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Anna runzelte die Stirn, als hätte Mike gerade für ein Verbot von Horrorfilmen plädiert. Oder ihr Freund lebe inzwischen mit jemandem zusammen, setzte er nach, was sie noch abstruser fand. Wortlos betrachtete sie ein Bücherregal, an das sie sich ebenso wenig erinnern konnte.
»Der Herr steht eindeutig auf Krimis.« Mike ließ einen Finger über die Einbände wandern. »›Goldfinger‹, ›Mondblitz‹ und … Ach, guck an.« Er tippte auf einen Reiseführer für Italien. »Von wegen er macht keinen Urlaub.«
Anna, zutiefst verunsichert, begab sich in den rückwärtigen Teil der Wohnstube. An der Wand stand das Küchenbüfett, dessen unpassender Platz ihr wenigstens vertraut war. Auf der Arbeitsfläche der Plattenspieler, daneben ein Stapel Schallplatten, beides ohne ein Körnchen Staub. Willy musste eine Frau kennengelernt haben – anders konnte sie sich diese Sauberkeit, diese ganzen Veränderungen nicht erklären. Sie ging in die Hocke und linste durch die Glastüren. Die Flasche »Bushmills«, die Willy am Tag ihrer Abreise angebrochen hatte, fand sich natürlich nicht im Schrank.
»Ich glaube, wir haben den gleichen Geschmack«, flüsterte Mike und hielt ihr ein Album namens »Barry White Greatest Hits« hin. Der Anblick entlockte Anna ein Lächeln; das war eindeutig eine von Willys Scheiben. Sie kam hoch und folgte Mikes Finger durch den Plattenstapel, von Tina Turners »Privat Dancer« zu Bill Withers »Lovely Day«, lauter Songs, die sie auch auf ihrer Playlist hatten, und als sie ihren Kopf an seine Schulter schmiegte, vernahm sie das Dröhnen stampfender Schritte.
Reflexartig wandten sie sich um, ehe sie beide in ihrer Bewegung erstarrten. Die Tür flog auf und Willy stürmte herein, in der Hand eine Axt, kein Blick zur Seite, kein Blick zu ihnen. »Verdammte Hexe!«, schrie er und schlug das Puzzle von der Wand.
9.05 Uhr
Jimmy Schauder setzte seine Brille auf und angelte das Smartphone vom Boden. Es war kurz nach neun, und er wusste, dass seine Mutter ihn jeden Moment aus dem Bett klopfen würde. Frühstück sei fertig, würde sie durch die Tür rufen und ihm gleichzeitig androhen, den Tisch abzuräumen, wenn er nicht sofort hinunterkäme.
Er rollte sich auf die Seite, knautschte das Kissen so zurecht, dass ihn die Brille nicht störte, und begann, »Fire Station 2« zu zocken. Seine Spielfigur war ein Feuerwehrmann, der innerhalb kürzester Zeit so viele Brandherde wie möglich löschen musste. Oberhalb der Spielfläche leuchteten seine verbliebenen Leben auf – er konnte selbst in einem der Feuer zu Tode kommen – und daneben lief ein Countdown mit der Spielzeit. Seit seine Chemielehrerin vor der Klasse einen Streifen Magnesium entflammt hatte, war Jimmy von Feuer fasziniert; besonders dessen Zerstörungskraft zog ihn in den Bann. Häuser und Scheunen, über die ein Feuertornado gewirbelt ist. Brennende Luftschiffe. Feindliche Unterschlüpfe, die er in »Shoot ’n Kill« mit dem Flammenwerfer ausradierte.
»Aufstehen!«, schallte es durch die Tür der Dachstube. »Frühstück ist fertig.«
Er sparte sich eine Antwort, denn der nächste Satz war schon im Anmarsch. Seine Mutter drohte ihm, den Tisch abzuräumen, wenn er nicht sofort käme. Also hob er sich in die Senkrechte, ohne das Spiel zu unterbrechen. Er hatte bereits 24 Feuer gelöscht und wollte sich nicht wegen Toast und Tee den Rekord nehmen lassen. Ihm leuchtete ohnehin nicht ein, weshalb seine Mutter immer so einen Aufriss ums Frühstück veranstaltete.
Er schlurfte zu seinem Schreibtisch, wo über der Stuhllehne seine Jeans und sein Pullover hingen, doch statt in beides hineinzuschlüpfen, pflanzte er sich auf den Stuhl. Er musste pinkeln und kniff nervös die Oberschenkel zusammen. Mit geübter Schnelligkeit rutschten seine Finger über das Display; diese Geschicklichkeit ließ Jimmys Vater an seinem eigenen Handy wie einen Grobmotoriker aussehen. Sein Vater hatte ihm das alte Smartphone geschenkt, nachdem er sich selbst ein neues gekauft hatte. Auch wenn Jimmy keine Karte zum Telefonieren besaß, konnte er wenigstens das WLAN benutzen und so die Spiele zocken, die er sich mit Erlaubnis seiner Eltern runterladen durfte.
Das Frühwarnsystem in seinen Ohren registrierte die Schritte seiner Mutter hinauf zu seinem Zimmer. Sogleich legten seine Finger einen Gang zu: Feuer löschen, Notruf empfangen, mit dem Einsatzwagen losfahren, das neue Feuer löschen, dem nächsten Notruf folgen, das Drücken der Türklinke ignorieren, Muttis Blick und Muttis Seufzen.
»Jetzt hab ich die Faxen dicke.«
Bevor sie ihm das Telefon aus der Hand hätte schnappen können, schob er es auf den Schreibtisch und beschwichtigte sie mit einer Salve von Entschuldigungen. Gern hätte er in Nullkommanichts seine Sachen angezogen, aber die Geschicklichkeit, die Jimmy auf dem Smartphone bewies, fehlte ihm in seinen Beinen. Er streifte sich umständlich die Hose über, danach den Pullover – und das alles unter den wachsamen Augen seiner Mutter.
»Vielleicht sollte Papa das Handy wieder einkassieren.«
»Ihr habt gesagt, solange ich meine Pflichten erledige …«
»Ich hab dich vor zehn Minuten gerufen.«
»Ich wusste nicht, dass Essen zu meinen Pflichten gehört.«
»Am Wochenende frühstücken wir zusammen. Wir sind keine Assis.«
»Und Papa?«
»Was ist mit Papa?«
»Der baut am Haus und kommt eh nicht.«
»Der macht wenigstens was.«
Er half seinem Vater gern, besonders, wenn er an eine der schweren Maschinen durfte. Das wiederum wollte seine Mutter nicht, weshalb er von seinem Vater nur die dümmsten Helferjobs aufgedrückt bekam. Wasser holen, um den Beton anzumischen. Ein Loch für einen Pfeiler ausheben. Irgendein Material abschleifen, allerdings mit Sandpapier und nicht mit dem Deltaschleifer. Und sobald sein Vater bei einer Zigarette pausierte, hing er genauso am Handy wie Jimmy sonst auch. Er zuckte mit den Schultern, schnappte sich das Telefon und rannte hinunter aufs Klo.
Noch vor der Morgenwäsche schrieb er Liane eine Nachricht. Dann schob er die Zahnbürste einmal in die linke Backe, einmal in die rechte, zum Schluss über die Vorderzähne und fertig. Mit einer Handvoll Wasser befeuchtete er sein Haar und kämmte sich den Pony zurecht. Lianes Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Komm vorbei, schrieb sie kurz und knapp. Wir zocken.
Er setzte sich auf den Toilettendeckel und betrachtete sein Smartphone, fixierte ihre Nachricht in der Hoffnung, es würde eine zweite folgen. Ein einziger Satz hätte ihm genügt: Wir können auch was anderes machen. Oder: Lass uns durch die Gegend streifen. Nein, verbesserte er sich. Liane würde nie durch die Gegend streifen sagen. Das waren die Worte seines Vaters gewesen, als er ihm hatte erklären wollen, was er in Jimmys Alter so getrieben habe. Durch die Gegend streifen. Unterstände errichten. Auf der Lauer liegen. Jimmy hatte das an die Scharfschützen aus seinem Lieblingsspiel erinnert. Sniper, die getarnt und regungslos verharren, um den Feind auszuschalten. Das hatte ihm gefallen.
Die Tür zum Badezimmer flog auf und seine Mutter trat ein, die Hand bereits ausgestreckt. Er wusste, was das bedeutete. Er sollte ihr das Telefon aushändigen. »Eine Nachricht noch«, bettelte er, und seine Mutter antwortete lediglich, dass sich sein Vater über jede Hilfe freuen würde.
Wie er erwartet hatte, standen nur die Margarine und das Glas Billignutella auf dem Tisch. Der Platz, wo sonst sein Vater saß, war natürlich leer. So viel zum Thema Wochenende. Von wegen die ganze Familie frühstückt gemeinsam. Alle schön beisammen, während im Ofen die Aufbackbrötchen dampfen. Sein Vater war bereits draußen und werkelte am Haus, seine Mutter strich in einem Prospekt die Schnäppchen an und statt der Brötchen gab es labbrigen Toast.
Jimmy rückte an den Tisch und klatschte sich die Schokocreme aufs Brot. Als er seinen Pfefferminztee süßen wollte, ermahnte ihn seine Mutter, und er stellte den Zucker zurück.
»Und was machst du heute?«, fragte sie ihn.
»Keine Ahnung.«
»Du kannst ja Papa helfen.«
»Ich bin mit Liane verabredet.«
Seine Mutter rollte mit den Augen, und Jimmy wusste nicht, ob ihre Reaktion den Schnäppchen im Netto galt oder seiner Verabredung. Sie leckte den Finger an, blätterte eine Seite um und sagte, ohne aufzuschauen: »Aber nicht wieder die ganze Zeit zocken.«
Liane, das einzige andere Kind im Dorf, besuchte wie er das Kant-Gymnasium und irgendwann hatten sie sich auf dem gemeinsamen Schulweg angefreundet. Liane besaß eine Playstation 4 – also nicht ihre Familie oder ihre junge Mutter, nicht einer der Brüder, die sie glücklicherweise nicht hatte, und auch kein gleichaltriger Freund, der ebenso wenig in ihrem Leben existierte. Liane besaß eine Playstation, nur für sich allein, und das verwandelte ein Mädchen aus der Nachbarschaft in ein wirklich cooles Mädchen.
»Wir zocken nicht. Wir wollen draußen spielen.« Er fand das Wort spielen peinlich, glaubte jedoch, dass es bei seiner Mutter den Argwohn zerstreuen würde.
»Willst du mich veräppeln?«
»Nein, will ich nicht.«
»Ich rufe bei Lianes Mutter an.«
Ja, das würde seine Mutter fertigbringen. Er biss von seinem Toast ab und grübelte, wie er wieder an sein Smartphone kommen könnte. Da öffnete sich die Tür und sein Vater stapfte herein. Er hatte die Arbeitsschuhe draußen abgestreift – Mutter hasste es, wenn er in dreckigen Botten das Haus betrat –, wuschelte im Vorbeigehen Jimmys Haar und zog schließlich die Kanne aus der Kaffeemaschine.
»Und? Kommst du voran?«, erkundigte sich seine Mutter.
»Geht so«, antwortete sein Vater.
»Jimmy hilft dir bestimmt.«
Sein Vater lehnte an der Anrichte und wischte mit dem Daumen über sein eigenes Smartphone. Fußball – das interessierte Jimmy kaum, es sei denn, es ging um die Millionenbeträge, die ein Spieler bei einem Vereinswechsel kostete.
Nachdem weder sein Vater noch er auf die Bemerkung seiner Mutter angesprungen waren, sagte sie:
»Und, Jimmy? Ein bisschen mit anpacken?«
»Papa baut den ganzen Tag.« Er blickte zu seinem Vater auf. »Oder?«
Sein Vater stierte auf sein Smartphone und zeigte keinerlei Reaktion.
»Zocken bei Liane fällt jedenfalls aus«, bekräftigte seine Mutter. »Hast du mich verstanden?«
»Ja klar«, sagte Jimmy besonders laut. »Wir wollen eh durch die Gegend streifen.«
9.35 Uhr
Willy hatte drei Tassen auf den Küchentisch gestellt, dazu eine Kanne Kaffee und ein Päckchen Milch. Er stemmte einen Arm gegen die Tischkante und neigte sich zurück, sodass die Stuhllehne knarzte. Unter seiner Weste raste noch immer sein Herz, und wenn Anna und Anhang ihn nicht überrascht hätten, wäre er vollends explodiert – zumindest glaubte er das.
»Und?«, fragte sie ihn.
»Was und?«
»Na, was ist da eben passiert?«
»Kleine Entrümpelung«, sagte er und nippte an seinem Kaffee. »Willst du uns nicht bekannt machen?«
Anna zeigte auf den Mann. »Das ist Mike.« Sie richtete den Finger auf ihn. »Und das ist Willy.«
Darauf erhob sich der Fremde, streckte ihm die offene Hand entgegen, und sein Gesicht offenbarte ein Lächeln, das er vorhin garantiert nicht zustande gebracht hätte. Nachdem das Puzzle auf den Boden geschlagen war, hatte Willy den Rahmen zwischen Fuß und Scheuerleiste fixiert und ihn so lange mit der Axt bearbeitet, bis das Holz splitterte; dann hatte er die Rückwand herausgetreten und die Meereslandschaft eigenhändig zerrissen. Einer der Fetzen war durch die Stube gesaust, genau dorthin, wo zwei Besucher ihn fassungslos anstarrten.
Willy schenkte ihm ein Nicken; mehr war nicht drin, was dieser Mike sofort zu begreifen schien. Er sank zurück auf den Stuhl, ohne sein Lächeln abzustellen.
»Ich nehm mal an«, sagte Willy, »Sie sind Annas Neuer.«
»Wohl mehr gebraucht als neu.«
»Ah, gebraucht und witzig?«
»Willy, was soll das?«, entgegnete Anna.
»Braucht dein Neuer etwa ’ne Beschützerin?«
Mike hob die Brauen, bevor er den Blick, anscheinend peinlich berührt, zur Seite wandte. Willy musterte ihn ohne jede Scheu, von seinem zugeknöpften Hemd über das weiche Kinn hinauf zu seinem Stirnband. Der Fremde musterte wiederum die Küche. Seines Erachtens war es ein abschätziger Blick, gerade so, als sitze er in der Bruchbude eines Hinterwäldlers; dabei hatte Willy erst vor Kurzem das Spülbecken geputzt, den Grünspan vom Wasserhahn entfernt und das rostige Herdgitter gegen ein neues ausgetauscht; selbst die Gardinen waren gewaschen und die Fenster geputzt. Gewiss würde dieser Mike das alles übersehen, mit voller Absicht natürlich.
»Schick hast du alles gemacht«, sagte Anna.
»Danke«, knirschte er. »Bekomm ich jetzt ’nen Preis?«
»Ich meine das ehrlich. Es gefällt mir.«
»Ihre Plattensammlung ist auch nicht ohne«, sagte Mike und Willy rang sich ein zweites »Danke« ab.
Er beobachtete, wie der Mann mit einer beiläufigen Zärtlichkeit über Annas Handrücken strich, gleichzeitig machte sich in seiner Kehle ein schwaches Sodbrennen bemerkbar. Obwohl er wusste, dass er jetzt auf Kaffee verzichten sollte, schenkte er sich nach.
»Alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte sich Anna.
»Ja, alles bestens.«
»Und was sollte das nun?«
Er rieb sich den Bauch und linste zur Anrichte. Das Röhrchen mit dem Magnesium war leer; die letzten Tabletten hatte er eingeworfen, nachdem sein Magen auf den ersten Wutanfall reagiert hatte. Das war gestern gewesen, irgendwann gegen acht. Er glaubte, aus Mikes Blick ein tiefes Bedauern zu lesen, doch war Mitleid das Letzte, was er von diesem Typen haben mochte. Er rutschte vor und erkundigte sich bei Anna, weshalb sie hier sei.
»Wann bist du zuletzt in Gollwitz gewesen?«, fragte sie zurück.
»Keine Ahnung. Ist lange her.«
»Und deine Kneipenbesuche?«
»Da kriegen mich keine zehn Pferde rein.«
»Immer noch Ärger mit den Nachbarn?«
»Ich und Gollwitz, das passt einfach nicht.«
Er hakte nach, was sie dort wolle, und schickte hinterher, sie solle ihm nicht ausweichen. Er sei zwar alt, aber nicht senil.
»Das ist eine lange Geschichte«, entgegnete Anna.
»Willst du deine Familie besuchen?«
Anna verzog keine Miene.
»Das Gutshaus läuft bestimmt gut.«
Ihm fielen ihre unterschiedlich großen Augen auf, das linke viel kleiner als das rechte. Das war die Anna Majakowski, die er kannte, die vor dreieinhalb Jahren in Gollwitz aufgetaucht war, allein, verunsichert und mit einem Rucksack voller Fragen. Damals hatte er sie auf dem Friedhof abgefangen und sie war nicht in sein Haus eingedrungen. Unangekündigt und mit einem Fremden im Schlepptau. Er spürte das Brennen in seiner Kehle, blickte automatisch zur Anrichte, wo nur das leere Röhrchen lag, und atmete schwer aus. Als er Anna erneut nach dem Anlass ihres Besuchs fragen wollte, sah er, dass die Frau von damals verschwunden war. Mike strich ihr über das Knie, eine geradezu einfühlsame Geste, die Willy sogleich zu deuten wusste: Mir tut der alte Mann ebenso leid. Schade um ihn. War vielleicht mal ein kompetenter Bursche.
»Ich hab euch nicht eingeladen«, sagte er grob, erhob sich und schlurfte aus der Küche, ehe ihn eine andere Regung übermannen konnte.
Er steuerte in die Schlafstube, warf die Tür hinter sich zu und setzte sich mit dem Rücken zum Eingang aufs Bett. Letzte Woche hatte er es frisch bezogen, hatte Kopfkissen und Decke in saubere Wäsche gestülpt und über beide Matratzen ein Laken gespannt. Jahrelang war es ihm unmöglich gewesen, Evas Hälfte herzurichten; für ihn hatte es stets einen Geschmack von Verrat gehabt – an 40 Jahren Ehe, an seinem Schwur, ihr auf ewig die Treue zu halten, an Eva selbst.
Er umklammerte die Bettkante und starrte gegen die Wand. Auch wenn die Tapete schief angebracht war oder der Lack auf den Fensterrahmen nicht richtig deckte, hatte die Schlafstube den Neuanfang unterstreichen sollen. Er hatte sich ernsthaft bemüht, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Hatte Ordnung schaffen wollen, so wie es Eva sich von ihm gewünscht und erwartet hätte. Mit erstarkter Lebensfreude hatte er sämtliche Schränke und Kommoden ausgemistet, hatte längst vergessene Schubladen geöffnet und deren Inhalt nach Ramsch und Kostbarkeiten sortiert. Gestern war er dabei auf das verdammte Buch gestoßen.
Das Öffnen der Tür riss ihn aus seinen Gedanken.
»Willy«, sagte Anna, »alles in Ordnung?«
Er hörte sie eintreten und erstarrte am ganzen Körper. Sie schloss von innen die Tür, hielt aber respektvollen Abstand zu ihm.
»Sollen wir wieder fahren?«
Das Ja wollte ihm bereits von der Zunge springen. Dann ereilte ihm die Erinnerung, wie Anna und er in seinem Opel unterwegs gewesen waren; er hatte ihr geholfen und sie hatte ihm geholfen, damals auf der Jagd nach dem Mörder ihrer leiblichen Eltern. Mit dieser Erinnerung verschaffte sich eine Idee Gehör, die er am Morgen ersonnen, doch rasch wieder verworfen hatte.
»Hast du Zeit?«, fragte er.
»Ja, klar«, antwortete sie.
»Wirklich?«
»Warum denn nicht?«
Er zeigte auf die Stelle, an der früher das Puzzle gehangen hatte, und räusperte sich affektiert. »Das ist ein Geschenk für Eva gewesen«, sagte er. »Da war sie schon krank, sehr, sehr krank. Bevor sie gegangen ist, hat sie es noch fertig gepuzzelt. Ich hab’s letzten Monat in die Wohnstube gehangen, damit’s nicht die ganze Zeit im Dunkeln hängt.«
»Das hätte sie bestimmt gefreut.«
»Da verwette ich meine Socken drauf.« Er lachte. »Sie hat immer behauptet, ich hätte kein Händchen fürs Schöne. Ich sei mehr der Mann fürs Grobe. Sozusagen ein Grobian. Na ja, wenn sie jetzt das Haus sehen könnte, würde sie sich ziemlich wundern.«
»Und warum hast du das Puzzle kaputt geschlagen?«
»Weil sie ’ne Hexe gewesen ist. So einfach.«
Er schaute beharrlich in eine andere Richtung, wollte nicht, dass Anna merkte, wie er seine Aggression zu unterdrücken versuchte. Die schief angebrachte Tapete, der schludrig aufgetragene Fensterlack – das alles dämpfte seine Wut nicht mehr. Augenscheinlich hatte er allein nichts auf die Reihe bekommen. Mit dieser Erkenntnis wurde ihm Annas Besuch ein Zeichen, eine Fügung des Schicksals. Mit ihrer Hilfe würde er seinen Plan verwirklichen. Nun spürte er ihre Gegenwart ganz deutlich im Rücken. Ja, Anna war hierhergekommen, um ihm zu helfen.
»Lass uns nach Kuxwinkel fahren.«
»Kuxwinkel? Wo soll das sein?«
»Ein paar Kilometer Richtung Osten.«
»Hab ich noch nie von gehört.«
»Musst du auch nicht. Ist ein Fliegenschiss.«
»Und was willst du da?«
»Dem Lehrer einen Besuch abstatten.«
Anna setzte sich neben ihn und ihre Miene strotzte vor Unverständnis. »Welchem Lehrer denn?«
»Na, dem Schwein, das Eva gevögelt hat.«
9.55 Uhr
»Papa hat gesagt, dass es jetzt aufwärts geht.«
»Wie aufwärts?«
»Bald sind wir reich.«
»Habt ihr im Lotto gewonnen?«
Anstatt mit Liane den Trampelpfad zu benutzen, streifte Jimmy durchs Gras, als sei er direkt einem Ego-Shooter entsprungen. Er stoppte und linste über die Halme hinweg: »Ich meine wegen der Fabrik.«
»Hat dein Daddy etwa Aktien gekauft?«
»Der will dort arbeiten.«
»Pförtner werden nicht reich.«
»Mein Papa ist Automechaniker, also.«
Liane Pfabe, die nicht nur zwei Klassen über Jimmy war, sondern ihm auch auf den Kopf hätte spucken können, teilte seinen Enthusiasmus nicht im Mindesten. »Die Fabrik steht doch erst in hundert Jahren.«
»Nein«, protestierte er, »nächstes Jahr schon.«
»Hast du ’ne Peilung, was für ’n Palast das wird?«
»Klar, so groß wie Ikea.«
»Ikea ist mini dagegen.«
Jimmy stoppte und seine riesigen Augen wurden hinter den Brillengläsern noch größer. Liane knickte die Arme ein, verschränkte die Hände hinter den Brustlatz ihrer Jeans und erinnerte ihn daran, dass am Flughafen Berlin Brandenburg seit 2006 gebaut wurde.
»Ja und?«
»Da warst du nicht mal geboren.«
»Aber du, oder wie?«
»Ich war immerhin ein süßes Baby.«
Während Jimmy Kotzlaute imitierte, entfaltete sich in Lianes Gedanken eine Urkunde, die sie im Schrank ihrer Mutter entdeckt hatte. Das kleinformatige Papier trug die Aufschrift: Erik Beimer. 1. Platz im 100-Meter-Lauf. Sportfest des Dunker-Gymnasiums. Liane kannte weder einen Erik Beimer noch hatte sie ihre Mutter jemals von einer Person dieses Namens reden gehört. Eine innere Stimme flüsterte ihr, dass es sich bei dem Gewinner um ihren Erzeuger handelte, einen Mann, den sie nie hatte kennenlernen dürfen. Ihr leuchtete kein anderer Grund ein, weshalb ihre Mutter die Urkunde sonst hätte aufheben sollen. Als Liane sich später das Dokument noch mal hatte ansehen wollen, war es verschwunden gewesen. Bis heute hatte sie ihre Mutter nicht darauf angesprochen; die Angst, nicht die Urkunde, sondern ihre Schnüffelei würde zum Thema des Gesprächs werden, ließ sie schweigen.
»Mein Papa hat trotzdem recht«, fuhr Jimmy in ihre Gedanken. »Nächstes Jahr sind die fertig.«
»Klingt ziemlich naiv«, entgegnete Liane.
»Ich hab neulich in Mathe ’ne Eins gehabt.«
»Und kannst du deswegen hellsehen?«
»Frau Petzold meinte, ich bin der Beste.«
»Dann heiratet doch.«
Jimmy gab von Neuem Kotzlaute von sich. Liane und er hatten trotz unterschiedlicher Klassenstufen dieselbe Mathelehrerin, und wer Frau Petzold kannte, würde den Gedanken an eine Heirat immer mit einem Würgereiz begrüßen. Eigentlich war sie längst über das Alter hinaus, in dem man sich über Lehrer und Lehrerinnen lustig machte; nur lebten in Kuxwinkel keine anderen Teenager; nach Jimmy und Liane war die jüngste Person ihre eigene Mutter.
»Weißt du, was meine Mutti meint?«
»Nee.«
»Das Klügste ist, man zieht hier weg.«
»Dann kann sie ja nicht in der Fabrik arbeiten.«
»Hast du mir gerade zugehört?«
Jimmys Augen hoben sich über das Grün, als visiere er ein fernes Ziel an.
»Wenn die Fabrik fertig ist«, erklärte Liane, »sind deine Eltern längst tot.«
»Du spinnst ja.«
»Ich sag nur Flughafen.«
»Papa lügt nicht, niemals.«
»Alle Eltern lügen.«
»Mein Papa nicht.«
Jimmy tauchte wieder ab und allein die Bewegung der Grashalme verriet seine Position. In betont ironischem Tonfall meinte Liane, sein Vater sage natürlich die Wahrheit.
»Na also«, erwiderte er.
»Was also?«
»Also hab ich recht.«
»Wir haben beide recht.«
»Das geht nicht.«
»Okay«, sagte Liane versöhnlich. »Du hast heute recht und ich morgen.«
Er sprang aus der Deckung hervor und seine Brillengläser reflektierten das klare Licht der Vormittagssonne. »Und wenn du morgen stirbst?«, fragte er. »Hab ich dann für immer recht?«
Der Trampelpfad mündete in eine ungepflasterte Straße. Jimmy verblieb im Schutz des Grases, bis er sicher zu sein schien, dass keine feindlichen Truppen patrouillierten. Mit einem Winken signalisierte er ihr, die Gegend sei sauber; dann huschte er über die Fahrbahn und verschwand auf der anderen Seite im Gras. Würden sie nicht dem Pfad, sondern der Straße folgen, wären sie binnen zehn Minuten wieder in Kuxwinkel; jetzt aber entfernten sie sich Stück für Stück von den Häusern und Höfen, von ihren Nachbarn und Eltern.
»Liane?«
»Ja.«
»Wusstest du, dass Elektroautos brennen können?«
»Alle Autos können brennen.«
»E-Autos fahren ohne Benzin.«
»Ach ja, hab ich vergessen.«
Jimmy richtete sich auf und fokussierte sie so eindringlich, dass sie nicht umhin kam, ihn nach dem Grund zu fragen.
»Akkubrand«, antwortete er. »In England ist sogar ein Mensch gestorben.«
»In seinem Auto?«
»Ja, verbrannt.«
»Oh, Shit.«
»Seine Frau hat die Firma verklagt.«
Liane rupfte die verdorrte Ähre eines Grashalms ab und zerbröselte sie zwischen ihren Fingern.
»Auf eine Million Dollar«, ergänzte Jimmy ehrfurchtsvoll.
»Das bringt den Mann auch nicht zurück.«
»Dafür kann sie für immer in den Urlaub fahren.«
»Und ist Witwe. Für immer.«


