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»Und Sie haben niemanden dort draußen bemerkt?«
»Ich bin noch nicht mal vom Trecker abgestiegen. Ich habe der Polizei den Weg beschrieben. Erst einen Tag später erfuhr ich davon, dass da jemand verschwunden sein soll. Das habe ich damals zu Protokoll gegeben und jetzt geht es wieder von vorne los. Sie sind schon der Vierte, der hier bei mir auftaucht und wieder die gleichen Fragen stellt wie damals. Ich will meine Ruhe haben, das ist doch nicht zu viel verlangt.«
Justin nickte. »Das kann ich verstehen. Aber Sie müssen doch zugeben, dass es ungewöhnlich ist, dass hier zwei Mädchen vor drei Jahren verschwanden und nun eines davon bei Flensburg wieder auftaucht.«
»Das geht mich nichts an, fragen Sie doch das Mädchen.«
Justin überging Tjadens Antwort. »Damals fand eine große Suchaktion statt. Haben Sie auch mitgeholfen?«
Tjaden schüttelte den Kopf. »Keine Zeit, war im Sommer zur Erntezeit.«
Justin Belfort zeigte auf den jungen Mann, der wieder aufgetaucht war und die gesägten Holzstücke zusammensammelte. »Und er, wohl ihr Sohn, hat er bei der Suche geholfen?«
»Ist mein Enkel. Der wohnt in Eckernförde. Hauke ist nur ab und zu hier, wenn Semesterferien sind. Studiert in Kiel und will Meeresbiologe werden.«
Justin schaute sich um. »Das ist ein großer Hof, Sie haben doch sicher jemanden, der hier Ihnen hilft?«
»Meine Frau und ich.«
»War Ihr Enkel damals auch hier auf dem Hof, als es passierte?«
»Nein, damals ist mir der Robert zur Hand gegangen. Ist aber gestorben. Letztes Frühjahr. Verdammter Krebs.«
Justin Belfort notierte Tjadens Angaben in seinem Notizbuch. »Robert?«, fragte er neugierig nach.
»Ja, Krauthoff hieß er. Ist aus dem Dorf, war alleine und hat früher mal als Schreiner gearbeitet. Hat gut mit angepackt und war ein ganz feiner Kerl. Aber ist ja nun nicht mehr. War Mitte fünfzig, noch kein Alter zum Sterben.«
»Ja, Sie haben recht, ist noch kein Alter zum Sterben. Gibt es sonst noch jemanden, der mir etwas über das Verschwinden der Mädchen sagen kann?«
»Unseren Dorfpolizisten können Sie fragen, der wohnt hier in Tennweide. Da war ganz schön was los. Sogar der Hubschrauber ist stundenlang über den Feldern und dem Wald gekreist.«
Justin Belfort schmunzelte, als er an die unschöne Begegnung vorhin dachte. »Mitte fünfzig, graue Haare und etwa einen Kopf größer als ich?«
Tjaden kratzte sich am Kinn. »Muss er wohl sein, fährt oft hier im Dorf Streife und er verscheucht das Ungeziefer.« Der Bauer grinste provokant.
»Es ist nicht alles Ungeziefer, was sich für das damalige Geschehen interessiert«, widersprach Justin.
»Aber die meisten interessieren sich gar nicht für die Geschichte der Mädchen, die wollen doch nur Geld verdienen und die Auflagen steigern. Sie drehen dir das Wort im Mund herum. Da war so einer, Anfang der Woche, wenn der nicht gegangen wäre, hätte ich Hasso auf ihn gehetzt.«
Justin warf dem gefährlich dreinblickenden Mischlingshund einen Blick zu und zwinkerte mit dem Auge. »Da bin ich ja froh, dass Sie mich ein klein wenig besser leiden können.«
»Kann ich gar nicht, aber ihr seid wie die Kartoffelkäfer, kommt immer wieder, solange es noch was zu beißen gibt. Da sag ich lieber gleich, was ich weiß, dann seid ihr zufrieden und ich hab meine Ruhe.«
»Eine Frage hätte ich noch«, sagte Justin. »Gab es damals, als die Mädchen verschwanden, viele Touristen in der Gegend?«
»Da war schon Spätsommer, ein paar Touristen waren wohl noch da, aber die sind meistens am See, der ist in der anderen Richtung.«
»Ich hörte, dass es damals eine Festnahme gab, ein Junge aus dem Dorf. Aber er wurde nach kurzer Zeit wieder freigelassen.«
Tjaden nickte eifrig. »Ja, der Sven. Aber der war es nicht, der hat nur was gefunden, das einem der Mädchen gehörte. Der ist ein bisschen bekloppt, aber der tut niemandem was. Ich hab gleich gesagt, so ein Blödsinn, zu glauben, der hätte was damit zu tun. Der ist lammfromm. Trieb sich damals oft im Wald herum und hat dort gespielt, aber ein Mörder ist das nicht, das ist klar.«
»Lebt Sven noch hier im Ort?«
Tjaden schüttelte den Kopf. »Ist jetzt im Heim. Sein Vater ist Apotheker in Mardorf, der wohnt noch hier.«
Justin Belfort bedankte sich. Seine Recherchen hatten ergeben, dass Sven Thiele seit dem Vorfall in der geschlossenen Pflegeanstalt der Psychiatrischen Klinik Langenhagen lebte und Rudolf Thiele nach wie vor in Tennweide wohnte. Justin schickte sich an, zu seinem Wagen zu gehen, wandte sich aber noch einmal um. »Können Sie mir genau sagen, wo Sie die Fahrräder damals gefunden haben?«
Bauer Tjaden zeigte in Richtung des Waldes.
»Moment, ich habe eine Karte im Wagen.« Justin eilte zu seinem Audi. Der alte Mann folgte ihm. Als Justin die Radwanderkarte auf der Motorhaube auseinandergefaltet hatte, beugte sich Tjaden darüber. Nach kurzer Suche fand er Tennweide und den Wiesenweg, den er mit seinem Finger entlangfuhr, bis kurz vor dem Bannsee ein kleiner Weg nach rechts abzweigte. »Hier, etwa einhundert Meter nach der Abzweigung. Der Wald gehört mir. Da steht ein Gebüsch. Hagebutten sind das. Darin lagen die Räder, aber man konnte sie gut sehen.«
»Also wurden sie nicht versteckt«, murmelte Justin.
»Weiß ich nicht.«
»Sie sagen, man konnte sie sehen, also sind sie nicht versteckt worden, oder derjenige, der sie dort hingebracht hat, wurde gestört.«
»Gestört, wie meinen Sie das?«
»Spaziergänger, Waldarbeiter oder …«
Der alte Mann kratzte sich am Kopf. »Jetzt, wo Sie das sagen«, brummte er.
»Was?«
»Damals war ich jeden Tag da draußen, da hatte ich eine Aufforstung, die zu reinigen war. Die ganze Woche bin ich rausgefahren. In der Frühe raus und dann, wenn es dunkel wurde, wieder zurück.«
»Die Mädchen verschwanden am Mittwoch, das war der 29. September 1999.«
»Kann gut gewesen sein, genau weiß ich das nicht mehr. Aber Ende September wird es wohl so um die neun Uhr dunkel.«
Justin machte Notizen in seinem Notizbuch. »Sehen Sie, jetzt haben wir doch noch etwas herausgefunden, was für den Fall vielleicht wichtig ist.«
Tjaden wirkte ein wenig erschrocken. »Da bin ich vielleicht vorbeigefahren und hinter dem Gebüsch war der Mörder, was? Mein Gott, was da hätte alles passieren können.«
»Vielleicht«, bestätigte Justin Belfort, raffte seine Karte zusammen und verabschiedete sich.
Vom Grubhof fuhr er die gesperrte Straße zum Bannsee entlang bis zu der Feldwegabzweigung, die ihm Bauer Tjaden auf der Karte gezeigt hatte. Der Weg war derart zugewuchert, dass er seinen Wagen stehen lassen musste. Zu Fuß ging er weiter, bis er an das beschriebene Hagebuttengebüsch kam, das sich am Weg entlangrankte. Er suchte es ab, doch mehr als eine weggeworfene Bierflasche, eine alte Plastiktüte und einen leeren Tetrapack fand er nicht. Sicherlich hatte damals die Polizei das Gebüsch und den angrenzenden Wald ohnehin akribisch untersucht. Er machte ein paar Fotos und setzte seinen Weg fort, der ihn zum nahegelegenen Campingplatz führte.
Eine Frau mittleren Alters empfing ihn im Büro, doch als er nach den verschwundenen Mädchen fragte, brach sie das Gespräch unwirsch ab. »Nicht schon wieder …! – Ich habe den Platz vor zwei Jahren übernommen. Der Vorgänger ist verstorben, da werden Sie kein Glück haben.«
Als Justin nach Tennweide zurückkehrte und seinen Audi vor dem Klosterkrug parkte, fielen ihm zwei Wagen auf, die mitten auf dem Kirchplatz standen. Drei junge Männer lehnten an dem einen, einem schwarzen Golf. Jeder hatte eine Bierflasche in der Hand. Im anderen Wagen, einem blauen Honda, saßen zwei Mädchen. Justin schätzte alle fünf auf Anfang zwanzig. Wohl die Dorfjugend, die sich hier versammelte.
Im Klosterkrug lief ihm die Wirtin über den Weg. »Na, hatten Sie Erfolg?«, fragte sie spitz.
»Erfolg?«
Die Wirtin zeigte auf den Fotoapparat. »Haben Sie schöne Bilder gemacht?«
»Ach so«, antwortete Justin. »Ja, sicher.«
4
Trevisan war gegen vier Uhr eingeschlafen. Als ihn der Wecker um acht unsanft aus dem Tiefschlaf riss, brauchte er eine Weile, um sich zurechtzufinden. Gestern Abend hatte er beinahe eine Stunde lang mit Paula telefoniert, die in Irland mit ihrer Therapiegruppe auf dem Shannon eine Bootstour machte und gegen Abend Banagher, das erste Etappenziel, erreicht hatte. Sie fühlte sich wohl. Trevisan hatte aufgeatmet, denn zu Beginn der Woche hatte sie sich noch traurig angehört. Diesmal hingegen hatte sie beschwingt geklungen und sogar gescherzt.
Nach dem Telefonat hatte er sich ein einfaches Mahl zubereitet und sich dann die drei Ordner angesehen, die er aus dem Büro mitgenommen hatte. Kriminaloberrat Volkmar Dittel, der Leiter der Sonderkommission, war im Jahr 2001 pensioniert worden, doch er lebte noch immer in der Nähe von Hannover. Trevisan hatte sich die Adresse aus dem Telefonbuch notiert. Ein Gespräch mit dem Mann würde nicht schaden. Trevisan lümmelte sich auf die Couch, hatte eine CD mit klassischer Musik eingelegt und arbeitete sich Blatt für Blatt durch die Ordner mit den Ermittlungsergebnissen der Soko Radtour. Er hatte einen Notizblock bereitgelegt, um auftauchende Fragen oder Unklarheiten zu notieren. Als er sich todmüde in sein Bett schleppte, war dieser Block vollgeschrieben mit Unstimmigkeiten und Rätseln.
Natürlich waren die Ermittler damals davon ausgegangen, dass die beiden Mädchen unweit des Bannsees ermordet und ihre Leichen irgendwo in der Umgebung versteckt worden waren. Es gab am Steinhuder Meer zahlreiche Moore, Wasserläufe und Tümpel. Doch der Fund des Rucksacks bei Walsrode hatte damals diese Theorie erschüttert. Das Auftauchen der jungen Frau in der Nähe von Flensburg hatte nun alles durcheinandergebracht und sämtliche Vermutungen der Ermittler von damals über den Haufen geworfen. Jetzt erschienen manche Dinge in einem ganz anderen Licht und warfen neue Fragen auf.
Ausgestattet mit den drei Ordnern betrat Trevisan gegen zehn Uhr die Dienststelle in der Schützenstraße und fuhr mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock. Lisa saß bereits am Computer im Soko-Raum und übertrug Daten in die Datenbank.
»Guten Morgen, Chef.« Sie blickte nur kurz auf, bevor sie weiter auf die Tastatur tippte.
»Was machst du gerade?«, fragte Trevisan.
»Spur Nummer 64«, murmelte sie. »Antragungsspuren am Fahrrad des Opfers Sommerlath, bestehend aus Torf und feuchter Erde, Lage Pedal rechts, unten.«
»Ich sehe, du hast dich mit dem Programm schon angefreundet«, scherzte Trevisan.
»Es fehlen drei Ordner.«
Trevisan trat neben sie und stellte die Ordner auf dem langen Konferenztisch ab. »Ich frage mich, wieso die Täter die Räder neben einem Waldweg sichtbar liegen ließen. Sie hätten sie doch einfach nur in eine Torfgrube werfen müssen. Und wenn sie überhaupt keine Spuren hinterlassen wollten, dann wäre es doch auch möglich gewesen, sie einfach mitzunehmen.«
»Mitzunehmen?«, wiederholte Lisa ungläubig.
»Es ist eine Sache, jemanden umzubringen und die Leiche abzutransportieren – auch zwei Leichen lassen sich gut in einem Kofferraum unterbringen. Aber wenn ich zwei Menschen entführen will, die sich das bestimmt nicht gefallen lassen, dann muss ich ausreichend Manpower und Platz haben.«
Lisa dachte angestrengt nach. »Zwei Täter und ein Bus, ein Transporter oder so ähnlich«, folgerte sie nach einem Moment.
»Das wäre eine Möglichkeit und da könnte ich auch die Räder entsorgen und müsste sie nicht auf einem Waldweg in Tatortnähe liegen lassen.«
»Woher willst du wissen, dass die Räder in Tatortnähe lagen?«, fragte Lisa.
»Das Kettchen eines der Mädchen«, antwortete Trevisan. »Der debile Sohn des Apothekers hat die damaligen Ermittler an eine Stelle geführt, die an einer kleinen Lichtung liegt, Luftlinie etwa dreihundert Meter südlich des Bannsees. Und in der Nähe lagen auch die Räder in einem Gebüsch neben einem unwegsamen Waldweg, den man nur mit einem Schlepper befahren kann und wo sie ein Landwirt fand.«
»Das ist doch einfach. Es waren zwei Täter. Einer bleibt beim Wagen und bewacht die Opfer und der andere bringt die Räder weg.«
»Wie oft bist du schon Rad gefahren?«, fragte Trevisan.
»Als Kind sehr oft.«
»Es ist nicht leicht für eine einzelne Person, zwei Räder über unwegsames Gelände zu schieben«, antwortete Trevisan. »Es war noch nicht dunkel und ganz in der Nähe ist ein Campingplatz, der damals gut belegt war. Das ist ein hohes Risiko, wenn man jemanden entführen will.«
»Woher weißt du, dass es hell gewesen ist?«, fragte Lisa, während Trevisan die graue Stellwand zurechtrückte und darauf eine topographische Karte von der Gegend um den Bannsee hängte.
»Der Bauer sagte aus, dass er die Räder bei Anbruch der Dämmerung fand«, erklärte Trevisan. »Gestartet sind die Mädchen an diesem Tag gegen elf Uhr in Neustadt, das liegt hier.« Er zeigte auf die Karte. »Knapp acht Kilometer, das schafft man innerhalb einer halben Stunde. Also gehen wir davon aus, dass sie etwa um 11.30 Uhr in der Nähe von Tennweide waren. Nienburg war ihr nächstes Etappenziel, bis dahin braucht man mit einem Rad etwa drei Stunden. Sie hatten für alle ihre Unterkünfte Abendessen gegen sieben Uhr vereinbart, so war es in Hagenburg im Hotel Schneevoigt und auch in Neustadt im Maro. Auch für den Posthof galt diese Vereinbarung, aber dort sind sie nie angekommen.«
»Wahrscheinlich waren sie am Steinhuder Meer baden, schließlich war das eine Vergnügungstour«, warf Lisa ein.
»Das glaube ich auch. Sie hatten Badeanzüge dabei und eine Bedienstete vom Maro in Neustadt hat ausgesagt, dass sie nach einem Trockenraum gefragt haben. Ich glaube sogar, dass sie darüber die Zeit vergessen hatten und deshalb über die Waldwege in Richtung Nienburg fuhren.«
»Wie kommst du zu der Annahme?«
»Man hätte auch über Tennweide und Mardorf nach Nienburg fahren können. Die Strecke ist gut fünf Kilometer weiter. Aber sie fuhren durch den Wald, obwohl man sich dort auch gut verirren kann. Ich denke, sie hatten es eilig, nach Nienburg zu kommen, deswegen wählten sie die kürzere Route. Das könnte bedeuten, dass sie zwischen 16 und 18 Uhr auf ihre Entführer trafen.«
»Das mag schon sein, aber wie bringt uns das weiter?«, fragte Lisa mit verwirrtem Blick.
Trevisan lächelte. »Die Tatzeit einzugrenzen, ist sehr wichtig. Denn wenn wir einen Verdächtigen haben, dann ist so ein Zeitfenster für die weiteren Ermittlungen von Bedeutung.«
Lisa schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Ja, sicher, das Alibi.«
»Das Alibi!«, bestätigte Trevisan und griff nach einem Edding-Stift. 16-18 Uhr schrieb er neben die Karte auf die Tafel.
Lisa wandte sich wieder dem Computer zu.
»Wie weit bist du?«
»Es fehlen noch 264 Spuren«, antwortete sie.
»Heute Mittag ist Zeit dazu. Wir treffen uns in einer halben Stunde mit einem Pensionär und ich hätte dich gerne dabei.«
Lisa sprang von ihrem Stuhl auf. »Gerne. Ich war noch nie im Außendienst.«
*
Justin Belfort hatte lange geschlafen und beinahe das Frühstück verpasst. Nach mehren Tassen Kaffee, Buttertoast und Marmelade verschwand er wieder auf sein Zimmer. Er überspielte die Fotos des gestrigen Tages auf seinen Laptop und fasste stichwortartig die Aussagen von Bauer Tjaden in einem Script zusammen. Anschließend suchte er in seinem Notizbuch nach der Adresse der Klosterapotheke in Mardorf, die Rudolf Thiele leitete. Er hatte sich vorgenommen, heute das Gespräch mit dem Mann zu suchen und wusste, dass es nicht leicht werden würde. Svens Vater hatte bislang alle Gespräche mit Journalisten abgeblockt. Justin hatte sich eine Strategie zurechtgelegt, in der er Sven die Opferrolle zudachte und das damalige Fehlverhalten der Polizei in den Vordergrund rückte. Es musste ihm einfach gelingen, den Apotheker zu überzeugen, denn ohne dessen Einverständnis würde er nicht einmal in Svens Nähe kommen. Also bereitete er sich akribisch auf das Gespräch mit Rudolf Thiele vor und ging noch einmal alle Fakten durch, die ihm hilfreich erschienen.
Kurz nach elf schnappte er sich seinen Fotoapparat und das kleine Aufnahmegerät und gab an der Rezeption seinen Schlüssel ab. Diesmal stand eine Angestellte hinter dem Empfangspult, der er bislang noch nicht begegnet war.
»Einen schönen Tag«, rief ihm die junge Frau hinterher, als er den Klosterkrug verließ und zu seinem Auto ging.
Bereits von Weitem bemerkte er, dass etwas nicht stimmte. Der Wagen neigte sich nach links. Als er näher kam, erkannte er den Grund dafür. Der vordere Reifen war luftleer. Er fluchte. Vielleicht war er gestern auf dem Waldweg in einen Nagel gefahren? Er umrundete das Auto und blieb verdutzt stehen. Auch im hinteren Reifen fehlte Luft.
»So eine verfluchte Scheiße!«, brüllte er. Deutlich waren die Einstiche in der Wandung des Reifens zu erkennen.
»Etwas nicht in Ordnung?«, ertönte eine Stimme hinter ihm.
Justin Belfort fuhr herum und schaute in das fragende Gesicht des Polizisten, der ihn am Vortag kontrolliert hatte. Er zeigte auf den Reifen. »Finden Sie das etwa in Ordnung?«
»Das kommt davon, wenn man gesperrte Wege fährt …«
»Hören Sie, Oberkommissar Klein – das ist doch Ihr Name, oder? Das sieht ein Blinder mit einem Krückstock, dass hier jemand mit einem Messer am Werk war. Ich glaube nicht, dass Sie als Gesetzeshüter so etwas billigen können. Das geht entschieden zu weit.«
»Sie haben recht, das geht wirklich zu weit, aber Sie gehen hier manchen Leuten auf den Geist«, erklärte Oberkommissar Klein. »Viele leben davon, ihre Ferienwohnungen im Sommer an Touristen zu vermieten. Die haben kein Interesse daran, den Mordfall wieder in den Schlagzeilen zu sehen. Wissen Sie, damals, nachdem das Verbrechen bekannt wurde, standen beinahe die Hälfte aller Ferienwohnungen leer. Sogar auf dem Campingplatz reisten besorgte Gäste ab, weil hier ein Mädchenmörder sein Unwesen trieb. Das kommt bei den Leuten, die hier leben und ihr Geld sauer verdienen müssen, nicht besonders gut an. Und jetzt, wo halbwegs Gras über die Sache gewachsen ist, kommen Sie daher und wühlen alles wieder auf. Da kommen solche Dinge schon mal vor.« Klein zeigte auf die beiden Reifen.
»Haben Sie schon mal was von Pressefreiheit gehört? Ich glaube nicht, dass ich in einem Land leben und arbeiten will, in dem man die Arbeit der Presse unterdrückt. Und ich glaube auch, dass die Öffentlichkeit ein Recht darauf hat, zu erfahren, was damals hier passiert ist.«
»›Ein Recht darauf‹», wiederholte der Polizist verächtlich. »Eine Sonderkommission hat monatelang ermittelt, über hundert Leute waren im Einsatz. Die ganze Gegend wurde mehrfach durchsucht. Sogar ein Düsenjet der Bundeswehr ist über das Gebiet geflogen. Sie haben Aufnahmen mit einer hochauflösenden Spezialkamera gemacht, aber von den Mädchen gab es keine Spur. Und jetzt, nachdem eins davon über zweihundert Kilometer von hier wieder aufgetaucht ist, muss doch wohl auch Ihnen klar sein, dass niemand im Ort mit der Sache zu tun hat. Wissen Sie, was ich glaube? Das Ganze war ein großer Zufall. Da sind ein paar Rocker zufällig durch unsere Gegend gefahren und haben sie einfach so mitgenommen. Niemand aus diesem Ort und niemand aus der Gegend hat etwas mit der Sache zu tun. Das war einfach nur Schicksal. Und deshalb sind Sie hier auch an der falschen Adresse. Fahren Sie nach Dänemark, dort sind Sie richtig, denn …«
»Wie kommen Sie auf Dänemark?«, fragte Justin Belfort.
Klein lächelte ungläubig. »Kommen Sie, Sie haben doch sicherlich auch schon von diesen Rockern bei Padborg gehört, die ein paar Frauen festhielten und zur Prostitution zwangen. Es gibt nicht wenige aus unseren Reihen, die da einen Zusammenhang vermuten. Das Mädchen, das man in Flensburg aufgegriffen hat, war übrigens hochgradig süchtig, wussten Sie das?«
»Und wenn schon.«
»Mann, sehen Sie das nicht?! Diese Rocker fahren zufällig hier durch und zwei junge Mädchen laufen ihnen über den Weg. Mitten im Wald, mitten in der Einsamkeit. Die Kerle sind absolut skrupellos. Sie schlagen zu, entführen die beiden und halten sie gefangen. Sie zwingen sie zur Prostitution und machen sie süchtig, damit sie nicht weglaufen können. Diese Leute sind abartig. Ihnen liegt nichts an einem Menschenleben. Und dann gelingt es einem der Mädchen zu entkommen. Dabei springt sie aus einem fahrenden Wagen. Für mich klingt das absolut plausibel.«
Justin Belfort rieb sich über das Kinn. »So könnte es gewesen sein«, murmelte er.
»Was ist jetzt mit der Anzeige?«, fragte Klein und zog einen Kugelschreiber aus seiner Hemdtasche. Er zeigte auf die zerstochenen Reifen des Wagens.
»Das bringt doch sowieso nichts«, entgegnete Justin.
Oberkommissar Klein steckte seinen Kugelschreiber wieder ein und nickte kurz. »Einen Reifenhändler gibt es in Neustadt.«
Justin atmete tief ein. »Danke«, sagte er und machte sich auf den Weg zurück in den Klosterkrug.
5
Kriminaloberrat a. D. Volkmar Dittel war ein Beamter vom alten Schlag. Er empfing Trevisan und seine Kollegin Lisa Winter in seinem Wintergarten und trug eine dunkle Stoffhose, ein weißes Hemd, eine beige Weste und darunter eine absolut korrekt sitzende Krawatte, die farblich auf seine Kleidung abgestimmt war. Seine grauen Haare waren zu einem Seitenscheitel gekämmt, so dass er wie ein gestrenger Oberlehrer eines kirchlichen Internats aus dem vorigen Jahrhundert wirkte.
Er bot Trevisan einen Platz an, während er Lisa eher missbilligend beäugte und – wohl wegen ihres schrillen Aussehens – nur mit einem abweisenden Nicken bedachte. Trevisan kannte diesen Menschenschlag, lange genug hatte er unter Kollegen mit preußischem Gedankengut gearbeitet. Er schob den Stuhl neben sich ein klein wenig in Lisas Richtung und wartete, bis seine neue Kollegin sich gesetzt hatte, ehe er auch er Platz nahm.
»Sie sind neu beim LKA«, stellte der Pensionär distanziert und überaus sachlich fest.
»Da haben Sie recht, ich habe zuvor bei der Kripo in Wilhelmshaven gearbeitet«, antwortete Trevisan wahrheitsgemäß
»Ich bin zwar schon ein paar Tage in Pension, aber noch kenne ich die meisten Kollegen«, fuhr Dittel fort, der wohl gewohnt war, in solchen Unterhaltungen das Wort zu führen. »Sie arbeiten im Dezernat 32, sagen Sie? Ich kenne Kriminaloberrat Engel noch aus seiner Anwärterzeit, ich hoffe, es geht ihm gut.«
»Ich denke schon«, antwortete Trevisan. »Wir haben Ihren Fall auf den Tisch bekommen. Es haben sich neue Umstände ergeben, aber das wissen Sie ja wohl bereits.« Er hatte sich schon gedacht, dass dieser Kollege trotz Pensionierung noch lange nicht mit dem Polizeiberuf abgeschlossen hatte.
»Ich habe davon gehört«, bemerkte Dittel mit gespielter Beiläufigkeit. »Jetzt ist mir auch klar, warum unsere Suche damals erfolglos blieb. Wir haben alles versucht, sogar das Militär wurde von mir um Unterstützung ersucht. Ich kenne General Friedmann von der Luftwaffe sehr gut …«
»Ich habe die Akten gelesen«, fiel ihm Trevisan ins Wort.
Dittel räusperte sich. »Davon gehe ich aus, und deswegen frage ich mich auch, was ich noch für Sie tun könnte. Wir haben uns nichts vorzuwerfen, wir haben alles unternommen.«
»Das steht außer Frage«, antwortete Trevisan, der gegen den Eindruck anging, Dittels Arbeit bewerten zu wollen. Schließlich hoffte er, von dem Mann noch Dinge zu erfahren, die er nicht aus den Akten entnehmen konnte. »Mich interessieren vor allem Ihre Überlegungen und Mutmaßungen. Ich kenne die Art und Weise, wie Polizeiakten angelegt werden. Am Ende fliegt alles heraus, das nicht benötigt wird, und dadurch geht so mancher Ansatzpunkt verloren, der erst einmal im Sande verlief. Aber eine gewisse Zeit später, aus einem anderen Blickwinkel, könnte es durchaus lohnend sein, dieser Spur zu folgen, auch wenn sie noch so vage klingt.«
Dittel lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Trevisan ist Ihr Name? Ich glaube, ich habe schon von Ihnen gehört. Waren Sie im Ermittlungsdienst tätig?«
»Beim FK1 in Wilhelmshaven, ich habe mehrere Jahre das Kommissariat geleitet.«
»Gut, das dachte ich mir schon, sonst hätten Sie mir die Frage nicht gestellt«, antwortete der pensionierte Polizist nachdenklich. »Ich war beinahe dreißig Jahre im Ermittlungsdienst und weiß, was Sie meinen. Meinem Gefühl nach sind beide Mädchen tot. Sie sind dort im Wald ihrem Mörder begegnet. Zufällig, glaube ich. Ich denke noch immer, dass es der Junge war, dieser Apothekersohn. Und er hatte Hilfe. Nicht bei der Tat, aber anschließend, beim Verschleiern der Spuren und beim Beseitigen der Leichen. Bei diesem Mädchen, das oben im Norden aufgetaucht ist, kann es sich nicht um unser Tatopfer handeln. Da liegt sicherlich eine Verwechslung vor.«






