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Bea war wegen Quandri schlecht gelaunt und so gingen wir gleich nach dem Essen auf unser Zimmer und übten Gegenstände verschieben (Bea natürlich, ich feuerte sie nur an). Ich liebte es, wenn sie Kissen allein mit Gedankenkraft durchs Zimmer fliegen ließ und war mir sicher, dass Quandri stolz auf sie sein würde.
Quandri holte Bea als erstes ab, sie kam (ohne zu Klopfen übrigens!) in unser Zimmer und das Kissen, das Bea mir gerade ohne es zu berühren an den Kopf werfen wollte, segelte langsam auf halbem Weg zu Boden.
Quandri hob die Brauen. »Gut, dass du übst«, sagte sie gönnerhaft und nickte mit dem Kopf in Richtung Tür. Bea trottete ihr missmutig hinterher. Yu Weiß kam dieses Mal sehr kurz nach Quandri, um mich abzuholen – im Gegensatz zu ihr klopfte er jedoch höflich an, und stürmte nicht einfach in unser Zimmer.
Ich folgte ihm wieder in ein leeres Klassenzimmer. Kaum hatten wir den Raum betreten, als Yu Weiß sich ein Stück Kreide aus dem Behälter neben der Tür nahm und etwas an die Tafel schrieb:
1. Beobachten
2. Verstehen
3. Reagieren
Seine Schrift war ordentlich und gerade – was für Mentoren und Lehrer meiner Meinung nach sehr ungewöhnlich war. Die Schrift der meisten Lehrer, die ich in den letzten zehn Jahren gehabt hatte, konnte man in etwa so gut entziffern, wie mir Magie beibringen. Verwundert setzte ich mich auf einen der Tische in der ersten Reihe und ließ meine Füße baumeln. »Das«, sagte Yu Weiß, »ist sehr wichtig. Ich möchte, dass du dir das einprägst. Alles was du tust, sollte auf diesen drei Dingen beruhen. Du beobachtest etwas, erschließt, was passiert ist und reagierst angemessen.«
Ich runzelte immer noch verwirrt die Stirn, weil ich nicht wusste, was er mir damit sagen wollte. »Ich nenne dir ein Beispiel«, sagte Yu Weiß, der mir wohl ansah, dass ich ihn nicht verstand. »Angenommen, ich würde jetzt zusammenbrechen und Blut spucken. Du würdest sehen, was mit mir passiert, dann würdest du dich hoffentlich daran erinnern, dass vor allem Babaspilze eine solche Wirkung haben. Deine Reaktion wäre das Holen eines Krankenwagens. Verstehst du, was ich meine?«
Ich nickte langsam. Ja, ich verstand, was er meinte, aber ich wusste immer noch nicht, was er mir damit sagen wollte. Warum dachte er, dass so etwas gerade für mich wichtig wäre, mich aufs Leben, wie er gesagt hatte, vorbereiten würde?
»Nun, ich möchte, dass du das anwendest. Nicht nur bei alltäglichen Gelegenheiten, sondern überall. Wenn du etwas Merkwürdiges siehst, das du nicht verstehst, solltest du dir Informationen beschaffen, damit du es verstehst und anschließend reagieren kannst.«
Den Rest des Unterrichts redeten wir über Magie im Allgemeinen, wie sie sich auswirkte, wenn sie begann (beispielsweise litten viele sechsjährige, wenn sie ihre Magie bekamen, unter Schlafstörungen, Fieber und Kopfschmerzen).
Beas Mentorin Quandri war wohl genauso merkwürdig wie Yu Weiß.
»Sie meinte, ich solle Mentorin werden«, Bea tickte sich gegen die Stirn. Ich saß mit angezogenen Beinen auf dem Rand der Dusche, während Bea sich schminkte. (Sie hatte vor, Luis heute zu fragen, ob sie sich mal treffen wollten. Seit der achten Klasse waren die beide eines von diesen Fast-Paaren, bei denen man sich fragt, weshalb sie noch nicht zusammen sind.)
»Genau, ich. Sehr lustig. Morgen will sie mit mir in die Stadt fahren und ein paar Dinge besorgen, die wir bewegen können. Keine Ahnung, woran sie so denkt. Sessel vielleicht«, Bea grinste und steckte ihre Schminksachen wieder in ihre kleine Tasche zurück. »Und was habt ihr gemacht?«
Ich erzählte ihr von den drei Stichworten an der Tafel. »Ich hab das Gefühl, dass Yu Weiß ziemlich merkwürdig ist«, sagte ich. »Ob das gut oder schlecht ist – keine Ahnung.«
Bea schaffte es an diesem Abend tatsächlich, Luis zu fragen. Sie verabredeten sich für das Wochenende in einem Restaurant in der Stadt (was natürlich nicht erlaubt war) und Bea vergaß sogar ihren Ärger wegen ihrer Mentorin Quandri. Erst als wir in den Betten lagen, kamen wir wieder auf unsere Mentoren zu sprechen.
»Kopf hoch und Schultern raus, Bea«, ahmte Bea die Stimme ihrer Mentorin nach.
Ich musste lächeln. Ehrlich gesagt hatte ich mir das alles schlimmer vorgestellt. Meine Mitschüler beachteten mich immer noch so wenig wie früher – sie schienen den Ärger darüber, dass der Schulleiter mich unterrichte, über ihre erste Mentorenstunden wieder vergessen zu haben – und Yu Weiß war vielleicht ein Mentor mit vielen Merkwürdigkeiten, aber keineswegs mies oder nervig. Im Gegenteil – ich hatte das Gefühl, dass er sehr klug war.
Die nächsten Stunden mit Yu Weiß waren sehr interessant, auch wenn ich langsam aber sicher zu dem Schluss kam, dass er den letzten Schuss nicht gehört hatte. Wahnsinn und Klugheit lagen nun mal sehr nah beieinander. Bea war mit Mentorin Quandri nicht wirklich zufrieden und das besserte sich auch in den nächsten Tagen nicht. Ich lernte Quandri das einzige Mal kennen, als sie mit Bea so unzufrieden war, dass sie der Meinung war, beim Abendessen ihre Lehreinheit fortzusetzen zu müssen. Sie wirkte sehr arrogant und schien sich nur auf ihren Stoff zu konzentrieren, so wie sie Bea herumkommandierte.
Ich war so vollkommen mit Yu Weiß’ Arbeit (und seinen Hausaufgaben) beschäftigt, dass ich praktisch keine Zeit für andere Dinge fand.
Nachdem Luis und Bea ein paar Mal miteinander ausgegangen waren, saß er jetzt immer an unserem Tisch in der Mensa (was schon ein Fortschritt war).
Der Unterricht mit Yu Weiß wurde immer anspruchsvoller, ein paar Stunden konzentrierten wir uns total auf Heilpflanzen und die Woche darauf nur auf die Magie der Rotkutten.
»Natürlich ist die Magie bei jeder Kutte unterschiedlich«, erklärte Yu Weiß mir, während wir in einem der leeren Klassenräume saßen, »aber alle Rotkutten sind der Telekinese mächtig, das heißt, sie können Gegenstände bewegen. Die Schwächeren schaffen es vielleicht nur, eine Feder schweben zu lassen, aber die Besten können Häuser verschieben. Diese wenigen werden normalerweise Architekten.« Dann schauten wir uns Studien über die Magiepunkte der Rotkutten an, die ich mir einprägen sollte.
Ich dachte schon, dass das Leben so eigentlich doch ganz schön war, auch ohne Magie. Ich lernte wirklich viel von Yu Weiß, und auch wenn es anstrengend war, bis spät in die Nacht an Büchern oder Arbeitsblättern zu sitzen, interessierte es mich. Und, was fast das Wichtigste für mich war: Er behandelte mich wie eine normale Rotkutte.
Kapitel 2
Ein paar Wochen später folgte ich Yu Weiß nach dem Frühstück quer durch das ganze Schülerhaus (so nannten sich die Gebäude, in denen Schüler nach dem Entdecken ihrer Magie unterrichtet wurden).
»Warum gehen wir nicht wieder in einen leeren Klassenraum?«, fragte ich.
»Das wirst du sehen«, antwortete er nur. »Jetzt musst du dich an das Versprechen erinnern, das du mir gegeben hast.«
Ich kannte das Schülerhaus der Rotkutten nicht so gut, wie man einen Ort, an dem man fast die gesamte Zeit seines Lebens verbracht hatte, eigentlich kennen müsste. Das lag aber vor allem daran, dass ich es vermieden hatte, mit anderen Leuten durch die Korridore zu gehen, oder auch nur von anderen gesehen zu werden. Tatsächlich fiel mir auf, als ich gerade darüber nachdachte, dass ich eigentlich die ganze Zeit entweder in den Klassenzimmern, in der Mensa oder aber in meinem Zimmer verbracht hatte.
Schließlich drückte Yu Weiß eine Tür auf, und ich fand mich in einem Raum wieder, den man nur als eindrucksvoll beschreiben kann.
Der Raum (viel eher eine Art Saal) war riesig. Die linke Seite bestand nur aus Fenstern und das morgendliche Sonnenlicht spiegelte sich auf der gegenüberliegenden Wand des Raumes, an der die Statue stand. Natürlich hatte ich im Unterricht von den Göttern der verschiedenen Kutten gehört, aber als Nichtmagier hatte mich es nicht sonderlich interessiert. Die Götter waren sowieso nicht auf meiner Seite. Aber dennoch konnte ich nicht anders, als die Statue des Rotkuttengottes zu bewundern. Sie reichte fast bis zur Decke, und die langen, kräftigen Beine standen auf einem runden Plateau. Der Gott (ich konnte mich daran erinnern, dass er Armet hieß) hielt in der Rechten Pfeil und Bogen, das Zeichen der Rotkutten. »Du darfst auch nicht von diesem Raum erzählen, Sofia«, sagte Yu Weiß und riss mich aus meinen Gedanken. Ich wandte den Blick von der Statue ab und nickte. Obwohl ich keine Ahnung hatte, warum ich ihm diese Versprechen geben musste, vertraute ich meinem Mentor. Ich hatte nur auf die beeindruckende Statue geachtet, aber der Raum war nicht vollkommen leer. In der Mitte waren Matten auf dem glatten Mamorboden ausgebreitet, und an der Wand hingen Waffen. Fasziniert trat ich näher. Ich hatte noch nie solche Waffen gesehen, da man normalerweise seine Magie nutzte, sollte man angegriffen werden. Das dachte ich jedenfalls.
Der Großteil der Waffen waren Pfeil und Bogen, aber es gab auch lange Metallstäbe, die Yu Weiß »Lanzen« nannte, »Dolche« und »Schwerter«.
Nachdem ich mir die Waffen angeschaut hatte, setzten Yu Weiß und ich uns auf die Matten in der Mitte des Raumes.
»Wenn du kämpfst«, sagte er eindringlich, »kämpfst du nicht mit Magie, wie du vielleicht denkst. Die meisten nehmen das an, aber das liegt daran, dass sie noch nie wirklich gekämpft haben. Wenn man in einem Kampf Magie einsetzt, ist man viel zu schnell erschöpft und wird vielleicht sogar ohnmächtig und das ist das Letzte, was man sich vor einem Feind erlauben kann. Deshalb gibt es diese Waffen, die ich dir gerade benannt habe.« Yu Weiß stand auf, ging zu der Wand mit den Waffen und nahm eine in die Hand.
»Dolche sind Stichwaffen, die zur Waffenart der Messer gehören«, erklärte Yu Weiß. »Siehst du hier die Klinge? Sie ist zweischneidig, und etwa vierzig Zentimeter lang. Das Griffstück besteht hier aus Holz, es gibt aber auch weit bessere Modelle aus Jade oder Elfenbein.«
Es klingelte, die Mittagspause hatte begonnen. »Warum …«, fragte ich, »warum erzählen Sie mir das alles? Ich werde nie kämpfen, sondern irgendwo in einem Haushalt putzen oder etwas in der Art.«
Yu Weiß lächelte mich verständnisvoll an. »Allgemeinwissen«, sagte er sanft, aber ich glaubte ihm kein bisschen. Waffen oder auch nur Kämpfen hatte ganz sicher nichts mit Allgemeinwissen zu tun und das lag nicht nur daran, dass die anderen Mentoren den Schülern das nicht beibrachten.
Beim Mittagessen war ich sehr still, selbst für meine Verhältnisse, und das fiel auch Bea auf. »Alles in Ordnung?«, fragte sie leise, als Luis für uns Nachtisch besorgte, aber ich schüttelte den Kopf.
»Nur viele Hausaufgaben«, log ich und verdrehte die Augen. Ich wollte Bea von der Stunde mit Yu Weiß erzählen, aber ich hatte auch ein Versprechen gegeben. Hin- und hergerissen überlegte ich, ob ich Bea davon erzählen sollte und hatte mich gerade dafür entschieden, als Luis mit einem abwertenden Blick auf mich zwei Puddingschalen brachte und sie vor seinen und Beas Teller stellte. Bea sah mich entschuldigend an.
»Ich hab sowieso keinen Hunger, danke der Nachfrage«, versetzte ich und stand auf. An diesem Abend gingen Bea und Luis zusammen in die Stadt und ich legte mich auf mein Bett und versuchte die Lektüre über Pilze und Kräuter zu lesen, die Yu Weiß mir gegeben hatte. Aber immer wieder drifteten meine Gedanken ab, zu der Stunde mit Yu Weiß und den Fakten über Dolche. Ich wusste nicht wieso, aber ich hatte ein ungutes Gefühl bei der Sache. Yu Weiß war niemand, der etwas ohne Grund machte. Und dass er mir Waffentraining gab, beunruhigte mich zutiefst. Vielleicht, überlegte ich, machte er das aber auch nur, weil ich keine Magie zu Verfügung hatte. Ich musste mich ja irgendwie verteidigen können. Allerdings – wovor sollte ich mich als Putzfrau verteidigen, etwa vor Putzlappen?
Ich konnte nicht einschlafen, und setzte mich deshalb an das Fenster. Draußen war nur der Mond zu sehen und er beleuchtete den gepflasterten Innenhof in einem sanften Licht. In diesem Moment sah ich einen Schatten, nur wenige Meter vom Haus entfernt, auf dem Boden kauern. Ich hätte ihn nicht gesehen, hätte der Mond nicht so hell geschienen. Vorsichtig rutschte ich vom Fensterbrett und schob meine Hand, ohne den Blick von der Gestalt zu lassen, zentimeterweise über die Wand, bis meine Finger den Lichtschalter ertasteten. Dunkelheit fiel über das Zimmer, sobald ich das Licht ausgeschaltet hatte. Da die Gestalt mich jetzt auch nicht mehr sehen konnte, sollte sie nach oben schauen, kletterte ich wieder auf das Fensterbrett. Ich konnte mir nicht vorstellen, was jemand vor dem Schülerhaus der Rotkutten wollte. Vielleicht vor einem der Blaukutten – wenn jemand von einer Blaukutte Goldstücke erpressen oder teure Bücher klauen wollte. Aber hier? Ich wusste nicht, was ich machen sollte, deshalb blieb ich einfach sitzen und beobachtete die Gestalt. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber irgendwann erhob sich die Gestalt, trat ein paar Schritte zurück und verschmolz mit der Dunkelheit. Mir lief ein Schauer über den Rücken, ohne dass ich genau sagen konnte, weshalb. Wahrscheinlich gab es eine natürliche Erklärung dafür, dass jemand in der Dunkelheit dort unten hockte, als ob er auf jemanden warten würde, nur um ihm gleich an die Kehle zu springen. Aber ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, welche.
Ich war noch wach, als Bea die Tür zu unserem Zimmer leise öffnete und im Bad verschwand. Mit geschlossenen Augen lag ich da und lauschte dem unregelmäßigen Rauschen unseres Wasserhahns. Immer wieder musste ich an den merkwürdigen Schatten unter meinem Fenster denken, und es war weit nach Mitternacht, als ich endlich einschlief.
Das Wochenende verbrachten wir wie immer; am Samstagmorgen lagen Bea und ich bis Mittag im Bett und aßen dann in der Mensa »Frühstück«. Danach zeigte Bea mir, wie sie Gegenstände verschob und wir gingen in die Stadt. Wir achteten sorgfältig darauf, nur in der Gegend der Rotkutten zu bleiben, wofür ich Bea dankbar war. Ich konnte diese riesigen Villen der Blaukutten einfach nicht ertragen, genauso wenig wie die blauen Funken Magie, die immer durch ihre Straßen zu fliegen schienen. Nachdem Bea sich neue Kleidung gekauft hatte, zog sie mich in ein Geschäft für Kräutertränke und Elixiere. Als wir durch die kleine Tür traten, klingelte eine Glocke und mir wehten die verschiedensten Düfte entgegen. Es war dunkel im Laden, und nur ein paar im Raum verteilt stehende Kerzen erzeugten ein Dämmerlicht. Überall standen Kessel und Töpfe herum, in denen wer weiß was blubberte. Bea grinste: Sie liebte diese Läden über alles. Ehrlich gesagt konnte ich mir gut vorstellen, dass Mischer ein guter Beruf für sie wäre.
Während sie mit der Mischerin im Laden fachsimpelte, (»Fünf Jahre alte Froschschenkel aus dem Sumpfteich! Eine Schande, dass er eingegangen ist. Aber wie viel kostet denn dieses Weißbuschkraut?«) drifteten meine Gedanken zu Yu Weiß’ merkwürdigem Unterricht und der Gestalt unter meinem Fenster ab.
Irgendwann (eine gefühlte Ewigkeit später!) zupfte Bea an meinem Ärmel und zog mich aus dem Laden in das gleißende Sonnenlicht, an ihrem Arm baumelten mindestens zehn Tüten, gefüllt mit kleinen Fläschchen und verpackten Kräutern.
Am Sonntag holte Yu Weiß mich schon kurz nach dem Frühstück ab. Wir gingen wieder in den Trainingsraum, wo er mir dieses Mal alles über Knauf, Parierstange, Klinge und Fehlschärfe erklärte. Ich hatte, als wir bei der Fehlschärfe angekommen waren, schon wieder alles über den Knauf vergessen.
»Ich möchte, dass du bald einmal kämpfen übst«, sagte mein Mentor am Ende der Stunde nebenbei.
»Moment! Was soll ich machen?!« Ich hoffte, mich verhört zu haben.
»Kämpfen üben«, wiederholte Yu Weiß ruhig. »Natürlich nicht mit mir«, er gluckste leise, »dafür bin ich ein bisschen alt. Morgen wirst du jemanden kennenlernen, der mir dafür geeignet scheint. Nach dem Mittagessen baue ich hier eine Zielscheibe auf, damit du mit Pfeil und Bogen schießen kannst«, erklärte er und hängte seelenruhig das Schwert, an dem er mir die Begriffe erklärt hatte, wieder zurück an die Wand.
Ich stolperte aus dem Raum und rannte den Weg zur Mensa zurück. Okay, es war an der Zeit, mein Versprechen zu brechen. Ich musste unbedingt mit jemanden darüber reden! Beim Mittagessen wich Luis Bea aber leider nicht von der Seite, und danach kam Mentorin Quandri, um Bea schon vor Ende der Pause wieder abzuholen. Luis verdrückte sich danach schnell, ohne auch nur ein Wort mit mir gewechselt zu haben. (Woran das lag, kann man sich denken.)
Auf jeden Fall schlenderte ich nach dem Ende der Pause gerade in Richtung des riesigen Raumes mit der Statue von Armet, als mir Isabell und ihre Freunde über den Weg liefen. Also noch beschissener konnte der Tag eigentlich nicht werden.
»Na, Freaki? Bist du auf der Suche nach deiner verschwundenen Magie oder was treibt dich hier her?« Isabell strich sich mit den Fingern durch die lange, braune Mähne.
Ich schüttelte den Kopf. »Lass mich einfach durch«, sagte ich bestimmt, aber sie und ihre drei Mitläuferinnen versperrten mir den Weg.
»Du gehörst wirklich nicht auf diese Schule«, sagte eine von Isabells Freundinnen, Lindsay, abfällig und lehnte sich demonstrativ cool an die Wand. Ich verdrehte die Augen, obwohl mir jedes ihrer Worte wie ein Messer ins Herz schnitt. Keine Ahnung, warum es mich nach all den Jahren immer noch so traf.
Nach weiterem abfälligen Gekicher und Spötteleien ließen sie mich endlich durch und ich rannte die Strecke bis zum Trainingraum – zu spät kam ich natürlich trotzdem. Aber Yu Weiß saß ganz entspannt auf einer der Matten, Pfeil und Bogen lagen in seinen ruhigen Händen und er schien zu meditieren. Langsam trat ich näher und er öffnete die Augen.
»Ah, Sofia. Wie geht es dir?«
Ich versuchte, meinem Gesicht einen neutralen Ausdruck zu geben und murmelte etwas Unverständliches.
Mein Mentor runzelte die Stirn, winkte mich aber heran, um mir den Pfeil und Bogen zu zeigen, die er in den Händen hielt. Der Bogen sah schlicht aus, war aus Eichenholz gemacht und eigentlich nicht wirklich besonders. Ich nahm ihn auf Yu Weiß´ Kopfnicken hin in die Hand und maß die Entfernung zu der runden Zielscheibe, die er an die Wand gehängt hatte, mit den Augen.
»Das sind mindestens zwanzig Meter«, empörte ich mich. »Ich habe das noch nie in meinem Leben gemacht.«
»Gerade deshalb sind es ja nur zwanzig Meter«, versetzte Yu Weiß und bedeutete mir mit einer Handbewegung, es einfach einmal auszuprobieren. Ich seufzte und kam zu dem Schluss, dass Yu Weiß wirklich verrückt war (nicht, dass ich das nicht schon vorher geahnt hatte).
Ich spannte den Bogen (was sich übrings ziemlich anstrengend war – morgen würde ich Muskelkater in den Armen haben) und ließ den Pfeil los. Er schoss direkt auf die Zielscheibe zu und blieb in einem der äußersten Kreise stecken.
Yu Weiß nickte zufrieden. »Noch mal.«
Ich verbrachte den gesamten Rest der Stunde, den Pfeil abzuschießen (und wieder zur Zielscheibe zu rennen, ihn zu holen, und zurückzulaufen). Als es klingelte, hängte mein Mentor Pfeil und Bogen wieder an die Wand.
»Sei morgen bitte ausgeruht«, sagte er zum Abschied.
Kaum hatte ich mich auf mein Bett gefläzt und eine Packung Kekse aus meiner Schultasche herausgezogen, (die ich aus der Mensa stibitzt hatte) als Bea in unser Zimmer stürmte. Ich wollte ihr eigentlich das ganze Du-Darfst-Nichts-Erzählen-Weil-Ich-Dich-Im-Kämpfen-Ausbilde und der schwarzen Gestalt unter unserem meinem Fenster erzählen, aber ich kam nicht dazu. Denn gerade hatte ich den Mund aufgemacht, (obwohl ich überhaupt keine Ahnung hatte, wo ich eigentlich anfangen sollte) als Bea wütend fauchte: »Quandri kann mich mal, ernsthaft! Fünf Bücher über Heilkunst! Wozu brauche ich denn das? Rotkutten können doch sowieso keine Ärzte oder Heiler werden, nur Helfer von diesen, und mich würde Mischer viel mehr interessieren, aber Quandri hört ja nicht auf mich.« Als sie mein nachdenkliches Gesicht sah, (schließlich wusste ich immer noch nicht, wie ich Bea am besten auf die ganze Geschichte ansprechen konnte) schaute sie mich zerknirscht an. »Sorry, Sofia. Ich weiß ja, dass du das alles nicht werden kannst.« Sofort schüttelte ich den Kopf. »Darum geht es nicht«, sagte ich schnell, »vielmehr …«
»Dann ist ja gut. Auf jeden Fall muss ich zusätzlich zu den Büchern auch noch Hibispilze im Wald suchen. Bis morgen! Hallo?! Was denkt die Frau, wie viel Freizeit ich habe?«
Ich nickte zustimmend.
»Na ja, ich mache mich auf den Weg zu den Hibispilzen, dann kann ich heute Abend noch mit dem ersten Buch anfangen«, Bea verdrehte die Augen. »Ich nehm deine Robe, ja? Meine ist in der Wäsche. Wir sehen uns beim Mittagessen?« Sie umarmte mich, schnappte sich meine Robe aus dem Schrank, drehte sich auf dem Absatz um und war schon aus dem Zimmer verschwunden, bevor ich auch nur »Tschüss« sagen konnte. Ich seufzte tief und nahm einen der Kekse aus der Dose. Nicht, dass ich genug Probleme damit hätte, dass ich keine Magie hatte. Nein, ich musste natürlich auch noch einen verrückten Mentor haben, der meinte, mich im Kämpfen ausbilden zu müssen (ich hatte ehrlich gesagt immer noch keine Ahnung, warum) und zu allem Übel hockte auch noch eine schwarze Gestalt unter meinem Fenster. Also zusammengefasst konnte es in letzter Zeit überhaupt nicht besser laufen.
Als ich an die Gestalt denken musste, lief mir ein Schauer den Rücken herunter und ich stand auf, um aus zum Fenster zu schauen. Aber im Hof war alles leer. Vielleicht hatte ich mir das auch nur eingebildet, überlegte ich, als ich mich wieder auf mein Bett fallen ließ. Mich hielten ja sowieso schon alle für geisteskrank, vielleicht war ich ja wirklich ein verrückter Freak ohne Magie, aber dafür mit Halluzinationen.
Am Abend war Bea noch immer nicht zurückgekehrt, und langsam begann ich mir Sorgen zu machen. Ich ging nicht zum Abendessen (schließlich hatte ich ja meine Kekse), sondern setzte mich ans Fenster und schaute nach unten in den Hof, in der Hoffnung, Bea zu sehen. Aber es wurde immer später und irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ich wollte gerade von der Fensterbank aufspringen und Yu Weiß oder irgendeinen anderen Lehrer suchen, als ich die dunkle Gestalt wieder sah, aber dieses Mal rannte sie quer durch den Hof, schaute nach oben, und direkt in mein Gesicht. Wegen der Dunkelheit konnte ich nicht wirklich erkennen, wer dort unten stand, aber ich sah die hektischen Bewegungen, die derjenige vollführte. Vorsichtig öffnete ich das Fenster einen Spalt breit.
»Wer bist du?«, fragte ich so laut, dass der dort unten es hören konnte.
»Mary, aber egal! Wer auch immer du bist, du musst unbedingt kommen! Im Wald – die Schwarzkutten«, die Gestalt keuchte. »Sie haben jemanden angegriffen – ein Mädchen im Wald. Bitte, schnell!« Die Stimme klang so verzweifelt, dass ich sofort das Fenster schloss und die Wendeltreppe nach unten flitzte.
In meinem Kopf hämmerte ein einziges Wort – Bea! Ich riss die Tür zum Hof geradezu auf und rannte die schwarz gekleidete Gestalt fast um. Diese entpuppte sich allerdings als ein Mädchen, etwa in meinem Alter, mit kurzen, schwarzen Haaren und tiefen, braunen Augen. Jetzt allerdings winkte es hektisch und lief schon vor in Richtung Wald. Ich folgte ihm mit ein bisschen Abstand, denn irgendetwas störte mich an dieser Sache. Ich hatte etwas Wichtiges übersehen, aber in meiner Panik kam ich nicht darauf, was es war. Allerdings konnte ich Bea – und es hörte sich auf jeden Fall so an, als wäre sie es – nicht im Stich lassen, und so rannte ich hinter dem Mädchen in den Wald. Zwischen den Bäumen war es so dunkel, dass ich meine eigene Hand fast nicht erkennen konnte. Ich hatte keine Ahnung, wie lange wir gelaufen waren, aber irgendwann stoppte das Mädchen und deutete auf eine am Boden liegende Gestalt.
Das große, stämmige Mädchen mit den langen, blonden Haaren, war – da gab es keinen Zweifel – Bea. Sofort stürzte ich auf sie zu. Im Dunkeln konnte ich nicht viel sehen, aber dennoch konnte ich das Blut auf ihren Armen erahnen. »Bea!«, schrie ich panisch und rüttelte an ihren Schultern. »Komm schon, Bea! Du musst aufwachen!«
Das Mädchen hatte sich neben mich gekniet und spähte vorsichtig durch die Bäume. Die Schwarzkutten, fiel mir ein. Vielleicht waren sie noch in der Nähe!
»Was machen wir jetzt mit ihr?«, Mary schien hilflos zu sein. Aber ich hatte genauso wenig Ahnung.






