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»An was hast du nicht gedacht?«
»Deine Tochter«, antwortete Lisa. »Ich weiß, was euch damals passiert ist und … und es tut mir leid.«
»Schon gut«, entgegnete Trevisan, ein kurzer Gedanke galt Paula, doch er wischte das Bild weg. Er wusste, es ging ihr gut und er brauchte jetzt alle Konzentration für diesen Fall. »Manchmal tut es auch gut, wenn man sich kümmert. Vergiss nicht, die Leichen wurden nie gefunden und jetzt taucht plötzlich eines der Mädchen wieder auf. Was, glaubst du, geht gerade in den Köpfen der Eltern von Melanie vor? Ich kann es dir sagen: Die Hölle ist für sie zurückgekehrt, viel schlimmer noch als zuvor, alles andere würde mich wundern. Vielleicht hilft es ihnen wenigstens ein klein wenig, wenn sie merken, dass wir das Schicksal der beiden nicht vergessen und abgeheftet haben.«
Lisa knabberte an einem Kugelschreiber. »Wenn ich daran denke, läuft es mir eiskalt den Rücken herunter. Vielleicht sitzt jetzt gerade ein Mädchen irgendwo in einem kalten Verlies, vergewaltigt und geschunden, und wartet darauf, dass wir ihr helfen.«
»Leider sind die Eltern von Tanja bei einem Autounfall ums Leben gekommen«, fuhr Trevisan fort. »Wenn sie jemals wieder auf die Beine kommt, dann wartet schon der nächste Schicksalsschlag auf sie. Also, machen wir uns an die Arbeit. Kümmere dich bitte um die Plakate, ich muss telefonieren.«
»So, mit wem denn?«
»Du bist ganz schön neugierig«, feixte Trevisan. Die jugendliche Unbekümmertheit seiner neuen Kollegin tat ihm gut. »Ich kenne da jemanden in Dänemark, der uns vielleicht bei Spur 156 weiterhelfen kann.«
Lisa warf ihren Stift auf den Schreibtisch. »Die Plakate … Din A4 oder Din A3?«
»Am besten beide Formate. Aber die Bilder müssen groß sein, ich will, dass sie mindestens siebzig Prozent des Plakats ausmachen.«
Lisa salutierte. »Aye, Käpt’n, wird gemacht.«
7
Rudolf Thiele, der Apotheker von Mardorf, zog den Vorhang des kleinen Fensters im Nebenraum zu und warf einen skeptischen Blick aus dem Fenster.
»Nehmen Sie Platz!«, forderte er Justin Belfort auf. »Ich werde Ihnen erzählen, wie es war und ich möchte, dass Sie sich ein Bild von meinem Sohn Sven machen können. Glauben Sie mir, diese Polizisten hatten überhaupt kein Interesse, den Fall zu lösen. Das war eine einzige Hexenjagd. Sie hatten ihn zum Sündenbock abgestempelt, weil er sich nicht wehren konnte.«
Thiele atmete tief ein. »Wissen Sie, in einem kleinen Dorf zu leben, ist nicht leicht, wenn man ein Außenseiter ist. Da verschwanden zwei Mädchen, das ist schlimm genug, die Behörden standen unter Druck und hatten nichts, rein gar nichts in der Hand. Da liegt es ja nahe, dass man sich das schwächste Opfer sucht und unter Mordverdacht stellt. Es ging sogar so weit, dass man mich verdächtigte, die Spuren des Verbrechens beseitigt zu haben. Es wurde nie ausgesprochen, aber ich wusste, was die Polizisten dachten. Allen voran unser Dorfpolizist, der war am schlimmsten. Er würde dem Sven diese Tat zutrauen, hat er behauptet. Dabei ist Sven der sanftmütigste und sensibelste Mensch, den ich kenne. Ich sage das nicht, weil er mein Sohn ist, ich sage es, weil es die Wahrheit ist.«
Justin Belfort hörte aufmerksam zu und machte sich Notizen auf seinem Block. »Ihr Sohn ist von Geburt an behindert?«
»Ja, er ist schwer intelligenzgemindert. Er ist jetzt zweiundzwanzig Jahre alt und hat den Verstand eines kleinen Kindes, aber er ist kein Ungeheuer.«
»Wie kam es, dass er sich an diesem Tag im Wald aufhielt, war er oft dort draußen?«
»Sven liebt die Natur und er weiß, dass er auf den Wegen bleiben und sich vom Moor fernhalten muss«, antwortete Thiele. »Wissen Sie, ich bin den ganzen Tag in der Apotheke und meine Frau war damals schwer krank. Sie ist vor zwei Jahren gestorben. Wir hatten jemanden, der auf ihn aufpasst, nur eben nicht rund um die Uhr. Aber wir konnten ihn doch nicht einfach einsperren. Er hat sich auch nie weiter als bis zum Bannsee von zu Hause entfernt. Er hat gewusst, dass wir das nicht wollen und er hat sich daran gehalten.«
»Das heißt, er war an diesem Tag im Wald?«
»Ich war nicht zu Hause, ich hatte zu tun. Aber ich sagte schon, er war viel da draußen unterwegs und wir hielten ihn auch nicht zurück.«
»Es wurde ein Kettchen bei ihm gefunden, das einem der Mädchen gehörte.«
»Es war ein Anhänger mit dem Symbol eines Schutzengels, Melanie war auf der Rückseite eingraviert. Die Eltern haben es erkannt. Aber Sven weiß nicht, woher er es hat. Er ist ein Sammler, er sammelt alles, was er auf dem Weg findet. Vom Kronkorken bis zu glitzernden Steinen. Vor allem, wenn es glänzt. Das sind seine Schätze, verstehen Sie. Ich habe einmal den Fehler begangen, als er mit zwei Kronkorken und einer verbeulten Getränkedose nach Hause kam, und ihm die Sachen weggenommen. Deswegen hat er alles vor mir versteckt. Wie er zu dem Kettchen kam, kann ich nicht sagen.«
»Ich denke, Ihr Sohn hat die Polizisten in den Wald geführt und gezeigt, wo er das Kettchen fand?«
»Sie haben ihn unter Druck gesetzt. Ich kenne meinen Sohn. Er hätte alles getan, was sie von ihm verlangten. Ich würde aber nicht darauf wetten, dass es tatsächlich die Stelle war, an der die Kette lag.«
»Hat man Sie jemals mit dem Vorwurf konfrontiert, an der Tat beteiligt gewesen zu sein? – Zumindest beim Verstecken der Opfer, denn dazu wäre Sven wohl alleine nicht in der Lage gewesen, oder?«
»Ich sagte doch, den Vorwurf selbst hat man nie ausgesprochen, immer nur angedeutet, aber er war deutlich zu spüren. Auch im Dorf hat man mich geschnitten, Sie glauben gar nicht, wie das ist.«
Rudolf Thiele schlug die Hände vor das Gesicht. Für einen kurzen Augenblick schwieg er, ehe er sich wieder aufraffte und weitererzählte. »Jahrelang leben Sie mit den Menschen in einem Ort zusammen und plötzlich wird man ausgestoßen, nur weil die Behörden einen Erfolg vorweisen müssen. Niemand redet mehr mit einem, sie wenden ihre Blicke ab und schauen zu Boden. Es ist die Hölle.«
»Warum sind Sie nicht weggezogen?«
»In Tennweide steht mein Haus, in Tennweide wurde ich geboren und dort bin ich aufgewachsen«, konterte der Apotheker. »Ich werfe nicht die Flinte ins Korn. Ich lasse mich nicht so einfach vertreiben. Tennweide ist zwar nicht der Nabel der Welt, aber es ist meine Heimat.«
»Ich verstehe«, antwortete Justin. »Und wie ist das Verhältnis heute?«
Der Apotheker zeigte auf die Tür. »Die Menschen in Tennweide sind mir inzwischen egal. Ich bin die meiste Zeit hier in meiner Apotheke. Und die Leute kommen jetzt wieder. Damals war ich schon kurz davor, schließen zu müssen. Wenn die Feriengäste nicht gewesen wären, hätte ich keine andere Wahl gehabt. Es war eine lange Durststrecke und dann starb auch noch meine Frau. Sie hatte eine Lebensversicherung. Ich konnte meine Apotheke retten und für Sven ein anständiges Pflegeheim finden. Im Dorf konnte er nicht mehr bleiben.«
»Sie haben sicherlich gehört, dass eines der Mädchen vor ein paar Tagen in der Nähe der dänischen Grenze wieder auftauchte. Sie wurde möglicherweise aus einem fahrenden Wagen geworfen. Können Sie sich einen Reim darauf machen?«
Rudolf Thiele schüttelte den Kopf. »Ich habe davon gehört, nur: Ich will nicht, dass sich das Ganze deshalb jetzt wiederholt. Die Polizei soll die Mörder endlich zur Strecke bringen, damit ein für alle Mal Ruhe herrscht. Sie können mir glauben, wenn einmal so ein Gerücht die Runde macht, dann wird man diesen Makel nie mehr los. Es sei denn, das Verbrechen wird endlich restlos aufgeklärt.«
»Ich verstehe.« Justin packte seinen Block ein. »Wäre es möglich, mit Ihrem Sohn zu sprechen?«
Der Apotheker hob abwehrend die Hand. »Nein, das auf keinen Fall. Sven hat die Sache damals stark mitgenommen. Ich bin froh, dass er einigermaßen darüber hinweg ist.«
»Danke, Herr Thiele, Sie haben mir sehr geholfen.«
Der Apotheker reichte Justin die Hand. »Bitte, und schreiben Sie, dass wir nichts, rein gar nichts mit der Sache zu tun haben und jeden Tag dafür beten, dass die Verbrecher endlich gefasst werden.«
»Das werde ich tun«, sagte er und folgte dem Apotheker zur Tür.
Als Justin Belfort in seinen Wagen stieg, den er auf dem Parkplatz der Apotheke abgestellt hatte, befiel ihn das eigenartige Gefühl, dass er beobachtet wurde. Er blickte sich um, doch außer zwei Radwanderern, die gegenüber der Apotheke standen und eine Straßenkarte studierten, war niemand zu sehen. Justin schüttelte das bedrückende Gefühl ab und ließ sich in seinen Fahrersitz fallen. Kurz blickte er in den Rückspiegel, doch die Straße war frei. Er schnallte sich an und startete den Wagen.
*
Trevisan zog sich in sein Büro zurück und holte sein Notizbuch aus der Schreibtischschublade. Er blätterte, bis er auf die Nummer der Kommissarin Holt von der Polizei in Arhus stieß. Bedächtig wählte er die Telefonnummer, nachdem er einen Blick auf seine Armbanduhr geworfen hatte. Es dauerte eine Weile, bis sich Kristina Holt meldete.
»Hallo, hier ist Martin Trevisan aus Deutschland.«
»Hallo, Martin, wie geht es dir«, antwortete die dänische Kollegin, die er kennengelernt hatte, als er gegen den Sektenführer ermittelt hatte.
»Den Umständen entsprechend«, antwortete Trevisan. »Ich bin derzeit beim Landeskriminalamt in Hannover, nachdem es mich erwischt hat.«
»Was heißt erwischt?«, fragte Kommissarin Holt.
Trevisan erzählte ihr seine Geschichte. Schließlich hatte er ihr sein Leben zu verdanken, nachdem der Mann damals versucht hatte, Paula und ihn zu töten.
»Das tut mir leid. Ich hoffe, dass es deiner Tochter bald wieder besser geht. Und natürlich auch dir.«
Trevisan nickte. »Ich komme eigentlich schon wieder ganz gut zurecht. – Ich habe da eine Sache, wo ich deine Hilfe bräuchte. Es geht um eine Geschichte, die schon ein paar Jahre zurückliegt. Wir suchen einen alten weißen VW-Bus, ich denke, ein T3- oder T4-Modell, mit einem dänischen Kennzeichen. Möglicherweise wurden zwei deutsche Mädchen hier in der Nähe von Hannover entführt und nach Dänemark verschleppt. Es könnte eine Rockerbande dahinterstecken, die kürzlich bei Padborg verhaftet wurde.«
»Padborg«, wiederholte Holt. »Das ist im Grenzland, da ist das Polizeiamt in Esbjerg zuständig. Hast du Details?«
»Ich würde sie dir zusenden, außerdem noch das Teilkennzeichen. Es ist, wie gesagt, schon eine Weile her.«
»Martin, du weißt, für meine Freunde tue ich, was ich kann. Schick es mir per E-Mail, meine Adresse hast du ja bestimmt noch. Ich rufe dich zurück, sobald ich ein Ergebnis habe. Und grüße Paula von mir, wünsch ihr alles Gute. Sie muss einfach stark sein.«
»Ich weiß, aber das Gefühl spielt unserem Verstand allzu oft einen Streich, und schon gerät man aus dem Gleichgewicht.«
»Ich weiß, aber trotzdem alles Gute und vielleicht sehen wir uns bald einmal wieder.«
»Möglicherweise schneller, als du denkst«, antwortete Trevisan. »Dann lade ich dich auf einen Kaffee ein.«
»Ich nehme dich beim Wort.«
Trevisan ging zurück zu Lisa, die vor dem Computer saß und einen ersten Entwurf eines Fahndungsplakates erstellt hatte.
»Was hältst du davon?«, fragte sie.
»Sieht gar nicht schlecht aus, nur die Fotos sollten noch ein klein wenig größer sein. Ich will, dass die Leute in die Augen der Mädchen sehen, das macht Eindruck.«
»Fotos größer, alles klar.« Lisa griff nach der Maus.
Trevisan legte seine Hand auf ihre Schulter. »Okay, lass gut sein, das reicht für heute. Es ist schon nach sechs, wir machen morgen weiter.«
Lisa schaute auf und lächelte ihn an. »Das ist gut. Ich dachte schon, ich versäume heute Abend das Konzert.«
»Du gehst ins Konzert?«
»Na ja, nicht direkt ein Konzert. Es ist eine Rockband. Mein Freund spielt dort Gitarre.«
Trevisan trat einen Schritt zur Seite. »Also dann, los geht’s, worauf wartest du noch.«
*
Nachdem Lisa das Büro verlassen hatte, setzte sich Trevisan noch einmal an seinen Schreibtisch. Aufmerksam blätterte er in den Akten. Schließlich rief er im Computer das Datenverwaltungsprogramm auf, das nun alle wichtigen Details enthielt. Im Startfenster wählte er die Spurenkarten an und blätterte Spur um Spur durch, geordnet nach objektiver Spur, wie Gegenstand, Fußabdruck oder DNA-Muster, oder subjektiver Spur, wie Zeugenvernehmungen oder Anhörungen. Insgesamt 344 Spuren und Hinweise waren erfasst. Manche dieser Spurenkarten waren mit einer Ergebnisnotiz versehen, bei anderen war das Ergebnis noch offen.
Angenommen, die Mädchen waren tatsächlich in einem Bus mit dänischem Kennzeichen entführt worden, dann würde der Fund des Rucksacks von Melanie Reubold an der A7 Richtung Norden sogar einen Sinn ergeben. Die dort gesicherte DNA-Spur war interessant. Er fragte sich, ob seine dänische Kollegin etwas damit anfangen konnte, denn möglicherweise waren die in Padborg verhafteten Rocker an der Entführung beteiligt gewesen. Eine Überprüfung schadete nicht, deswegen kopierte er den Befund und fügte ihn in die E-Mail an Kristina Holt ein. Die anderen erforderlichen Dokumente waren bereits in die Gesamtakte eingescannt, so hatte er es leichter. Als er auf senden drückte, dauerte es beinahe zehn Minuten, bis die Daten verschickt worden waren.
Er war hungrig, als er das LKA verließ und mit seinem Wagen nach Davenstedt fuhr. Zu Hause bereitete er sich eine Tiefkühlpizza zu, die er gerade aus dem Ofen holte, als das Telefon klingelte. Er nahm ab, Paula war am Apparat.
»Hallo, Liebes, wie geht es dir?«, fragte Trevisan erfreut.
»Gut, es geht mir gut, wirklich. Wir machen gerade Station, morgen in aller Frühe geht es weiter. Es ist herrlich hier. Die Landschaft, die Wiesen und die Natur … alles ist so friedlich, ganz anders als bei uns.«
»Das freut mich, dass du dich wohlfühlst, aber ich freue mich auch schon wieder darauf, dass du zurückkommst. Ich habe ein Eiscafé in der Innenstadt entdeckt, das Eis dort ist sagenhaft, da müssen wir unbedingt mal zusammen hingehen.«
»Ja, gerne, aber hier ist es auch toll. Schade, dass du nicht dabei bist.«
Trevisan unterhielt sich beinahe noch eine Stunde mit seiner Tochter, ehe Paula das Gespräch beendete. Von seinen Ermittlungen erzählte er nichts. Als er zurück in die Küche ging, fand er seine Pizza erkaltet vor. Nach dem ersten Bissen warf er den Rest in den Mülleimer. Das harte Toastbrot war keine schöne Alternative, aber was blieb ihm weiter übrig. Sein Magen knurrte, als er zu Bett ging. Draußen hatte es zu regnen begonnen.
8
Trevisan hatte bis acht Uhr geschlafen und war nach der Morgentoilette und einem ausgedehnten Frühstück ins Büro gefahren. Ein schwerer Gang lag heute vor ihm, er hatte einen Termin bei den Reubolds in Minden ausgemacht. Der Vater der verschwundenen Melanie war nicht begeistert gewesen, als Trevisan angerufen und um ein Gespräch gebeten hatte.
»Na ja, dann kommen Sie eben, es ändert ja sowieso nichts«, hatte Robert Reubold schließlich eingelenkt.
Trevisan hatte die Mutlosigkeit und die Verzweiflung aus seiner Stimme herausgehört. Er dachte an damals, als er erfahren hatte, dass seine Tochter Paula entführt worden war, das Gefühl war ihm nicht unbekannt.
Im Büro schaute er noch bei Lisa vorbei, die vor ihrem Computer saß und die Pressemeldung für die örtlichen und überregionalen Zeitungen schrieb. Trevisan setzte sich kurz zu ihr und kritzelte auf einen Notizzettel, welche Fragen sie ausformulieren sollte und welche Details von Nutzen waren und der Presse bekannt gegeben werden konnten.
»Wenn du fertig bist, dann schicke alles gleich an die Pressestelle«, sagte Trevisan.
»Willst du nicht vorher noch mal drüberschauen?«, fragte Lisa ungläubig.
»Du hast mehr Erfahrung in solchen Sachen«, antwortete Trevisan. »Oder hast du damit ein Problem?«
»Smisek wollte alles sehen und abzeichnen. Nichts verließ die Abteilung, bevor er nicht seinen Haken darunter gemacht hatte. Und meistens war er mit nichts zufrieden und wir bekamen die Berichte rot gefärbt wieder zurück.«
Trevisan lächelte. »Hatte wohl den falschen Beruf, hätte Lehrer werden sollen.« Er klopfte Lisa auf die Schulter. »Ich geh dann mal, Robert Reubold wartet auf mich.«
Er fuhr mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage und schnappte sich den Dienstwagen des Dezernats, einen blauen VW Passat. Die Fahrt nach Minden über die Bundesstraße dauerte länger als angenommen. Mit dichtem Verkehr hatte Trevisan an diesem Samstagvormittag nicht gerechnet.
In Minden suchte er die Goethestraße auf dem Ortsplan, den er sich ausgedruckt und entsprechend markiert hatte. Vor dem Mehrfamilienhaus parkte er am Straßenrand. Die Reubolds wohnten in dritten Stock. Einen Aufzug gab es nicht, so dass Trevisan erst einmal durchatmete, als er an der Wohnungstür ankam. Er klingelte und wartete geduldig, bis ein Mann öffnete, unrasiert und in Jogginghose und Unterhemd. Die nackenlangen, grauen und ungepflegten Haare hingen ihm wirr ins Gesicht.
»Robert Reubold?«, fragte Trevisan.
»Ja, das bin ich.«
Trevisan schätzte ihn auf Anfang fünfzig. »Ich bin Martin Trevisan vom Landeskriminalamt wir haben miteinander telefoniert.«
Robert Reubold nickte nur, ließ die Wohnungstür offen und verschwand im dunklen Gang. Trevisan folgte ihm. Schuhe standen kreuz und quer und Kleidungsstücke lagen herum. Staub hatte sich auf der kleinen Kommode abgesetzt. Trevisan folgte dem Mann in die Küche, wo sich schmutziges Geschirr auf der Spüle türmte. Robert Reubold zeigte auf einen Stuhl und ließ sich mit einem Seufzer auf der Eckbank nieder. Zwei leere Bierflaschen standen auf dem Tisch.
»Ich bin noch nicht zum Aufräumen gekommen«, sagte er knurrig, als Trevisan den Raum gemustert und eine Armada von weiteren leeren Bierflaschen hinter der Tür entdeckt hatte.
»Ist Ihre Frau ebenfalls hier?«, fragte Trevisan.
Reubold schüttelte den Kopf. »Als sie von Tanja erfuhr, ist sie sofort nach Flensburg gefahren.«
Trevisan nickte. »Das kann ich verstehen, aber Tanja liegt im Koma. Die Ärzte meinen, es kann Wochen, sogar Monate dauern, bis sie wieder zu sich kommt.« Den Rest verschwieg Trevisan. Es war durchaus möglich, dass Tanja überhaupt nicht mehr aufwachen würde. Aber er war nicht hierher gekommen, um Hoffnungen zu zerstören.
»Das ist meiner Frau egal, sie lässt sich nicht davon abbringen. Sie tut, was sie will.«
»Und was haben Sie gedacht, als Sie hörten, dass Tanja aufgetaucht ist?«
Der Mann fuhr sich über seine fettigen Haare. »Ich glaube nicht, dass es Tanja ist, ich glaube, sie ist genauso tot wie meine Meli. Wenn ich dieses Schwein erwische, dann schlage ich es mit eigenen Händen tot.« Robert Reubold biss sich auf die Lippen und versuchte, seine starke Erregung zu unterdrücken.
»Gab es denn seit ihrem Verschwinden irgendwelche ungewöhnlichen Vorfälle? Anrufe, ohne dass sich jemand meldete, irgendetwas dieser Art?«
Reubold zog die Nase hoch. »Nachdem sie meine Meli geholt hatten, gab es ständig Anrufe, diese Presseheinis ließen uns keinen Tag in Ruhe und auch die Polizisten. Wissen Sie, an diesem Tag habe ich aufgehört zu leben. Und bei Elsa ist auch alles kaputtgegangen.«
»Elsa ist Ihre Frau?«
»Ja, wir sind verheiratet, aber sie ist nicht mehr meine Frau. Sie ist nur noch hier, weil ihr die Energie fehlt, die Koffer zu packen. Seit dem Tag, als Meli verschwand, ist alles zwischen uns kaputt. Da ist nur noch … Leere.« Robert Reubold zeigte auf die Bierflaschen. »Das ist das Einzige, was mir geblieben ist.«
»Arbeiten Sie noch im Verwaltungsamt?«, fragte Trevisan, um die Situation ein klein wenig zu entspannen, doch offenbar war dies die falsche Frage gewesen. Robert Reubold legte den Kopf auf seine auf dem Tisch verschränkten Arme und begann hemmungslos zu schluchzen.
»Zweimal war ich schon auf Entzug«, stammelte er. »Ein drittes Mal wird es nicht geben. Sie streben die Verrentung an, ich bin seit über zwei Jahren arbeitsunfähig, aber danach fragt kein Mensch. Diese Schweine haben mir meine Tochter gestohlen und mein ganzes Leben zerstört.«
Trevisan schluckte und schwieg, bis sich Robert Reubold langsam beruhigt hatte. Schließlich wischte sich der Mann mit dem Unterarm die Tränen weg und schaute auf. »Weshalb sind Sie eigentlich hier?«
»Ich wollte mit Ihnen sprechen und mir ein Bild machen, außerdem wollte ich Sie zu Tanja befragen. Ihre Eltern sind leider bei einem Unfall …«
»Ich weiß, sie haben es besser gemacht als Elsa und ich. Sie haben einen Schlussstrich gezogen.«
»Sie glauben, sie haben sich umgebracht?«
»Ich weiß es«, antwortete Robert Reubold trocken. »Meli und Tanja kannten sich seit der fünften Klasse, sie sind zusammen aufgewachsen. Sie wohnte ein paar Blocks weiter. Sie haben alles gemeinsam gemacht, sie sagten sogar, dass sie gemeinsam Medizin studieren wollten und dann kam diese Radtour, diese gottverdammte Radtour. Ich war von Anfang an dagegen, aber wenn sich die Mädels etwas in den Kopf gesetzt hatten … Ich hätte sie aufhalten müssen.«
»Sie konnten nichts tun«, versuchte Trevisan zu beruhigen, denn schon wieder kullerten Tränen über Reubolds Wange.
»Wir haben alle zusammen die Tour bis ins Kleinste geplant. Die Übernachtungen, die Tourenpläne … Sie hätten längst schon fast in Nienburg sein müssen, als es passierte.«
»Woher wissen Sie, wann es passiert ist?«, fragte Trevisan.
»Es weiß niemand genau, aber ein Polizist meinte, es soll nach drei Uhr mittags gewesen sein. Das Abendessen in Nienburg war bestellt, sie hätten es nicht mehr rechtzeitig dorthin geschafft. Sie müssen aufgehalten worden sein.«
»Oder sie haben die Zeit vergessen.«
»Sie haben abgekürzt, die Route sah nur Hauptstraßen vor. Ich wollte nicht, dass sie durch unbelebte Gegenden fuhren. Ich wollte, dass sie dort bleiben, wo es genügend Menschen gibt. Man weiß ja nie, welchen Spinnern man begegnet.«
Trevisan nickte. »Das kann ich verstehen. Gibt es eigentlich noch jemanden hier im Ort, der Tanja nahestand?«
Robert Reubold schaute Trevisan fragend an. »Wie meinen Sie das?«
Trevisan fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich meine, wenn Tanja aufwacht. Ihre Eltern sind tot und es gibt nur noch eine Tante, die in Amerika lebt. Ich meine eine Vertrauensperson, die Tanja wiedererkennen könnte, damit sie wenigstens ein bekanntes Gesicht sieht, falls sie jemals wieder zu sich kommt.«
Robert Reubold nickte. »Ich verstehe. Die einzige Bezugsperson dürfte Elsa sein, meine Frau. Die Sommerlaths hatten nur wenig Kontakt hier.«
Trevisan erhob sich und streckte Reubold seine Hand entgegen. »Ich wünsche Ihnen, dass Sie das Leben wieder in den Griff kriegen und auch mit Ihrer Frau wieder zusammenkommen, mehr bleibt einem nicht im Leben. Und ich verspreche Ihnen, dass ich alles tun werde, was in meiner Macht steht, um Ihre Meli zu finden.«
Robert Reubold winkte ab. »Das hat Ihr Vorgänger auch versprochen. Aber ich habe nie mehr von ihm gehört.«
Trevisan nickte. »Ich finde schon hinaus«, sagte er, als Reubold sich erheben wollte.
*
»Sie sitzen in U-Haft und wurden auf verschiedene Gefängnisse verteilt«, berichtete Sina. »Drei sitzen im Staatsgefängnis von Horsens, zwei in Ringe und der Haupttäter im Sicherheitstrakt von Nyborg, das ist am anderen Ende von Dänemark.«
»Im Staatsgefängnis, sagst du?«, fragte Justin. »Weißt du, wer die Ermittlungen führt?«
Sina blätterte ihren Notizblock um. »Die Reichspolizei ist da federführend. Ein Chefinspektor Mats Brandstrup ist der Ermittlungsführer und ein Polizeimeister Will Viksom taucht in den Akten auf. Die Polizei in Esbjerg ist daran nicht beteiligt. Für die regionale Polizei ist die Sache wohl zu heiß und die Fäden werden direkt in Kopenhagen gezogen. Man befürchtet Aktionen, es gibt offenbar noch weitere Splittergruppen, die über ganz Dänemark verstreut sind.«
Justin schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Verdammt, die Reichspolizei, da kommen wir nicht ran. In Esbjerg kenne ich jemanden, der bei der zuständigen Stelle für den Bezirk Syd- or Sonderjyllands arbeitet. Aber bei der Reichspolizei beißt man sich die Zähne aus, da wird es gleich politisch. Hast du sonst noch was für mich?«






