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Unvermittelt begann Lotte, in die Hände zu klatschen. Jannes’ Mundwinkel sprangen hoch; seine Gesichtsmuskeln wahrten Anstand und Höflichkeit, während sich sein Inneres nach der Dachkammer sehnte. Aus der Anlage lärmte Stevie Wonders »Happy Birthday« und übertönte Lottes Klatschen. Erika und Yvonne Schauder näherten sich ihm, pusteten dabei Luftschlangen umher und präsentierten sich ungeachtet der Situation in Feierlaune.
»Herzlichen Glückwunsch.« Lotte gab ihm einen Kuss und warf eine Handvoll Konfetti über ihn. »Heute ist dein Tag.«
»Noch zwei Jahre!«, brüllte Bielecke. »Dann hast du’s geschafft.«
Der Suffkopf spielte auf seine Rente an. Jannes hatte nie verstanden, weshalb die Leute einem dazu gratulierten, warum sie Dinge sagten wie: Jetzt kannst du endlich machen, was du willst, jetzt fängt das wahre Leben an. Ihm graute vor dem Ruhestand, er wollte weiter seinen Schreibtisch in der AOK-Filiale hüten, wollte fünf Tage die Woche nach Rathenow fahren und mit den Kolleginnen am Kaffeeautomaten schnacken.
»Nur die allerliebsten Glückwünsche, mein Bester.« Erika umarmte ihn und er konnte unter ihrem Parfüm einen Hauch von Schweiß riechen; die Erinnerung, wie er sie vor 30 Jahren am Schwarzen See geküsst hatte, ließ ihn auf Abstand rücken. In der Angst, seine Verlegenheit zu offenbaren, strich er sich das Konfetti aus den Haaren und die Luftschlangen vom Hemd.
»Das habt ihr toll gemacht«, bemerkte er. »Wirklich toll.«
»Bedank dich bei deiner Frau«, entgegnete Erika.
»Das mach ich jeden Tag, immerzu.«
»Schön wär’s«, erwiderte Lotte.
Sie zerrte ihn zum Tresen und sein Lächeln überdauerte die Strecke völlig automatisch. Nachbarn und Bekannte reichten ihm entweder die Hand oder umarmten ihn mit alkoholisierter Innigkeit. Jannes erduldete das alles, und selbst als Erika ihm ein Papierhütchen aufdrängte, schluckte er den Protest hinunter. Frank sagte, er wünsche ihm das ganze Blablabla, schenkte ihm ein breites Grinsen und servierte ihm anschließend ein Bier. Trotz der rosaroten Brille glaubte Jannes, in Franks Augen ein Quäntchen Misstrauen, vielleicht sogar Feindseligkeit zu lesen. Er wich seinem Blick aus und glitt an der Bar entlang, bis er zufällig vor dem Lehrer landete.
»Alles, alles Gute.« August Brehm rieb ihm liebevoll die Schulter. »Für deine Gesundheit und deine Zukunft.«
»Danke, danke.«
»Komm mal vorbei. Ich hab noch ’n paar Astern.«
»Ist es dafür nicht zu spät?«
August lächelte. »Im Herbst pflanzen, im Frühjahr bewundern.«
»Du, Jannes!«, krakeelte René Berkholz dazwischen. »Du bist doch so ’n Paragrafenheini.«
»Kommt drauf an«, erwiderte er.
»Hast du mit Gesetzen zu tun oder nicht?«
»Ja, irgendwie schon.«
»Dann pass mal auf.«
Berkholz stierte ihn auf eine Weise an, die nicht nur ihm, sondern der ganzen Meute die Wichtigkeit der nächsten Frage verdeutlichen sollte. »Also«, begann er, »kann ein Bauvorhaben gestoppt werden, bloß weil man aufm Grundstück ’ne besondere Pflanze findet?«
»Gute Frage.«
»Ist das ’n Ja oder ’n Nein?«
Der Satz war noch nicht verhallt, da spürte er bereits Lottes Finger im Kreuz. Zweifellos wollte sie ihn von dieser Diskussion weglotsen, fort von Berkholz und Bielecke und hin zu ihrer eigenen Sippe, die sich brav an einem Gläschen Likör festhielt. Nein, entschied Jannes. Heute war sein Tag. Diesmal würde er nicht einknicken, und wenn sie ihn schon zu dieser Feier genötigt hatte, sollte sie auch die Konsequenzen tragen.
»1995«, erklärte er, »hat die Großtrappe fast den Bau der ICE-Strecke Berlin–Hannover blockiert.« Er versuchte, sich an den Artikel in der MAZ zu erinnern. »Die Bahn wollte extra einen Tunnel bauen. Für eine Milliarde Euro.«
Das Stöhnen seiner Zuhörer wurde nur von Bieleckes Lachen übertönt; es klang rau und gehässig, und sein gelber Schnauzbart sträubte sich unter seiner Knollennase. Sowie Jannes erneut den Finger seiner Frau im Rücken spürte, fuhr er fort:
»2011 hat ’n Käfer den Bau des Stuttgarter Bahnhofs ausgebremst. Das Projekt lag drei Monate auf Eis.«
»Ein beschissener Käfer?«, fragte Vogler.
»Die Art steht unter Naturschutz.«
»Verdammter Mist.« Frank hatte die rosarote Brille abgelegt, und Jannes registrierte nun ganz deutlich die Feindseligkeit in seinen Augen; jetzt schien sie allerdings jemand anderem zu gelten.
Der Lehrer ergriff das Wort und erklärte den anderen, dass es um ihre Zukunft gehe, um ihre Zukunft und die ihrer Kinder. Darauf blaffte ihn Christian Schauder an, was er denn über ihre Kinder wisse.
Jannes merkte, wie er langsam aus der Runde gedrängt wurde. Alle Hände waren geschüttelt, alle Wünsche übermittelt, und seine Relevanz hatte sich mit dem kleinen Exkurs in Sachen Artenschutz erschöpft. Er verblieb am äußeren Ende der Bar und beobachtete das hektische Auf und Ab der Papierhüte. Als Patrick Kowalski sich zwischen die anderen Gäste schob, packte ihn Lotte am Arm.
»Da will dir jemand gratulieren.« Sie sprach von ihren Verwandten, die gesittet an einem der hinteren Tische saßen.
»Und warum kommt niemand her?«
»Meine Schwester hat’s mit der Hüfte, das weißt du.«
»Ja«, gab er nach. »Ich trink bloß aus.«
»Ich finde, du solltest die Klappe halten«, sagte Patrick Kowalski zu dem Lehrer. »Du gehörst zu denen, die immer alles besser wissen.«
Frank ermahnte ihn, er möge sich bitte mäßigen, worauf er postwendend mit dem Protest der anderen belegt wurde. Er solle Patrick gefälligst reden lassen. Schließlich sei er einer von ihnen und habe genauso wie der Rest ein Recht auf seine Meinung. Die ungeteilte Aufmerksamkeit der Runde setzte Patrick Kowalski offenbar unter Druck; er starrte den Lehrer an, doch in dessen Gesicht zeichnete sich nur ein leises Bedauern ab. Jannes war sich unklar darüber, ob das Bedauern dem Konflikt oder Patricks Einfalt galt. Ganz gleich, für welche Interpretation sich Jannes letztlich entscheiden würde, Patrick hatte längst sein Urteil gefällt. Er streckte seine Hand nach dem Lehrer aus, und Tom – sein älterer Bruder – preschte ungestüm in die Runde.
Private Dancer
Wie jeden Abend wollte Pawel es sich auf dem Sofa mit Bibi bequem machen. In einer Aluschale dampfte sein Abendessen: Hähnchen, Klöße, Rotkohl, dazu eine fettige Soße. Um nicht den Müll im TV ertragen zu müssen, hatte er seine Lieblingsserie in den DVD-Player geschoben. »Schock-Geschichten«. Zwölf Episoden voller Grusel, Terror und Leidenschaft. Doch ehe Pawel auf Position war, sah er durchs Fenster den jungen Kowalski zur Kneipe schlendern, was im Hause Mitschek eine kleine Programmänderung zur Folge hatte.
Keine fünf Minuten später schob er die leere Aluschale aufs Fensterbrett und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Bibi sprang auf seinen Schoß und sofort spürte er durch die Jogginghose hindurch ihre Krallen. Er kraulte ihr sanft das Köpfchen, bis sie zufrieden schnurrte und sich einrollte. Angesichts seiner massigen Oberschenkel und seines Bauchumfangs wirkte Bibi kaum größer als ein Wollknäuel. »Ich wette«, sagte er zu ihr, »heute wird’s knallen.«
Nachdem 20 Minuten ereignislos verstrichen waren, entschuldigte er sich bei Bibi und schob sie auf die Armlehne. Er hievte sich vom Sessel und schleppte sich durchs Wohnzimmer. Leere Colaflaschen übersäten den Teppich; unter seinen Pantoffeln knirschten Chips- und Haribo-Tüten. Aus dem 5.1.-Soundsystem, das er vor Jahren in einem letzten Kraftakt installiert hatte, surrte spannungsgeladene Musik. Obwohl er die Serie in- und auswendig kannte, stoppte er am Sofa, stützte die Arme auf die Rückenlehne und folgte Judy Geeson über die unheimlichen Moore von Yorkshire. Längst waren ihm die Darsteller alte Bekannte geworden, die Geschichten so vertraut wie achtsam gehütete Familiengeheimnisse.
Judy Geeson, in der Rolle einer modernen Großstädterin, besuchte ihre Eltern auf dem Lande. Sie war gerade aus dem Zug gestiegen, da begegneten ihr schon die misstrauischen Blicke der Einheimischen. Eine jede Episode der »Schock-Geschichten« hielt, was der Serientitel auf subtile Weise versprach. So glaubte sich Judy Geeson von einem Brandstifter verfolgt, und natürlich wollte sie keiner der Einheimischen zu ihrem Elternhaus chauffieren. Bevor sie zu Fuß das schützende Heim erreicht hatte, begannen Pawel die Knie zu zittern. Er wälzte sich ans Ende der Rückenlehne und holte tief Luft; dann der Endspurt ins Badezimmer.
Mit seiner Rechten langte er nach dem Haltegriff seitlich der Toilette, mit seiner Linken zog er sich Hose und Slip herunter. Langsam und in äußerster Vorsicht sank er auf die Brille, dann riss er sich einen Streifen Klopapier ab und wischte sich damit den Schweiß von der Stirn. Er warf das Papier ins Waschbecken und umfasste seine Knie.
Der Schmerz fauchte in seinen Gelenken wie eine gegen die Wand getriebene Katze. Jeder Pfotenhieb strapazierte seine Nerven. Er massierte sich die Knie und dachte daran, dass ihn die Angst vor den Schmerzen schon einmal ans Sofa gefesselt hatte. Statt auf Toilette zu gehen, hatte er in eine leere Colaflasche uriniert und die Flasche unter dem Tisch verstaut. Drei Tage lang.
Pawel bediente die Spülung und stemmte sich mithilfe des Haltegriffs hoch, wankte zum Waschbecken und musterte sich im Spiegel. Sein Haar, schulterlang, fettig und angegraut, klebte ihm hinter den Ohren; schlaffe Wangen umrahmten seine Mundwinkel. Sein Körper hatte jede Spannung verloren. Er schnappte sich die Ibuprofen vom Beckenrand, warf eine Tablette ein und ließ den deprimierenden Anblick hinter sich.
In der Diele standen neben der Schuhablage ein Sechserpack Cola und eine Tragetasche voller Chips. Er zerrte eine Flasche aus der Klarsichtfolie und suchte Halt an der Wand, klemmte die Cola unter seinen Arm und eine Tüte Chips zwischen seine Zähne, dann kämpfte er sich zurück ins Wohnzimmer.
Am Sofa angekommen, stellte Pawel die Flasche ab und stützte sich wieder auf die Rückenlehne. Inzwischen lief die zweite Episode der »Schock-Geschichten«; diesmal war der Handlungsort ein Herrenhaus, irgendwo am Rande einer verlassenen Landstraße. Eine Tramperin, die von einem Unwetter überrascht wurde, bat um Einlass. Was die arme Frau nicht ahnte: Das Haus war in Besitz einer Familie ausgehungerter Kannibalen.
Jede der zwölf Episoden war von Alan Albert Bloch geschrieben worden, einem Schriftsteller und Drehbuchautor, der sich Mitte der 70er-Jahre in einen New-Age-Messias verwandelt hatte. Pawel hatte sogar Alan Blochs Bibel »Im Innern des Baumes« zu lesen begonnen, doch nach wenigen Seiten kapitulieren müssen. Zu schwammig, zu esoterisch. Das hatte ihn aber nicht daran gehindert, ein Poster von »Leise, leise klingelt der Tod«, vermutlich Blochs bekanntestem Werk, über seinem DVD-Regal anzubringen. Großes Kino, dachte Pawel. Ganz großes Kino. Er nahm die Flasche vom Boden und schleppte sich ans Fenster.
Nachdem er wie ein Mensch, der normalerweise Gehhilfen benutzte, in den Sessel geplumpst war, tapste Bibi zurück auf seinen Schoß. Zwei ferne Nachbarn, die er lediglich vom Sehen kannte, kamen die Dorfstraße entlanggelaufen, stoppten vor der Kneipe, um ihre Kleidung zu richten, und verschwanden in der Tür. Pawel nahm das Glas vom Fensterbrett und überprüfte, ob auch keine Fliege in den Colaresten klebte.
Ein Muster an Sauberkeit war Pawel nie gewesen; allein in den Wochen, als Mona sein Leben bestimmt hatte, war er über sich hinausgewachsen: Er hatte das dreckige Geschirr abgespült, das Leergut zum Pfandautomaten gebracht und den Plastikmüll in der gelben Tonne entsorgt; er hatte das Wohnzimmer gesaugt und die Sofakissen dekorativ auf der Couch arrangiert; er hatte die Bilderrahmen an der Wand vom Staub befreit – links das Porträt seiner verstorbenen Eltern und ein Schnappschuss von Bibi, rechts seine Galerie alter Kinoplakate. In dem Hochgefühl der Liebe hatte er mit seiner Handykamera die Küche und die Wohnstube gefilmt und all das kommentiert, was ihm vor die Linse geraten war. Der neue Kühlschrank, Bibis Fressnäpfe, die Yuccapalme und sein DVD-Regal, wobei er Mona jeden seiner Lieblingsfilme mit einem Extrakommentar präsentiert hatte. Die jeweils dreiminütigen Videos hatte er ihr dann per Whatsapp gesandt.
Er legte die fast leere Chipstüte auf die Armlehne und strich die Krümel von Bibis Rücken. Ein Kerl, den er nicht kannte, trat vor die Kneipe und rauchte eine Zigarette. Wenig später trabte das Geburtstagskind samt Gattin an. Es musste mittlerweile kurz nach 20 Uhr sein. Ehe Krügers eintraten, veranstalteten sie einen Affentanz, wer wem die Augen abschirmen durfte. Garantiert spielte Frank Lewin einen dieser berühmten Happy-Birthday-Songs, und alle lagen sich in den Armen, als hätten sie einander unheimlich lieb.
In dem Moment, in dem sich hinter Krügers die Tür schloss, machten sich seine Kniegelenke bemerkbar. Behutsam, sodass Bibi sich nicht gestört fühlte, hob er das linke Bein und positionierte es auf einem Hocker unterm Fenster. Vor wenigen Monaten hatte er sich noch ausgemalt, wie er den Kuxwinklern seine neue Freundin vorstellte. In seinen Fantasien hatte er zu ihr gesagt:
»Komm, lass uns was trinken gehen.«
»Was trinken?«, wiederholt sie ungläubig.
»Na, in meine Stammkneipe.«
»Ihr habt hier ein Lokal?«
»Gleich gegenüber«, antwortet er lachend. »Abends treffen wir uns immer dort.«
Als er mit ihr durch die Eingangstür schreitet, offenbart die Meute ein erstauntes Gesicht, dazu ein kollektives »Oh« und »Ah«. Lässig schmeißt er zur Begrüßung eine Lokalrunde. Mona integriert sich ohne jede Scheu bei den anderen Damen, amüsiert sich, tätschelt ihnen zwanglos die Schultern, und die Herren beglückwünschen ihn hinter vorgehaltener Hand für so eine Granate.
Aber seine Fantasie hatte keine zwei Wochen überlebt. Nachdem ihre Reaktion auf seine Videos eher verhalten ausgefallen war, hatte er ihr täglich neue Liebesbotschaften geschickt. Diesen Film musst du gucken. Schau mal, Bibi kann Kunststücke. Und ich habe 5 Kilo abgenommen. Nur für dich. Am Ende hatte sie ihn blockiert und sein Sauberkeitsdrang war wieder aufs alte Niveau geschrumpft.
Langsam zeigten die Tabletten Wirkung. Er verrückte sein Bein ein wenig, lehnte sich zurück und kraulte Bibi den Nacken. Mittlerweile war die Dorfstraße fast dunkel, das Kneipenlicht leuchtete warm und einladend und aus seiner Anlage tönte die Abspannmusik der »Schock-Geschichten«. Er langte in die Chipstüte und leckte sich die letzten Krümel von den Fingern. Seine Annahme, dass die Geburtstagsfeier ein explosives Abendprogramm bieten würde, war wohl voreilig gewesen. Pawels Lider sanken tiefer und tiefer, und Bibi erfüllte das Wohnzimmer mit ihrem Schnurren.
Das Geschrei auf der Straße ließ ihn die Augen öffnen – ohne Schreck oder Herzrasen, vielmehr so, als wäre er statt am Fenster vor dem Fernseher eingeschlafen und von einem überlauten Werbeblock geweckt worden. Mit trägem Blick sah er im Eingangsbereich der Kneipe sechs Gestalten. Eine Person kroch auf allen vieren, während eine andere ihr in den Hintern trat; der Rest stand dicht daneben und applaudierte. Pawel wischte sich über die Augen, weil ihm die Szene geradezu surreal erschien. Als die Gestalten über die Straße blickten, rutschte er in greller Panik vom Sessel. Er fand die Fernbedienung, schaltete die Glotze ab und stellte sich im Dunkel seiner Stube tot.
19. Oktober 2019
9.00 Uhr
»Hast du ihn seit damals gesprochen?«
»Ich denke, ein-, zweimal«, sagte Anna.
»Wow, best friends, würde ich behaupten.« Mike umklammerte das Lenkrad in der fünf vor eins Position, sodass seine Unterarme beidseitig auflagen. Ein Stirnband bändigte seine Haare und gab ihm den Look eines Tennisspielers aus den 80ern, dessen Bauchansatz verriet, dass er seine Karriere längst beendet hatte. Über einer Jeans trug er ein offenes Karohemd, darunter ein T-Shirt mit dem Aufdruck eines Horrorfilms. »Die lebenden Leichen des Dr. Diabolo«. Verwaschen, verspielt, vertraut. Nach einer Bedenkminute fragte Mike:
»Willst du ihn nicht vorher anrufen?«
»Nee, ich überrasch ihn lieber.«
»So liebe ich dich: immer mit der Tür ins Haus.«
Anna rang sich ein Grinsen ab und wandte den Blick zum Fenster. Unter den Baumkronen streckte sich die Gollwitzer Chaussee gen Norden, schnurgerade und ohne Gegenverkehr. Ein blauer Himmel blitzte zwischen dem Herbstlaub hindurch; Schatten fächerten im Stakkato über die Windschutzscheibe. In schwarze Folie eingepackte Strohballen türmten sich auf den Feldern, die Silhouetten einer Herde Rehe zerschnitten den Horizont. In den dreieinhalb Jahren, die Anna nicht mehr hier gewesen war, hatte die Welt sich gewandelt, zu einer mit Licht und Farben und Musik. Sie schielte nach links und sah Mike mit den Handballen aufs Lenkrad trommeln. Aus den Boxen schnurrte die Playlist, die sie gemeinsam zusammengestellt hatten: Soulklassiker wechselten mit Britpop und Post-Punk.
Sie zog ihren Rucksack aus dem Fußraum, öffnete ihn und zerrte einen Hefter hervor. Darin unzählige Dokumente, blauer Kugelschreiber auf Musterbögen, Unterschrift gefolgt von Unterschrift. Niemals zuvor hatte sie sich mit einer Erbschaft auseinandersetzen müssen.
»Das hätte man auch per Post erledigen können«, sagte Mike, ohne den Blick von der Fahrbahn zu nehmen.
»Kann sein«, erwiderte Anna. »Aber ich muss das Haus ein letztes Mal sehen.«
»Und was hat er damit zu tun?«
»Ich will nicht allein hinfahren.«
»Ich bin doch da.«
»Du bist damals nicht dabei gewesen.«
»Stimmt, ich hab den Klub geputzt.«
»Das klingt, als wärst du beleidigt.«
»Im Gegenteil.« Er spreizte einen Zeigefinger vom Lenkrad. »Um ehrlich zu sein, bin ich froh, dich erst später kennengelernt zu haben.«
»Hey, wir kannten uns schon vorher.«
»Ja, allerdings nicht so.«
Jetzt lächelte er gegen die Windschutzscheibe, und Anna schämte sich dafür, dass sie kaum niedergeschlagen war, dass ihr Leben weiter in den richtigen Bahnen verlief, ihre Arbeit im Jugendklub, ihre Beziehung, das große Drumherum, schämte sich dafür, den Tod ihrer Familie nicht zu betrauern.
»Keine Sorge«, sagte sie schließlich, »du wirst ihn mögen.«
»Diesen Willy Urban?«
»Ja. Er ist cool.«
»Cool?« Mike lachte auf, wobei er sich die Linke vor den Mund hielt. Seitdem ihm einer seiner Eckzähne abgebrochen war, offenbarte jedes Lachen, jedes Gähnen eine schwarze Lücke. »Nach dem, was du mir erzählt hast, würde ich ihn eher sonderbar nennen.«
»Cool, sonderbar und cholerisch.«
»Oh, cholerisch auch.«
»Ja, sein bestechendster Charakterzug.«
»Auf diese Seite freue ich mich besonders.«
»Dann hoffe ich mal, dass er einen sitzen hat.«
»Bisschen früh, oder?«
»Dahingehend ist Willy sehr flexibel.«
Mike lenkte seinen Ford Taurus von der Gollwitzer Chaussee auf einen Feldweg und sofort kroch Anna die Nervosität in die Glieder. Sie zog eine Wasserflasche aus dem Rucksack, trank einen Schluck und dachte gleichzeitig an die Bierpullen, mit denen Willys Auto zugemüllt gewesen war. Als sie wegen eines Schlaglochs ein wenig Wasser verschüttete, kam ihr die Erinnerung an Willys Ausraster hoch; in seinem Zorn hätte er seinen Wagen beinahe gegen einen der Obstbäume gesteuert. Sie schraubte die Flasche zu und konzentrierte sich auf die Musik, doch belebte das nur neue Bilder: Willy in seinem Opel, singend oder im Gespräch mit seiner toten Frau.
»Ist es das?«, rief Mike.
»Ja, eindeutig.«
»Wow, ein echtes Backsteinhaus.«
»Was hast du denn erwartet?«
»Durchaus was Finsteres.«
Entgegen ihrer Annahme waren die Fensterläden und die Haustür nicht farblos, sondern erstrahlten in einem hellen Grün. An der Fassade reihten sich Rosensträucher, oberhalb der Eingangsstufen hing sogar ein neuer Briefkasten. Der Opel in der Einfahrt war allerdings noch derselbe, und allein dieser Anblick verdeutlichte ihr, wie fern das hiesige Leben von ihrem eigenen zu sein schien, fern von Berlin und ihrer Arbeit, von dem ganzen Treiben ihrer großstädtischen Existenz. Im Grunde so weit weg, dass es nur logisch war, das Erbe ihrer Zieheltern auszuschlagen.
Mike parkte den Taurus hinter Willys Astra, schnallte sich ab und bot ihr an, im Auto zu bleiben. »Ich kann mir auch ’n nettes Café suchen.«
»Da wirst du enttäuscht werden.«
»Irgend’ne Frittenbude findet sich immer.«
»Nicht in Gollwitz. Hier kräht kein Hahn.«
»Okay, dann warte ich eben im Auto.«
»Seit wann bist du so ’n Schisser?« Mit einem Grinsen öffnete Anna die Wagentür und stieg aus.
Sie rollte die Ärmel ihres Pullovers runter, stemmte die Hände in die Taille und blickte über die angrenzenden Felder. Ein grünes Band spannte sich von Ost nach West, und Mike fragte sie, was hier gesät worden sei. Futterklee, antwortete Anna und war selbst über ihre schnelle Reaktion erstaunt. In dem Glauben, Willy lauere hinter einem der Fenster, wandte sie sich dem Haus zu. Sicherlich war ihm in den letzten Jahren nicht die Bude eingerannt worden; während ihrer gemeinsamen Zeit hatte er sich kaum als großer Philanthrop präsentiert. Sie winkte in Richtung Haus, aber Willy machte keine Anstalten, sich zu zeigen.
Mike versuchte, seine Unsicherheit mit einer gelangweilten Miene zu kaschieren. Leider funktionierte diese Taktik nicht mal bei ihren Kindern und Jugendlichen im Klub. Sie strich ihm über den Arm und er blinzelte nervös.
Noch bevor Anna an die Tür klopfte, erfasste sie eine abstruse Vorstellung: Was, wenn Willy irgendetwas zugestoßen war, er womöglich im Krankenhaus lag oder – und dieser Gedanke ließ ihren Atem stocken – auf dem Gollwitzer Friedhof? Mit seinen 73 war sein Alter fünf Jahre unter der durchschnittlichen Lebenserwartung deutscher Männer, sagte sie sich. Andererseits hob ein fetter, cholerischer Alkoholiker nicht unbedingt den Schnitt. Anna hämmerte heftig gegen die Tür in der Hoffnung, den Gedanken damit zu verscheuchen.
»Vielleicht ist er nicht da«, flüsterte Mike.
»Wo soll er schon sein?«
»Vielleicht Freunde besuchen.«
»Er hat keine Freunde.«
»Oder er ist im Urlaub.«
»So was kennt Willy nicht.«
»Na ja«, sagte Mike. »Bestimmt hockt er nur aufm Klo.«
Anna horchte an der Tür, hörte nichts und zerrte einen Schlüssel aus der Jeans.
»Wo hast du den denn her?«, wollte Mike wissen.
»Hat mir Willy geschenkt.«
»Und das hat er nicht vergessen?«
Anna zuckte die Achseln und schob den Schlüssel ins Schloss.
In einem Anflug von Erstaunen registrierte sie, dass sich nicht nur das Äußere des Hauses verändert hatte: Die Diele war neu tapeziert worden und auf der Telefonbank lagen saubere Sitzpolster. Als sie darunterschaute, kniff sie enttäuscht die Lippen zusammen. Statt der Pantoffeln, die sie damals in Willys Haus getragen hatte, stand dort ein Korb voller Latschen, an denen noch die Preisschilder klebten.
Sie rief erneut nach Willy, aber aus Küche und Wohnstube kam keine Antwort; vielmehr verursachte das Gemäuer eine Stille, die man allenfalls unter den Dächern alter Häuser vernahm. Still und doch nicht geräuschlos, eher ein schwaches Surren, das Gebälk und Gemäuer zu erzeugen schienen. Behutsam öffnete Anna die Wohnstube, trat ein und winkte Mike hinter sich her.
»Willy?«, flüsterte sie aus Sorge, ihn zu verschrecken. »Bist du hier?«
Auch in der Stube war alles anders oder genauer gesagt alles neu. Ein heller Anstrich verlieh dem Raum Größe und die Fenster wurden von fliederfarbenen Vorhängen geschmückt. Zwischen Sofa und Fernseher streckte sich ein Teppich, der für Willys Verhältnisse viel zu flauschig, viel zu einladend und vor allem viel zu sauber war.
»Er hat wohl auch seine ruhigen Momente«, sagte Mike und deutete zur Wand. Dort, wo einst Notizen, Fotos und Zeitungsartikel die Tapete verdeckt hatten, hing ein gerahmtes Puzzle; das Motiv eine Meereslandschaft mit Korallen, Fischen und einem riesigen Wal.
»Sieht ihm gar nicht ähnlich«, erwiderte Anna.
»Puzzeln soll gegen Demenz helfen.«
»Passt trotzdem nicht zu ihm.«
»Vielleicht wohnt er gar nicht mehr hier.«