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»Das DNA-Muster ist identisch«, warf Trevisan ein. »Wissenschaftlich gesehen gibt es keine Zweifel.«
Kriminaloberrat a. D. Dittel rümpfte die Nase. »Das eine ist die Wissenschaft, das andere ist mein Gefühl.«
»Was glauben Sie, ist da draußen am Bannsee passiert?«, fragte Trevisan.
Dittel richtete sich auf. »Sie fuhren mit ihren Rädern auf dem Waldweg bis zur Lichtung und dort ist es passiert. Sie liefen diesem Apothekersohn in die Arme und der ist ausgerastet. Der klassische Fall.«
»Wer könnte ihm geholfen haben, die Leichen und die Spuren zu beseitigen?«, fragte Lisa.
»Er hat einen Vater, fragen Sie doch den.«
»In den Akten steht, dass der Vater ein Alibi hat«, wandte Trevisan ein. »Er kam erst zurück in den Ort, als die Suche bereits …«
»Fragen Sie mich nicht, wie er das geschafft hat«, fiel ihm Dittel ins Wort. »Blut ist dicker als Wasser. Uns ist es nicht gelungen, sein Alibi zu erschüttern. Er hielt einen Vortrag in Hamburg, aber das wissen Sie ja bereits.«
»Was macht Sie so sicher, dass es der Junge war?«, fragte Trevisan.
»Wir hatten Zeugen, die ihn etwa zur angenommenen Tatzeit am Waldrand unweit von diesem Gehöft gesehen haben«, erklärte Dittel. »Ich habe einen Beschluss erwirkt und sein Zimmer durchsucht. Er hatte die Kette eines der Mädchen dort versteckt und rastete aus, als wir sie fanden und ihm wegnahmen. Zu viert mussten wir ihn bändigen, der hatte Bärenkräfte. Ein riesiger und jähzorniger Kerl mit dem Verstand eines kleinen Kindes, was glauben Sie, was der alles anrichten kann. Es war unverantwortlich, ihn einfach so herumlaufen zu lassen.«
Trevisan lächelte. »Der Psychiater, der den Jungen damals untersuchte, ist da ganz anderer Auffassung.«
Dittel wischte Trevisans Einwand mit einer Handbewegung fort. »Er schleicht dort im Wald herum und trifft auf die Mädchen und sie geraten in Streit, dann passiert es und ehe sich die Mädchen versehen, sind sie tot. Irgendwie informiert er seinen Vater, der die Leichen beseitigt, doch die Kette übersieht er. Anschließend schnappt sich der Vater den Rucksack eines der Opfer und wirft ihn weit entfernt von Tennweide auf einem Rastplatz an der Autobahn in ein Gebüsch, damit er gefunden wird und alle glauben, der Täter stammt nicht aus dem Ort. Danach kehrt er in den Ort zurück und tischt uns die Geschichte von diesem Seminar auf. Sagen Sie selbst, Herr … Herr …, das klingt doch plausibel. Ich konnte ihm nur nicht nachweisen, dass er das Seminar bereits vor siebzehn Uhr verlassen hat. Sie glauben gar nicht, wie sehr mich das beschäftigt.«
»Trevisan«, antwortete Trevisan. »Trevisan ist mein Name und ich bin ehrlich gesagt nicht Ihrer Meinung. Außerdem gibt es da eine DNA-Spur am Rucksack …«
»… die nichts mit dem Fall zu tun haben muss«, schnitt ihm Dittel abermals das Wort ab. »Wer weiß, wie lange der Rucksack dort schon lag und wie viele neugierige Passanten da schon dran waren. Nein, ich bin felsenfest davon überzeugt, der Junge war es und der Vater hat die Drecksarbeit übernommen, damit sein Sohn nicht in eine geschlossene Anstalt muss. Und es hat ja auch geklappt. Die Justiz ließ ihn wieder laufen, nachdem ich einen Unterbringungsbefehl gegen ihn erwirkte.«
»Sie haben recht, die DNA-Spur muss nicht zwangsläufig vom Täter stammen«, stimmte Trevisan zu. »Aber die Lage der Spur zwischen den Trageriemen spricht nicht unbedingt für eine flüchtige Berührung. Außerdem lag der Rucksack in der Nähe des Walsroder Kreuzes. Erklären Sie mir, wie hätte der debile Junge den dort ablegen können? Er war nicht mobil und sein Vater war an diesem Tag in Hamburg.«
»Ich weiß nicht, wer ihm geholfen hat, aber für mich steht fest, dass es der Junge war. Der Richter hatte Bedenken und ließ ihn wieder laufen, weil ein Gutachter zur Auffassung kam, dass der Apothekersohn zu koordiniertem Handeln nicht in der Lage ist. Und ich hatte nur das Kettchen in der Hand. Das war dem Richter zu wenig.«
Trevisan schüttelte den Kopf. Dieser Mann hatte sich in seine Geschichte verrannt und es war sinnlos, mit ihm weiter darüber zu sprechen. Er erhob sich und lächelte freundlich.
Lisa räusperte sich. »Sie halten wohl nicht viel von moderner Forensik und wissenschaftlichen Methoden.«
»Wir ließen damals umgehend ein DNA-Profil der Mädchen erstellen«, entgegnete Dittel bissig. »Ich war selbst dabei, als wir die persönlichen Gegenstände der Mädchen bei den Eltern abholten. Ich sperre mich also überhaupt nicht gegen moderne Ermittlungsmethoden, ich behaupte nur, dass Wattestäbchen und Reagenzgläser keine echte Ermittlungsarbeit ersetzen können.«
»Es wurden mittlerweile sehr viele Altfälle durch wissenschaftliche Methoden geklärt«, widersprach Lisa.
»Ach, Mädchen«, antwortete Dittel hochmütig. »Ich war über vierzig Jahre im Ermittlungsdienst tätig. Ich habe Dinge erlebt, die Sie mir kaum glauben werden. Ich vertraue nur einem.«
»Und das wäre?«, fragte Trevisan.
Dittel fasst sich an seine Nasenspitze. »Meinem kriminalistischen Spürsinn«, antwortete er.
Trevisan kratzte sich an der Stirn. Er zog eine Visitenkarte aus seiner Jackentasche, die er dem ehemaligen Polizisten reichte. »Vielen Dank, Sie haben uns sehr geholfen«, sagte er mit gespielter Freundlichkeit. »Falls Ihnen doch noch etwas einfällt …«
»Eine schöne Floskel«, antwortete der Kriminaloberrat. »Wenn Sie ehrlich wären, dann würden Sie zugeben, dass ich Sie eher verwirrt habe, als Ihnen Klarheit zu verschaffen. Aber grüßen Sie mir Ihren Dezernatsleiter, ich wusste schon damals, dass er es weit bringen wird.«
»Sicher«, entgegnete Trevisan und reichte Dittel die Hand.
*
Justin Belfort hatte über seine Redaktion einen Notfallservice verständigen lassen, der die zerstochenen Reifen vor Ort austauschte. In der Zwischenzeit hatte er seine Redaktionsassistentin angewiesen, über Padborg und die ominöse Rockergruppe Erkundigungen einzuziehen. Vielleicht hatte dieser Dorfpolizist recht und die Entführung der jungen Frauen vor drei Jahren hatte etwas mit der Sache zu tun.
In der Zwischenzeit lehnte er am Geländer und schaute dem Reifenmonteur zu.
»Das war saubere Arbeit«, verkündete der Mechaniker, seinem Teint nach ein Südländer.
»Zerstochen, oder?«, fragte Justin.
»Hundert Prozent«, bestätigter der Monteur. »Beide, war wohl ein Stilett oder so was.«
Justin nickte. Sein Handy klingelte und Sina Stühr, seine Redaktionsassistentin, war am Apparat.
»Vor fünf Tagen wurden tatsächlich sieben Rocker in Padborg von der dänischen Polizei verhaftet«, erzählte sie. »Die Gruppierung nennt sich Black Lions. Sie hausten in einem Anwesen vor der Stadt. Es gab Hinweise auf einen Drogendeal. Die Polizei stürmte das Anwesen und fand beinahe ein Kilo Heroin. Bei der Durchsuchung stießen sie auf einen Gewölbekeller, in dem die Kerle zwei junge Frauen eingesperrt hatten. Es waren Russinnen, die von den Rockern festgehalten und zum Sex gezwungen worden waren. Die Kerle sitzen jetzt im Gefängnis und werden wohl so schnell nicht mehr herauskommen. Sie haben auf die Polizei gefeuert und zwei Beamte des Einsatzkommandos verletzt. Einer der Rocker wurde bei dem Feuergefecht getroffen und erlag im Krankenhaus seinen Verletzungen.«
»Du musst herausfinden, wer die Ermittlungen leitet«, sagte Justin. »Vielleicht hängt das mit dieser Sache hier zusammen.«
»Ich habe meine Fühler bereits ausgestreckt«, antwortete Sina. »Schließlich arbeite ich schon lange genug für dich.«
»Dann sag Monika, dass ich nach Padborg muss, wenn ich hier fertig bin.«
»Bleibst du noch lange?«
»Ich fahre morgen zurück. Ich will sehen, ob ich an den Vater des Jungen herankomme, den die Polizei damals verhaftet hat. Aber die Leute hier sind nicht gerade nett zu mir, ich komme mir vor wie eine Pestbeule und einen Bullen habe ich auch ständig am Hals.«
»Pass auf dich auf!«
»Mir passiert schon nichts.«
»Vergiss die zerstochenen Reifen nicht. Monika ist ganz schön sauer und meint, das ist ein Anschlag auf die Pressefreiheit. Sie will, dass du Anzeige erstattest und wir einen Bericht darüber bringen.«
Justin nahm das Telefon ans andere Ohr und schaute zu, wie der Mechaniker den Wagenheber absenkte. »Wenn ich darüber im Magazin berichte und Anschuldigungen gegen die Leute hier erhebe, dann kann ich gleich abreisen. Hier macht sowieso keiner den Mund auf, bis auf den Bauern, mit dem ich gestern redete, ich glaube sogar, es hat ihm gefallen, auch wenn er sich etwas abweisend verhielt.«
»Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«, fragte Sina Stühr.
»Ja, ruf beim LKA an und frage, wer die Ermittlungen leitet. Und mach einen Termin aus. Bleib beharrlich und lass dich nicht einfach abweisen, du weißt: Die Öffentlichkeit hat ein Recht drauf, Pressefreiheit, Informationspflicht und so weiter.«
»Ich tue, was ich kann.«
»Davon gehe ich aus«, antwortete Justin und beendete das Gespräch. Der Mechaniker kam auf ihn zu.
Er hielt ihm einen Quittungsblock unter die Nase. »Zwei Reifen, vor Ort montiert, ich brauche eine Unterschrift.«
Justin kritzelte seinen Namen auf die Quittung, schließlich drückte er dem Mechaniker einen Zehner in die Hand. »Bin ich noch was schuldig?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Die Rechnung geht an die Redaktion und danke für den Auftrag.«
»Bitte, bitte, aber darauf hätte ich gerne verzichtet«, scherzte Justin und wartete, bis der Mechaniker mit seinem Service-Wagen wegfuhr, bevor er selbst in seinen Audi stieg.
*
»Was hat das jetzt gebracht?«, fragte Lisa, nachdem Trevisan den Wagen gestartet hatte und den Wagen aus der Einfahrt lenkte.
»Was glaubst du?«
Lisa zuckte mit der Schulter und legte den Gurt an. »Viele Neuigkeiten hatte der nicht gerade auf Lager. Im Gegenteil, er ist ein verbohrter alter Mann.«
»Da magst du recht haben, aber es ging mir nicht um Neuigkeiten. Es ging mir um sein Gefühl, seine Empfindungen, verstehst du?«, antwortete Trevisan.
Lisa schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was du meinst.«
Trevisan blinkte und bog in die Hauptstraße ab. »Wenn ein schlimmes Verbrechen geschieht und du wirst gerufen, dann ist der Fall noch heiß. Du stolperst mitten hinein in den Schmerz, in die Grausamkeit und in die Trauer. Du nimmst alles mit deinen Sinnen auf. Nicht nur die Worte und das, was du siehst, auch die Regungen, die Stimmungen der Menschen, denen du begegnest, mit denen du sprichst. Das Verbrechen ist präsent, es umgibt dich, den Tatort, es ist wie eine Aura. Und der erfahrene Ermittler, der saugt alles in sich auf und das ergibt ein Gesamtbild, eine Komposition des Schreckens, verstehst du?«
Lisa schüttelte den Kopf.
»Okay, dann anders … – Hast du schon mal auf eine heiße Herdplatte gefasst?«
Lisa nickte.
»Und was hast du empfunden?«
»Blöde Frage! Es hat furchtbar wehgetan, was sonst«, entgegnete Lisa.
»Eben, es tat weh, du konntest den Schmerz spüren und die verbrannte Haut riechen. Ganz anders als auf einer kalten Herdplatte, von der du weißt, dass sie dir sehr wehtun kann, wenn sie heiß ist. Aber sie ist es eben nicht, deswegen arbeitet hier nur dein Verstand und dein Gefühl hat Pause. Verstehst du es jetzt?«
Lisa nickte und fuhr erschrocken zusammen, als Trevisan scharf bremsen musste, weil er zu spät erkannt hatte, dass der Wagen vor ihm anhielt.
Als er wieder losfuhr, entspannte sich Lisa. »Und der Fall ist kalt.«
»So kalt wie ein Eisbecher beim Italiener«, bestätigte Trevisan. »Und wir müssen den Fall wieder anheizen, damit wir nicht nur mit dem Verstand arbeiten, sondern auch mit unserem Gefühl.«
Lisa legte ihren Zeigefinger gegen die Stirn. »Ich hab’s kapiert. Du bist bestimmt ein guter Ermittler, aber ein verdammt schlechter Autofahrer.«
»Ich weiß«, antwortete Trevisan. »Und Dittel war jetzt auch nicht unbedingt ein gutes Beispiel für einen Mann, der mit Herz und Verstand ermittelt. Aber zumindest weiß ich jetzt, was ich von ihm und seiner Arbeit zu halten habe.«
Eine Weile schwiegen sie, ehe Lisa wieder das Wort ergriff. »Was machen wir als Nächstes?«
»Wir reden mit den Eltern der Mädchen, besser gesagt mit den Reubolds. Die Sommerlaths sind im letzten Jahr auf der Autobahn bei Venedig tödlich verunglückt.«
Lisa blickte betreten zu Boden. »Ja, ich habe den Aktenvermerk gelesen. Das ist schon verrückt. Sie sind gestorben, ohne zu wissen, dass ihre Tochter noch am Leben ist. Das arme Mädchen hat nun überhaupt niemanden mehr …«
»Das ist nicht ganz richtig«, fiel ihr Trevisan ins Wort. »Es gibt noch eine Tante in Florida.«
»Ja, aber ich meine hier, in Deutschland. Wenn ich im Koma liegen würde, hätte ich gerne jemanden an meinem Bett sitzen.«
Trevisan bog in Richtung Schützenstraße ab und stoppte vor der Zufahrt der Tiefgarage. »Wir machen jetzt mit den Spuren weiter und steigen morgen richtig ein.«
»Morgen ist Samstag«, entgegnete Lisa.
»Ich weiß. Aber wir arbeiten an einem Mordfall, da gibt es keine Wochenenden.«
»Willst du morgen zu den Reubolds?«
Trevisan nickte.
»Muss ich da mit? ich weiß nicht … Da habe ich kein so gutes Gefühl. Diese Leute gehen bestimmt gerade durch die Hölle.«
Trevisan verstand, was Lisa meinte. »Wenn du nicht willst, musst du nicht.«
»Danke.«
»Fein, dann ran an den PC, bis heute Abend haben wir alle Daten geordnet und übertragen. Du wirst sehen, wie hilfreich ein systematisch aufgebautes und geordnetes Nachschlagewerk ist.«
6
In der Klosterapotheke in Mardorf herrschte Hochbetrieb. Neben zwei Helferinnen stand auch der groß gewachsene Apotheker im Stress. Erst in der letzten Woche hatte Justin in einem Bericht gelesen, dass Allergien auf dem Vormarsch waren. Schaute man in die Gesichter der Kunden mit ihren verschwollenen und geröteten Augen, sah man deutlich, dass die Reportage nicht aus der Luft gegriffen gewesen war. Justin Belfort stellte sich in eine Ecke und wartete geduldig, bis sich der Verkaufsraum leerte.
Er musste lange warten, denn für jeden Kunden, der ging, betrat ein weiterer die Apotheke. Beinahe eine Stunde verging. Mehrmals wurde Justin von einer Angestellten nach seinen Wünschen gefragt, doch wenn er auf den Apotheker zeigte und sagte, dass er mit Herrn Thiele sprechen wolle, wurde er vertröstet. Er hatte Geduld, schließlich blieb ihm nichts weiter übrig, denn zu Hause würde ihn der Apotheker bestimmt nicht empfangen. Doch hier konnte er Justin nicht ausweichen.
Als nur noch zwei Kunden im Verkaufsraum waren, wagte er einen Vorstoß. Der Apotheker stand hinter der Ladentheke und füllte ein Formular aus, als er an ihn herantrat.
»Guten Tag, Herr Thiele, hätten Sie einen Augenblick Zeit für mich?«, fragte Justin freundlich.
Ebenso freundlich blickte der Apotheker auf. »Sicherlich, womit kann ich Ihnen helfen?«
Justin Belfort zückte seinen Presseausweis. »Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten. Nur ein paar Fragen, ich fasse mich kurz. Ich finde das nämlich eine ganz schwache Leistung der Polizei und ich denke, Ihnen sollte Gelegenheit gegeben werden, so manches geradezurücken.«
Die Gesichtszüge des Apothekers waren plötzlich wie versteinert, das Lächeln aus seinem Gesicht verschwunden. Er beugte sich vor. »Verschwinden Sie!«, zischte er leise. »Verschwinden Sie, bevor ich die Polizei rufe.«
Justin hob beschwichtigend die Hände. »Ich bin nicht von einem Klatschblatt, ich komme vom Direkt-Magazin aus Hannover und ich mache eine Reportage über ungelöste Kriminalfälle und Justizirrtümer. Deswegen bin ich hier. Sie haben doch sicherlich gehört, dass es eine überraschende Wendung im vermeintlichen Mordfall von Tennweide gegeben hat. Eines der Mädchen ist wieder ausgetaucht, lebend. Es ist mir ein Anliegen, den Fall der beiden Radfahrerinnen in meiner Reportage aufzubereiten, denn ich finde, es wurde viel zu wenig getan, um das Verbrechen aufzuklären. Schauen Sie sich unser Rechtssystem doch einmal an, es fehlt an allem, es gibt zu wenig Polizisten und auch die Kriminaltechnik hinkt der Entwicklung weit hinterher. Über die Justiz und ihre teilweise weltfremden Entscheidungen möchte ich gar nicht reden.«
Thiele runzelte die Stirn und seine abweisende Haltung lockerte sich ein wenig.
»Nur eine halbe Stunde Ihrer Zeit«, bat Justin. »Mehr nicht. Hören Sie mich bitte an, und wenn Sie dann immer noch der Meinung sind, dass Sie nicht über die Sache reden wollen, dann verschwinde ich und Sie sind mich los. Falls aber doch, dann könnten Sie den anderen Reportern, die angesichts der Wendung in diesem Kriminalfall sicherlich noch auftauchen werden, einfach sagen, dass Sie exklusiv mit dem Direkt-Magazin zusammenarbeiten. Wie wäre das?«
»Das mit dem Mädchen stimmt wirklich?«, fragte Thiele.
»Ja, es steht mittlerweile fest«, antwortete Justin. »Es gab einen DNA-Vergleich. Glauben Sie mir, ich spiele mit offenen Karten. Das Direkt-Magazin ist ein seriöses Blatt. Wir haben es nicht nötig, die Leute hinters Licht zu führen.«
Thiele überlegte, schließlich nickte er. »Gut, zwanzig Minuten. Kommen Sie mit nach hinten.«
Lächelnd folgte Justin Belfort dem Apotheker.
*
Kabel und Messsonden führten von dem reglosen Körper zu den Apparaten neben dem Bett auf der Intensivmedizinischen Station der Flensburger Diako-Kliniken. Der behandelnde Arzt betrachtete die Krankenakte. Die junge Frau lag im Koma. Bei ihrem vermeintlichen Unfall hatte sie mehrere Knochenbrüche und innere Verletzungen davongetragen, besonders gravierend waren die Kopfverletzungen. Eine Schädigung des Gehirns konnte man nicht ausschließen. Es blieb nicht viel mehr, als abzuwarten, ob der ausgemergelte Körper den Kampf ums Überleben gewinnen oder verlieren würde.
Hauptkommissar Freddy Seelmann vom Flensburger K 1 stand vor dem Bett und musterte den Arzt fragend.
»Ich kann wirklich nicht sagen, wie lange es noch dauern wird, bis Sie mit ihr reden können«, sagte der Mediziner. »Wenn Sie überhaupt noch einmal zu Bewusstsein kommt. Medizinisch gesehen ist sie derzeit stabil, aber für eine Prognose ist es noch viel zu früh.«
»Sie könnte in der Vergangenheit vergewaltigt worden sein, steht im Bericht des Rechtsmediziners«, zitierte Freddy Seelmann aus seinem Notizbuch.
»Das kann gut sein. Sie hat Verletzungen im Vaginalbereich, die darauf schließen lassen. Aber die sind durchweg älter. Außerdem gibt es Hautveränderungen an den Handgelenken. Ich bin zwar kein Spezialist, aber sie könnten von einer Fesselung herrühren. Sicher bin ich mir da nicht, es könnten auch andere Gründe zur Vernarbung des Gewebes geführt haben.«
Da die junge Frau derzeit nicht geschäftsfähig war, hatte das zuständige Gericht der Sozialstelle der Stadt die Vormundschaft übertragen und eine Pflegerin bestellt, die das Krankenhaus und sämtliche behandelnde Ärzte von der Schweigepflicht entbunden hatte. Außerdem war über die Staatsanwaltschaft ein gerichtsmedizinisches Gutachten beantragt worden, das inzwischen auf Freddys Schreibtisch gelandet war. Nun war er ins Krankenhaus gefahren, um darüber mit dem Arzt zu sprechen.
»Und hochgradig süchtig ist sie«, fügte der Arzt hinzu, »was in ihrem Zustand natürlich für den Heilungsprozess nicht förderlich ist. Die Entgiftung ist noch nicht abgeschlossen.«
»Heroin, steht in meinen Unterlagen«, antwortete Freddy Seelmann.
Der Arzt legte das Krankenblatt der jungen Frau auf den Beistelltisch, auf dem inzwischen der Name Tanja Sommerlath vermerkt worden war. »Das deckt sich mit unseren Untersuchungen. Sind Sie schon einen Schritt weitergekommen?«
Freddy schüttelte den Kopf. »Außer Frage steht, dass sie bei hoher Geschwindigkeit aus einem Wagen auf die Straße stürzte. Der Rechtsmediziner hat ein Verletzungsmuster rekonstruiert, das den Verdacht aufwirft, dass sie hinausgestoßen wurde. Wir vermuten einen Bus oder einen Van mit Schiebetüren, denn bei dem angenommenen Tempobereich kriegen Sie eine herkömmliche Tür kaum auf. Wir gehen von einem Mordversuch aus, denn jeder kann sich vorstellen, was mit einem Körper geschieht, der bei einer derart hohen Geschwindigkeit auf die Straße geworfen wird. Da wird der Tod billigend in Kauf genommen.«
»Ich hoffe, dass Sie die Kerle kriegen, die das getan haben«, entgegnete der Arzt.
»Eine Frage noch, Herr Doktor. Gibt es Anzeichen dafür, dass man sie in einem Kellerverlies festgehalten hat?«
»Anzeichen?«, wiederholte der Arzt fragend. »Was für Anzeichen meinen Sie?«
»Keime, Bakterien, ich bin kein Fachmann«, entgegnete Freddy Seelmann. »Ich dachte nur, ein modriges und verschimmeltes Kellerverlies hinterlässt irgendwelche Spuren. Vielleicht in den Atemwegen oder der Lunge oder auch unter den Fingernägeln.«
Der Arzt nickte. »Ich verstehe, aber da muss ich leider passen. Ich kann nur sagen, dass sie im Allgemeinen in einem sehr schlechten gesundheitlichen Zustand ist und es wohl auch vor dem Vorfall nicht zum Besten mit der Hygiene stand. Außerdem ist sie auffallend blass, was durchaus dafür spricht, dass sie nicht viel Sonne zu sehen bekam.«
Freddy nickte. »Danke, und falls ich noch Fragen habe …«
»Sie können mich jederzeit anrufen, das ist kein Problem. Ich helfe gerne, wenn ich kann.«
*
»Bingo!«, rief Lisa und schaute vielsagend auf den Computerbildschirm.
»Was hast du denn?«, fragte Trevisan, der gegenüber Platz genommen hatte und ebenfalls auf den Bildschirm starrte.
»Spur 156«, sagte Lisa. »Die Aussage eines Gemischtwarenhändlers namens Staufert und der Wirtin einer Pension in Tennweide. Beide haben am Tattag einen langsam durch den Ort fahrenden VW-Bus gesehen. Einen alten, teils verrosteten Bus mit weißer Lackierung, der möglicherweise ein dänisches Kennzeichen hatte. GA und dann folgten vier oder fünf Zahlen, die Farbkombination könnte tatsächlich dänisch gewesen sein.«
Trevisan rief auf seinem Bildschirm die Spur 156 auf und las die Auszüge der beiden Zeugenaussagen, die ihre Angaben unabhängig voneinander gemacht hatten. »Hm«, brummte er, »ein dänischer Bus, das könnte passen.«
»Das meine ich aber auch«, triumphierte Lisa.
»Du hast schnell dazugelernt. Du siehst also, wie hilfreich dieses Programm ist. Damit man die Dinge zusammenführen kann und den Überblick behält.«
Lisa kam zu Trevisans Schreibtisch und setzte sich locker auf die Schreibtischkante. »Wenn der Hintergrund nicht so traurig wäre, dann würde es mir sogar richtig Spaß machen. Das ist ja wie Rätselraten.«
Trevisan legte den Kopf schräg. »Mein Gott, ich frage mich, was ihr die ganze Zeit über in dieser Abteilung getrieben habt.«
»Ich sagte doch schon, wir haben Bilder von Vermissten auf Milchtüten geklebt.«
»Im Ernst?«
»Natürlich nicht. Aber Fahndungsplakate, Fahndungshinweise und die ganze Öffentlichkeitsarbeit, das war schon ein wesentlicher Teil unserer Arbeit.«
»Das ist gar nicht schlecht.« Trevisan kratzte sich am Kinn. »In der Akte steht, dass damals die Öffentlichkeitsfahndung nach den beiden Mädchen von der Staatsanwaltschaft angeordnet wurde, und diese Anordnung ist bislang nicht widerrufen. Im Gegenteil, es erging ein neuer Ermittlungsauftrag, das heißt, alle früheren Maßnahmen im Zusammenhang mit diesem Fall leben wieder auf. Deshalb will ich, dass du zwei Hochglanzfotos der Mädchen zu einem Fahndungsplakat zusammenstellst. Wir fragen, ob die Mädchen nach ihrem Verschwinden irgendwo gesehen worden sind. Vielleicht meldet sich auch jemand, der jetzt etwas zu sagen hat und damals schwieg, aus welchem Grund auch immer. Zusätzlich Berichte in den örtlichen Medien und im Raum Flensburg. Auch das dänische Grenzgebiet und Padborg müssen wir mit einbeziehen. Kümmere dich bitte gleich morgen früh darum, wenn ich zu den Reubolds fahre.«
»Aber ist das nicht eine Zumutung für die Familien der Vermissten?«, wandte Lisa ein. »Ich meine, da kommt doch alles wieder hoch und die alten Wunden werden erneut aufgerissen.«
»Denkst du, die Eltern kommen jemals über den Verlust ihrer Kinder hinweg?«, fragte Trevisan. »Glaub mir, es ist ein Schmerz, der ewig in dir bohrt. Solange du lebst, wirst du ihn nie vergessen. Und ich weiß, wovon ich rede.«
»Entschuldige, ich habe nicht daran gedacht.«





