um ein „im Trakehnertyp stehendes, rittiges und vielseitig veranlagtes Reit- und Sportpferd mit gutem Exterieur und Charakter zu erhalten.“ Als berühmtester Trakehner gilt bisher Tempelhüter, dessen Vater Perfectionist ein von Lord Wolwerton 1899 gezogener Vollblüter war, der Persimmon zum Vater hatte. Und dieser St. Simon-Sohn zählte zu seinen größten Rennerfolgen das Englische Derby, das Doncaster St. Ledger und einen zweifachen Sieg im Ascot Gold Cup. Tempelhüter war zunächst Landbeschäler in Braunsberg, danach, von 1916-1931, Hauptbeschäler in Trakehnen. Dort deckte er 495 Stuten, die 333 lebende Fohlen hinterließen. 59 davon wurden Trakehner-Mutterstuten, 65 Beschäler.
Heute befindet sich das frühere Trakehnen im russischen Teil des ehemaligen Ostpreußens und heißt Jasnaja Poljana. Pferde gibt es dort nicht mehr, doch der „Mythos der Elchschaufel“ der einstigen Pferdehochburg hat noch viele Freunde. Und so gelang es auch dem „Verein der Freunde und Förderer des ehemaligen Hauptgestüts Trakehnen“, dessen Ziel es ist, „Trakehnen“ mit Spenden als Kulturgut vor dem Verfall zu retten. Der Anfang ist längst gemacht, und im Einvernehmen mit der örtlichen Bevölkerung und den russischen Behörden konnte von den verfallenden Gebäuden bereits das Landstallmeister-Haus, in dem seit 1940 eine russische Schule untergebracht ist, restauriert, mit neuem Anstrich versehen und im Ostflügel zwei Museumszimmer eingerichtet werden.
Und auch das „Trakehner Tor“ erstrahlt wieder in neuem Glanz. Die 1932 aufgestellte, lebensgroße, bronzene Tempelhüter-Statue verluden die Russen 1944 Richtung Moskau, doch kam dreißig Jahre später ein Originalabguss dieser Skulptur in die Reiterhauptstadt Verden/Aller auf einem russischen Tieflader zurück und wurde dort vor dem Deutschen Pferdemuseum aufgestellt.

Das Landstallmeister-Haus im ehemaligen Trakehnen mit der Tempelhüter-Statue (Foto: Archiv Trakehner-Verband)
1822 gelangten zu den Pferden in Graditz, außer denen in Neustadt, noch 24 edle Stuten aus der Normandie und später weitere Pferde aus Neustadt und Trakehnen. Den Grundstein für das Preußische Hauptgestüt Graditz, das diesen Namen schon seit Oktober 1815 trug und 1817 den ersten Vollbluthengst aufgestellt hatte, legten 1833 sechs Vollblutstuten, fünf davon aus England importiert. Der Beschäler war der Engländer Elector, den Lord Egremont 1813 von dem Eclipse-Urenkel Election gezogen hatte, und dessen Urgroßmutter Venus gleichfalls eine Eclipse-Tochter war. Ab 1845 kamen die in Graditz gezogenen Vollblüter in den Rennstall nach Neustadt. Zu den 12 Hengsten, die damals im Hauptgestüt standen, zählten die Vollbrüder Bayard und Swaran, die einen Hengst namens Türk-Main zum Vater hatten, und Bayards Sohn Alcides. Von sechs weiteren Beschälern werden drei als Originaltraber benannt, während drei Stallions als Vollblüter diese Rasse in Graditz seit 1826 vertraten: Der 1819 in England gekaufte Blackamoor war ein 1811 geborener Highflyer-Enkel von Stammford aus der Scorer Mare, deren Mutter Whiskey Mare von Whiskey aus einer Dorimant-Tochter gezogen war. Von 1819 bis 1828 deckte der Hengst in Trakehnen, danach bis 1832 in Graditz. Als weiteren Beschäler führt Martin Beckmann in seiner Sport-Welt-Serie von 1981 den Hengst Hogard von Rubens auf, den jedoch die Pedigree-Datenbank nicht benennt, und der einzige „Rubens“, der infrage käme, wäre der 1805 vom Prince of Wales gezogene Buzzard-Sohn, zu dem jedoch keine weiteren Angaben existieren. Als Mutter von Rubens wird die Ascot Gold Cup-Siegerin Pranks genannt, die eine Hyperiontochter war und 1809 geboren wurde. Der damals dritte Vollblüter im Hauptgestüt war der 18017 von Lord Egremont gezogene Old Dicky-Sohn Dicky aus der Pot8os-Enkelin Parapluie.
Ab 1832 kommen immer mehr Vollblüter nach Graditz, und mit zunehmender Beliebtheit des Englischen Vollblutes auf dem Kontinent wurde diese Zuchtstätte zum Zentrum der Vollblutzucht auf deutschem Boden, nachdem Baron Maltzahn als Leiter der Preußischen Gestütsverwaltung 1866 die in verschiedenen Gestüten stehenden Vollblüter in Graditz zentralisierte und Graf Georg von Lehndorf (ab 1887 gleichzeitig Oberlandstallmeister) zum Leiter von Graditz ernannt hatte. Aus Trakehnen kamen damals 24 Vollblutstuten, aus Neustadt 20 und der Hengst Ibicus (1849; Grey Momus), der ein Inländer war.
In jenen Jahren betrieb Graditz auch eine starke Halbblutzucht mit Oldenburgern, Hannoveranern, Ostpreußen, irischen und normannischen Stuten, um ein starkes Halbblutpferd zu züchten. Als jedoch Siegfried Graf Lehndorff 1906 die Gestütsleitung von seinem Vater übernahm, stellte er die Halbblutzucht, die anschließend erheblich aufstieg, ausschließlich auf ostpreußisches Blut um. Und dank dieses Erfolges blieb die Halbblutzucht auch in Graditz, als die staatlichen Vollblüter für zwanzig Jahre nach Altefeld umzogen. Vorübergehend wurde auch die Zucht der Traber und Maultiere wieder aufgenommen, wobei für letztere aus ostpreußischen Zuchten etwa dreißig Mutterstuten nach Graditz gebracht und von zwei Eselhengsten gedeckt wurden, die aus Italien und Amerika stammten.
Die Bodenbeschaffenheit um das Gestüt war fruchtbar, bester Weizenboden ließ auch Klee und Luzerne gedeihen und sorgte für die Eigenversorgung von Gestüt und Rennstall, und für das Training standen auch zwei Bahnen zur Verfügung, 2.500 Meter Sand und 2.000 Meter Gras. Für den Ruhm dieses Gestütes sorgten in- und ausländische Hengste, und drei von ihnen, die aus dem Rennstall in die Zucht wechselten – Herold und sein Sohn Alchimist, zu denen sich der Hanielsche Ferro gesellte – hatten innerhalb von 14 Jahren alle das Derby und den Großen Preis von Berlin gewonnen, bevor sie in Graditz wirkten. Aber nicht alle „Graditzer Hengste“ deckten im eigenen Gestüt, sondern waren verpachtet oder standen beispielsweise auch in der Filiale Römerhof.
Zu den Importen, die Graf Goorg Lehndorff zur Blutauffrischung der Herde und Verbesserung der Zucht durchführte, zählten mit Nuage (Großer Preis von Paris 1910) und Ard Patrick (Epsom Derby 1902) auch zwei Enkel des ungeschlagenen St. Simon (1881; Galopin). Die ersten großen Erfolge durfte Graditz aber schon einige Jahre früher feiern, als der Stockwell-Enkel Sonntag (1869; Rustic) das Union-Rennen von 1972 gewann, und Potrimpos vierzehn Jahre später für den ersten Derbysieg der „Schwarz-Weiß-Gestreiften“ sorgte.
Als 1913 auch noch Dark Ronald (1905; Bay Ronald) angekauft wurde, dessen Kinder allein 872 Rennen und 13,7 Millionen Mark gewannen, waren die Weichen endgültig gestellt, sodass bis Ende 1945 allein zwölf Derbysieger gefeiert werden konnten, von denen sieben während der Regie von Graf Georg Lehndorf abgesattelt wurden. 1949 war es dann Deutschlands ältestem Privatgestüt Schlenderhan mit der Pharis-Tochter Asterblüte vorbehalten, diesen Derbyrekord zu egalisieren. Wie weit jedoch das Blut dieser importierten Hengste reichte, zeigt das Beispiel des letzten Derbysiegers der DDR: Der Graditzer Filutek, der 1990 in Hoppegarten gewann, war ein von dem Luciano-Sohn Cil stammender Hengst aus der Angeber-Tochter Figura, deren siebte Mutter Fama (Saraband) eine Tochter der Alveole ist. Und Alveole war die Mutter der Ard Patrick-Tochter Antwort, einer großen Linienbegründerin im einstigen Graditz. Trainiert wurde der in den Farben des Rennstalles Berolina laufende Graditzer damals von Heinz Schäfke, während es für den späteren Dresdener Trainer Lutz Pyritz, mehrfacher Champion-Jockey der DDR, im Sattel der dritte Treffer in diesem Rennen war. Und noch einer vertrat den Fama-Zweig der großen Graditzer Siegerfamilie der Alveole: Der Graditzer Hengst Faktotum (1952; Harlekin). Er war der beste Rennhengst der DDR-Zucht, gewann die Dreifache Krone und schlug im „Großen Preis der Sozialistischen Länder“ in Moskau Element, der durch seinen Sohn Anilin berühmt wurde. Faktotums dritte Mutter Fahne stammte von Dark Ronald aus der Flagge, deren Mutter den Namen Fama trug.
Wie wichtig die Importe für die Zucht waren zeigt sich auch daran, dass die ersten beiden Derbysieger der „Schwarz-Weißen“ (Potrimus 1886 und Peter 1891) von dem Franzosen Chamant (1874; Mortemer) abstammten, der 1878 nach Deutschland kam. Der vierte, Habenichts, der 1898 gewann, hatte diesen Franzosen ebenfalls zum Vater, während die Derbysieger von 1893 (Geier) und 1909 (Arnfried) eine Chamant-Tochter zur Mutter hatten, und bei Orient (Bonavista), der für Graditz 1910 das sechste Derby gewann, stand eine Chamant-Enkelin als Großmutter im Pedigree. Als 1919 Gibraltar im Grundewald – nach dem Hannibal-Sohn Gulliver II 1912 – das nächste Blaue Band gewann, hieß sein Vater Nuage, und die Mutter war eine Tochter von Ard Patrick. Ein Jahr später hatte bereits der teuerste Graditzer-Import, Dark Ronald, an Herold seinen ersten Derbysieger, und dieser eine Mutter von Art Patrick. Der zehnte Graditzer, der das „Blaue Band“ für sich entschied, Dionys 1931, stammte von dem Dark Ronalds Sohn Herold aus der Nuage-Stute Dichterin, und der große Alchimist, der zwei Jahre später Derbysieger wurde, vertrat die gleiche Kombination, denn er war von Herold aus der Nuage-Tochter Aversion gezogen. Bevor Schlenderhan viermal hintereinander den Derbysieger feiern konnte, holte der Graditzer Ferro-Sohn Abendfrieden für seine Zuchtstätte 1937 den zwölften Triumph im „Blauen Band“. Und dieser Sieger verband über seine Mutter, die Herold-Tochter Antonia, das Blut von Dark Ronald mit dem von Nuage und Ard Patrick, und deckte später Mydlinghoven. Zu Nuage verband Antonias Mutter Adresse, während Ard Patricks Blutströme über Herolds Mutter Hornisse und Antonias Großmutter Antwort flossen. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges verlor die Dark Ronald Linie an Kraft, doch brachten Derbysieger wie Alarich (Derbysieger 1960) Baalim (1961) Stuyvesant (1976) oder Surumu (1977) die Linie wieder stark zurück, wobei auch der Derbysieger von 1948, Birkhahn, als Beschäler eine tragende Rolle spielte. Dieser startete in Graditz, gewann fünf Hengst-Championate und wurde dann von Gabrielle von Oppenheim für Schlenderhan gekauft. Fünf Jahre später war der Alchimist-Sohn bereits tot, ließ aber anschließend noch drei Championate in der damaligen Bundesrepublik Deutschland folgen.. Und Schlenderhans 16. Derbysieger Sruyvesant war als Priamos-Sohn ein Enkel von Alchimist, und auf der Mutterseite führte der Schlenderhaner zu Schwarzgold, womit zwei ganz große Pferde dieser beiden Zuchten verbunden waren. Wenn man von Dark Ronald spricht, dann darf auch Landgraf nicht vergessenen werden, denn er war sein großer, deutsch gezogener Gegenspieler. Doch dazu später.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam die Zucht nahezu zum Erliegen, denn die gesamte Herde wurde aufgelöst, ein Großteil des Pferdebestandes als Kriegsbeute nach Russland und Polen abtransportiert, und der 15-jährige Alchimist erschossen, weil er sich nicht einspannen ließ oder einen Reiter verweigerte. Der 28 Jahre alte Herold hatte das gleiche Schicksal schon beim Einmarsch der Russen erlitten, womit das vorläufige Ende von Graditz gekommen war. Das weltbekannte Preußische Staatsgestüt, das 56 klassische Sieger absattelte, im Schnitt 40 bis 45 Zuchtstuten unterhielt, jährlich zehn bis 15 Pferde aller Altersgruppen versteigerte, die keinesfalls Ladenhüter sondern begehrt waren, dessen Hengste dank staatlicher Subventionen zu günstigen Taxen auch den Stuten privater Züchtern zur Verfügung standen, und das auch die Kavallerie mit Vollblütern versorgte, um in die Landespferdezucht die nötige Härte und Ausdauer zu bringen, hatte aufgehört zu existieren.
Der Neubeginn war nicht nur in Graditz schwierig, doch begannen die Rennen in Mitteldeutschland 1945 schon ein Jahr früher als in Westdeutschland. 1948 gab es durch den aus Leipzig angereisten Birkhahn eine erste „Gemeinsamkeit“, als der Hoppegartener Derbysieger auch das „Blaue Band“ zu Hamburg gewann. Ein Jahr später meldete sich auch das Gestüt Schlenderhan eindrucksvoll zurück, als es mit Asterblüte und Aubergine alle klassischen Rennen gewann: Schwarzgold Rennen, Diana, Union und Derby gingen an Erstere, St. Ledger und Henckel Rennen an ihre Stallgefährdin. Dass jedoch schon 1951 ein Pferd wie Neckar zur Verfügung stand, das war nicht zu erwarten.
Wenn die deutsche Vollblutzucht heute weltweit geachtet ist, so hat auch Graditz einen Meilenstein dazu beigetragen, diente der Gemeinnützigkeit und wurde dieser gerecht. Über Generationen spielte es neben großen Privatzuchten eine wichtige Rolle und schrieb eines der bedeutendsten Kapitel der deutschen Vollblutzucht. Graditz war aber nicht nur eine Macht, sondern auch eine „Weltanschauung“, und die ganz große Bedeutung dieses Gestüts war die Tatsache, dass es auch privaten Züchtern hervorragende Hengste zur Verfügung stellte, denn der private Beschäler-Erwerb vom Format eines Galtee More (Sieger der englischen Triple Crown), Ard Patrick oder gar eines Dark Ronald, der ein Glücksfall gewesen sein mag, war kaum möglich. Mit Graditz, dessen Rennstall sich nicht am Nützlichkeitssport beteiligte, hat der Staat damals bewiesen, dass er um die Bedeutung der Vollblutzucht wusste, denn auch die Decktaxen (1937 kosteten Alchimist und Herold jeweils 300 Mark) kamen kleinen Züchtern entgegen. Aber auch große Privatzuchten wie Waldfried oder Schlenderhahn zogen von den Graditzer Aktivitäten großen Nutzen. So stammte Oleanders Mutter Orchidee von Galte Moore, und der Vater des großartigen Schlenderhaners, Prunus, war ein Sohn von Dark Ronald.
Bis Graditz seinen ersten Derbysieger, den Charmant-Sohn Potrimpos, absatteln konnte, schrieb man bereits das Jahr 1886, doch als die Schwarz-Weißen Farben fünf Jahre später die deutsche Gewinnstatistik mit rund 250.000 Mark anführten, gab es bereits „Aufregung“. Damals unterzeichneten achtzehn Besitzer eine Resolution an die Rennvereine, um die Graditzer von bestimmten Rennen auszuschließen und Pferden in Privatbesitz in anderen Prüfungen Gewichtserlaubnisse einzuräumen. Welch eine Anerkennung für eine Zucht!
In unserer heutigen Zeit rücken die damaligen Namen wie Abendfrieden, Alchimist, Arjaman, Agamemnon, Aditi, Herold oder Dark Ronald in den Pedigrees der aktiven deutschen Vaterpferde und Zuchtstuten in immer weiter zurückliegende Pferde-Generationen, sodass nur noch verantwortliche Züchter und Gestütsleiter ihre Bedeutung kennen, und der durchschnittliche Turffreund kaum noch beurteilen kann, wie die Graditzer die eine oder andere Zucht beeinflussten. Denkt man allein an Alchimist und Arjaman, dann muss man für die unmittelbaren Nachkriegsjahre nur Adlon, Akari, Alarich, Alpenkönig, Birkhahn, Blauer Reiter, Literat, Priamos, Tajo, Kaiseradler, Kronzeuge, Basalt, Norfolk oder Obermaat und Zank oder andere nennen, um die Leistung dieser Hengste richtig einzuschätzen. Und alles, was mit dem großen Ticino zu tun hat – und das sind außer dem neunfachen Beschäler-Champion beispielsweise Hengste wie Neckar und Orsini – führt den Dark Ronald-Sohn Aditi.
„Ganz früher“ war der Spruch geläufig: „Was wäre Graditz ohne Antwort (1907; Ard Patrick), die Hanielsche Zucht ohne Tay (1895: Bend Or), Schlenderhan ohne Danubia (1902: Saphir), Waldfried ohne Festa (1893: St. Simon)?“ Später gab es eine Abwandlung: Was wäre Graditz ohne Alchimist, Zoppenbruch ohne den Stutenerzeuger Arjaman (als starker Überbeißer heute wohl chancenlos?), oder Schlenderhan nach 1960/70 ohne Birkhahn? Bis 1959 wirkte dieser im Nachkriegs-Graditz, das vorher als Lieferant und Vermittler von Deckhengsten eine ganz besondere Bedeutung erlangt hatte. Andererseits war es auch ein Glücksfall, dass so international anerkannte Fachmänner wie Georg Graf Lehndorff und, als Nachfolger, sein Sohn Siegfried 56 Jahre lang die Geschicke des Gestüts leiteten.
Graditz hatte bei seinen Qualitätsankäufen auch keinerlei Kosten gescheut und, als Oberlandstallmeister Burchard von Öttingen Dark Ronald importierte, tief in die Tasche gegriffen. Für den die Eclipse-Hengstlinie vertretenden, 1905 in Irland geborenen Bay Ronald-Sohn waren das 25.000 Pfund, oder, nach damaligem Wechselkurs, 500.000 Goldmark. Auch der Epsom Derbysieger von 1902, Ard Patrick, ein St. Simon-Enkel, der an der 1907 geborenen Antwort eine der größten deutschen Stammstuten zeugte und von 1904 bis 1923 in Graditz wirkte, war, wie auch der 1894 geborene Galtee Moore, der von 1906 bis 1916 seine Dienste an der Elbe erfüllte, keine Billigware. Ein weiterer Import war der Franzose Nuage, Derby-Sieger, St. Simon-Enkel und 1907 geboren. Der bis 1930 in Graditz stehende Hengst, den Siegfried Graf Lehndorf 1910 für 240.000 Mark kaufte, erwies sich als dreifacher Beschäler-Champion und Erzeuger der großartigen Graditzer Stute Aversion (1914), die Mutter von Aditi und Alchimist, als glänzende Erwerbung. Mit deren Mutter, der Ard Patrick-Tochter Antwort, hatte Nuage bereits in den beiden Vorjahren Anschluss (u. a. Großer Preis von Berlin) und Adresse (Diana, St. Ledger; Mutter von Abendfrieden) geliefert, womit die Stute innerhalb von drei Jahren drei Spitzenprodukte gefohlt hatte. Damit wurde Antwort, die 1928 einging, eine der größten Stammstuten in der deutschen Vollblutzucht. Zwischen 1915 und 1935 gewannen ihre Kinder und Enkel serienweise klassische Rennen, wodurch Graditz oftmals eine beherrschende Rolle im deutschen Rennsport einnahm. Auf der Rennbahn war die Stute als Zweijährige in vier Rennen ungeschlagen, absolvierte aber ein Jahr später nur einen Start und ging ins Gestüt.





