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»Wir müssen sie zurückbringen, zur Schule – sofort. Kannst du mir helfen?«, ich hob Beas Oberkörper an, und das Mädchen nahm schweigend ihre Beine. Zusammen stolperten wir so schnell es ging aus dem Wald heraus und über die Straße zu dem Schülerhaus. Erschöpft legten wir Bea im Hof auf den Boden, und ich rannte so schnell ich konnte nach drinnen, um Hilfe zu holen. In der Mensa saßen, wie ich schon gehofft hatte, noch ein paar Lehrer, Mentoren und wenige Schüler. Ich musste ziemlich übel aussehen, denn sofort standen ein paar Lehrer alarmiert auf.
Yu Weiß eilte vom Lehrertisch an meine Seite. »Alles in Ordnung, Sofia?«, fragte er mich. Ich schüttelte den Kopf. »Draußen im Hof … Bea. Kommen Sie mit!«
Ohne weitere Fragen zu stellen, folgte mein Mentor mir mit ein paar weiteren Lehrern nach draußen, wo das Mädchen noch neben Bea kniete.
Erst jetzt konnte ich meine Freundin im Licht der Laternen hier draußen näher betrachten. Auf ihren Armen waren blutige Striemen, ihre rote Robe (also eigentlich war es ja meine) war von dunklem Blut verkrustet und an der Stirn klaffte ein großes Loch.
Eine Lehrerin schrie auf, der Rest beeilte sich, Bea nach drinnen zu tragen. Erledigt sackte ich neben dem Mädchen auf dem Boden zusammen. Yu Weiß schaute den Lehrern hinterher, wie sie Bea nach drinnen trugen, und wandte sich dann an das Mädchen. »Ich muss dir dafür danken, dass du eine unserer Schüler gerettet hast«, sagte er mit einer so kalten Stimme, dass ich schauderte, »aber ich frage mich dennoch, warum du deinen eigenen Stamm verrätst.«
Ich schaute das Mädchen an und dann erkannte ich, was mir vorhin in der Hektik nicht gleich eingefallen war: Das Mädchen trug schwarz – Eine schwarze Robe: Sie war eine Schwarzkutte!
Sofort rappelte ich mich auf und stellte mich neben Yu Weiß. Ich machte mir riesige Sorgen um Bea und wollte eigentlich schauen, wie es ihr ging, aber dennoch verblüffte mich die Tatsache, dass eine Schwarzkutte hier war, so sehr, dass ich nur wie angewurzelt stehen bleiben konnte.
»Ich bin Mary«, sagte das Mädchen leise und verschreckt. »Und außerdem bin ich keine Schwarzkutte. »Na ja, eigentlich schon, aber … Das ist kompliziert«, sagte Mary und Tränen sammelten sich in ihren Augen. Sie senkte den Blick, und Yu Weiß schaute sie stirnrunzelnd an.
»Nun gut. Morgen wirst du uns davon erzählen«, sagte er. »Du wirst natürlich erst einmal bei uns unterkommen. Doch sei gewiss, dass wir dich beobachten. Falls du also zu den Schwarzkutten zurücklaufen wolltest, falls du ein Spion wärst, dann würden wir es verhindern können. Verstanden?«
Mary nickte leicht, dann klopfte Yu Weiß mir auf die Schulter. »Bring sie in dein Zimmer, Sofia. Ich möchte, dass heute jemand auf sie aufpasst«, sagte er leise und fügte lauter hinzu: »Morgen müssen wir darüber reden, aber jetzt geht ihr erst einmal duschen und schlafen.«
»Ich möchte zu Bea«, sagte ich, obwohl ich vor Kälte zitterte.
»Ich bin mir sicher, dass du bald wieder zu ihr kannst. Aber erst einmal braucht ihr beide Ruhe. Morgen sehen wir weiter.« Entschieden schob er mich in Richtung Tür und wartete, bis Mary hinter mir nach drinnen gegangen war, dann schloss er die Tür. Mary und ich schwiegen, während wir die Wendeltreppe nach oben stiegen (und die Blicke der verwirrten Schüler im Rücken spürten). Ich wusste einfach nicht, was ich sagen sollte. Eine Schwarzkutte hatte meine beste Freundin gerettet und sollte bei mir im Zimmer schlafen! Allerdings, überlegte ich, war ich auch keine Rotkutte. Egal, ich konnte nichts über sie sagen, bevor ich nicht wusste, weshalb sie ihren Stamm verraten hatte.
»Du kannst als erstes ins Bad«, sagte ich, als wir im Zimmer angekommen waren und gab ihr ein paar Klamotten von mir zum Überziehen; eine rote Hose, ein ebenso farbiges T-Shirt und einen roten Pullover. Sie zuckte zwar zusammen, als sie die Farben sah, aber ich trug sie schließlich auch schon mein Leben lang, auch wenn ich keine Rotkutte war. Also streckte ich ihr die Sachen wortlos entgegen und ließ mich dann zitternd auf mein Bett fallen. Eigentlich hatte ich noch gar nicht wirklich realisiert, was passiert war. Ich saß die ganze Zeit wie paralysiert auf meinem Bett, (wenn mich jetzt jemand sah, war klar, dass ich ein totaler Freak war; nicht nur ohne Magie, sondern auch mit Halluzinationen und einem gestörten Gesichtsausdruck) während Mary duschte. Schließlich kam sie in der roten Kleidung aus dem Bad und setzte sich vorsichtig auf Beas Bett. Langsam ging ich selbst ins Bad. Das warme Wasser tat mir gut, es schien nicht nur den Dreck aus dem Wald und Beas Blut abzuwaschen, sondern auch das Bild, Bea dort liegen zu sehen. Ich fühlte mich tatsächlich viel besser, als ich mich mit einem neuen Schlafanzug auf mein Bett fallen ließ.
Mary lag schon in Beas Bett, die Bettdecke bis zur Nase hochgezogen. Ich schaute sie nachdenklich an. Mich interessierte die komplizierte Geschichte, die sie anscheinend zu erzählen hatte, aber Yu Weiß hatte sie nicht ohne Grund erst zum Schlafen geschickt und mich ebenso. Wir waren beide total erschöpft und deswegen beschloss ich, Mary ihren Schlaf zu lassen. Aber gerade als ich ins Bett krabbeln wollte, hörte ich ein Geräusch vor der Tür. Ich vergewisserte mich, dass Mary die Augen geschlossen hatte, lief leise zur Tür und sah erstaunt, dass Yu Weiß vor ihr saß.
»Ich werde aufpassen – vorsichtshalber. Mary ist zwar nur ein Mädchen, aber sie ist auch eine Schwarzkutte. Nur, damit du beruhigt schlafen kannst.«
Ich lächelte ihn dankbar an und schloss die Tür vorsichtig, damit Mary nichts mitbekam (diese schlief allerdings, ich hätte mir also keine Sorgen machen müssen).
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, schoss mir sofort das Bild von Bea durch den Kopf, wie sie blutend auf dem Waldboden lag. Schnell sprang ich auf und warf mir meine Robe über, (die, die an der Seite schon aufgerissen war, die andere hatte Bea schließlich im Wald angehabt) dann warf ich einen abwägenden Blick auf die schlafende Mary. Ich wollte sie nicht alleine lassen, aber andererseits musste ich unbedingt sehen, ob es Bea wieder gut ging. Aber ich hätte mir keine Sorgen machen müssen, denn Yu Weiß saß immer noch vor der Zimmertür.
»Ich gehe zu Bea«, sagte ich leise. »Sagen Sie mir Bescheid, wenn Mary aufwacht?« Mein Mentor nickte verständnisvoll und beschrieb mir den Weg zu Beas Krankenraum. Draußen war es noch dunkel, so war ich allein, als ich durch die verlassenen Gänge hastete.
Das Krankenzimmer, in dem Bea lag, war klein und überfüllt mit Tuben und Fläschchen, die sich in Regalen und auf dem Boden stapelten, sodass das Bett irgendwie fehl in dem Raum wirkte. Auf dem Bett, neben Bea, lag meine zerrissene und blutverschmierte Robe. Vorsichtig, ohne über eine der Tuben zu stolpern, trat ich näher und sah an einem Stuhl neben dem Bett Quandri sitzen. Sie schaute mich aus zusammengekniffenen Augen an, schien mich dann aber zu erkennen.
»Bist du nicht Beas Freundin, dieses Mädchen ohne Magie?«, fragte sie mit einem leicht abfälligen Ton in der Stimme. (Typisch! Nicht so auffällig diskreditieren wie die Schüler – vor allem Isabell – aber dennoch verächtlich: Das zum Thema unvoreingenommene Lehrer!) Ich nickte, ohne auf ihren Ton einzugehen und stellte mich neben das Krankenbett. Bea sah besser aus: Die Wunde am Kopf war anscheinend genäht worden und auf ihren zerkratzten Armen war eine grünlich schimmernde Flüssigkeit verrieben worden (wenn ich in Kräuterkunde aufgepasst hätte, wüsste ich jetzt, dass es sich um Aloe-Vera-Extrakte handelte).
»Wie geht es ihr?«, fragte ich leise.
Mentorin Quandri runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, ob ich dir das erzählen sollte.«
Aufgebracht schaute ich sie an. (Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was über mich kam, so mit einer Lehrerin zu sprechen, aber Bea war schließlich meine beste Freundin und nicht ihre.) »Entschuldigen Sie, aber schließlich war ich es, die sie gefunden hat. Ich bin ihre beste Freundin und ich habe die ganze Nacht mit einer Schwarzkutte in meinem Zimmer verbracht. Also: Wie geht es ihr?!«
Mentorin Quandri sah mich missbilligend an, dann zuckte sie mit den Schultern.
»Sie wird wieder. Die nächsten Tage wird sie wohl keine Gegenstände fliegen lassen können – obwohl das dringend nötig wäre! Du solltest jetzt allerdings ins Bett gehen – du wirkst ziemlich … unausgeglichen.«
Ich übersah die letzte Bemerkung und verdrehte die Augen. Wie konnte eine Kutte nur so wenig Mitgefühl besitzen? In diesem Moment öffnete Bea vorsichtig ihr rechtes Auge und stöhnte laut auf. Sofort beugte ich mich über sie. »Bea! Wie geht es dir?«
»Kopfschmerzen«, sie stöhnte und schloss ihr Auge wieder. »Sofia, was ist passiert?«
»Wir wissen es nicht genau. Eine Schwarzkutte, ein Mädchen in unserem Alter namens Mary, hat mich zu dir gebracht. Du lagst im Wald«, ich schluckte. »Verletzt.«
»So weit war ich auch schon!«, murmelte Bea und ich lächelte erleichtert. Es schien ihr wirklich besser zu gehen. »Aber ehrlich gesagt weiß ich sonst nichts von dem Angriff. Irgendetwas war mit Pilzen … dann kamen plötzlichen Gestalten auf mich zu – und danach bin ich hier aufgewacht. Ach, Sofia, tut mir leid mit deiner Robe, ich besorge dir natürlich eine neue«, murmelte Bea.
»Mach dir darüber keine Sorgen.«
Mentorin Quandri stand auf. »So, das reicht jetzt, meine Damen. Bea soll schließlich bald wieder am Unterricht teilnehmen können.«
»Ich komme später noch mal wieder«, versprach ich Bea und warf Quandri einen entschuldigenden Blick für mein patziges Verhalten vorhin zu, den sie aber ignorierte. Dann machte ich mich auf den Weg zurück in mein Zimmer.
Ein paar Stunden später saßen Yu Weiß, Quandri, der stellvertretende Schulleiter Herr Must, Mary und ich in Yu Weiß’ Büro. Ich hatte mich sehr über die Einrichtung des Büros gewundert. Rotkutten hatten normalerweise nicht viel Geld, aber Yu Weiß schien über reichlich davon zu verfügen. Die Wand war bedeckt von einem überdimensionalen Bücherregal, in dem sich vergoldete Einzelexemplare stapelten. Sein Schreibtisch war perfekt aufgeräumt und er saß auf einem Zedernholzstuhl, während wir anderen alle auf den weißen Ledersesseln im Raum, die alle in Richtung Schreibtisch angeordnet waren, Platz genommen hatten.
Yu Weiß sah uns ernst an. »Was sich ereignet hat, darf unter keinen Umständen noch einmal vorfallen. Mary, es ist von absoluter Wichtigkeit, dass du uns alles, was du weißt, erzählst. Vor allem, warum die Schwarzkutten Bea angegriffen haben und aus welchem Grund du Hilfe geholt hast.«
Mary saß auf dem Sessel neben mir, und als sich alle zu ihr umwandten, rutschte sie ein bisschen tiefer hinein. Ihr kurzes Haar war zerstrubbelt und ihre Augen blickten stumpf, als sie schließlich (nach endlosem Schweigen und nach Quandris Räuspern) endlich anfing zu sprechen:
»Meiner Familie hat die Art, wie die restlichen Schwarzkutten leben, nie gefallen. Aber meine Großeltern haben uns zum Bleiben gezwungen – sie … sie wollten nicht, dass wir die Schwarzkuttentradition brechen. Doch nach dem Tod meines Großvaters vor drei Tagen haben wir den Stadtteil der Schwarzkutten verlassen«, ihre Stimme brach. »Auf jeden Fall hatten meine Eltern das alles langfristig geplant. Sie wollten bei Verwandten von ihnen unterkommen, meinem Onkel. Er ist eine Rotkutte.« Sie schaute nicht hoch, während sie sprach, und ihre Stimme klang merkwürdig emotionslos, als ob sie die Geschichte überhaupt nicht berühren würde. »Aber wir sind nicht weit gekommen. Wir waren gerade im Wald, als die Schwarzkutten uns gefunden haben. Verräter haben sie uns genannt und dann haben sie meine Eltern getötet. Ich konnte nichts machen. Ich stand hinter einem Busch versteckt und sah die Schwarzkutten, wie sie mich suchten. Ich bin … ich bin einfach losgerannt. Bis sie mich gesehen haben, hatte ich einen großen Vorsprung. Ich bin auf den Hof hier gelaufen und habe mich unter einem Fenster versteckt. Die Schwarzkutten haben das Gelände des Schülerhauses nicht betreten. Ich glaube, sie sind umgekehrt. Auf jeden Fall hatte ich vor, zu meinem Onkel zu gehen. Aber erst musste ich zu meinen Eltern – ich wollte mich von ihnen verabschieden. Ich war gerade im Wald, da sah ich dieses Mädchen dort liegen. Ich wollte einfach nicht … nicht, dass noch jemand wegen der Schwarzkutten stirbt, wenn ich es hätte verhindern können.«
Als sie geendet hatte, schauten sich alle sprachlos an. »Das mit dem Fenster kann ich bestätigen«, ich räusperte mich. »Ich habe sie gestern Abend dort hocken sehen.«
Yu Weiß sah mich enttäuscht an, was eigentlich noch schlimmer war, als wenn er wütend geworden wäre. »Es war grob fahrlässig, das nicht zu erzählen«, stellte er fest, richtete seine Aufmerksamkeit dann aber wieder auf Mary.
»Wir müssen darüber beraten, was mit dir geschieht«, sagte Yu Weiß nüchtern. »Du kannst nicht zu deinem Onkel, weil Kinder und Jugendliche ab ihrem sechsten bis zum achtzehnten Lebensjahr in Schülerhäusern leben und lernen müssen – ob nun bei den Schwarz- oder den Rotkutten. Quandri, könnten Sie Mary vielleicht vor die Tür geleiten, während wir uns beraten?«
Quandri sah mich erbost an; wahrscheinlich fragte sie sich, weshalb ich bleiben durfte (ehrlich gesagt fragte ich mich das auch!). Sie bedeutete Mary mit einer unwirschen Handbewegung, ihr zu folgen, dann fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss und hüllte uns in Schweigen. Es dauerte einige Zeit, bis der stellvertretende Schulleiter Herr Must seinen Vorgesetzten anblickte. »Ich weiß nicht, was Sie denken, Yu. Die Geschichte scheint sehr … verrückt zu sein. Zu verrückt, zu unglaublich, um wahr zu sein. Dennoch bezweifele ich, dass dieses Mädchen lügt. Ich würde ihr die Wahl lassen. Kehrt sie zurück zu ihrem Stamm, haben wir kein Problem. Will sie bei uns bleiben, müssen wir sie bewachen. Wir können nicht ausschließen, dass sie ein Spion ist und wir können uns nicht leisten, dass sie eine Horde Schwarzkutten auf uns hetzt.«
Yu Weiß nickte bedächtig und fuhr langsam mit der Hand über das Holz seines Schreibtisches, bevor er mich anblickte. »Was meinst du, Sofia?«
Ich starrte ihn perplex an. Wollte er jetzt wirklich von mir, einer magielosen, sechzehnjährigen Schülerin, eine Antwort für dieses Problem?!
»Ähm … ja. Also sie macht auf mich nicht den Eindruck einer Lügnerin und Herrn Musts Idee … finde ich gut«, stammelte ich.
Yu Weiß schaute uns zustimmend an. »Dann ist es beschlossen. Quandri, kommen Sie rein!«
Sofort öffnete sich die Tür, als ob Quandri nur darauf gewartet hätte, dass sie hereingerufen werden würde. Beas Mentorin setzte sich schnell, während sich Mary ziemlich erschöpft in einen der Ledersessel fallen ließ, kurz für einen Moment die Augen schloss und Yu Weiß dann ängstlich ansah.
»Wir haben beschlossen, dich selbst entscheiden zu lassen, in welches Schülerhaus du möchtest. Natürlich wäre das der Schwarzkutten für deine Fähigkeiten am besten geeignet, doch wir verwehren niemandem, der seinem Stamm den Rücken gekehrt hat – vor allem nicht dem Stamm der Schwarzkutten – die Hilfe«, sagte Yu Weiß langsam und schaute Mary abwartend an.
Ein Ausdruck unglaublicher Erleichterung breitete sich in ihrem Gesicht aus und Tränen sammelten sich in ihren Augen. Schnell wischte sie mit dem Ärmel über ihr Gesicht. »Ich will – ehrlich gesagt würde ich lieber hier bleiben«, sagte sie mit zittriger Stimme.
Yu Weiß nickte. »Dann soll es so sein. Sei dir allerdings im Klarem darüber, dass deine Fähigkeiten hier nicht so leicht auszubilden sind, wie in einem Schülerhaus der Schwarzkutten. Mit Nekromantie hat niemand hier Erfahrungen, wir werden dich also nicht auf diesem Gebiet unterrichten. Außerdem wird dich immer jemand bewachen. Nimm es nicht persönlich, aber du bist immer noch eine Schwarzkutte. Nun denn – Sofia, wir sehen uns beim Nachmittagsunterricht. Mary, bleibst du bitte noch kurz hier? Wir müssen über deinen Mentor und über deinen Schlafraum sprechen.«
»Sie kann bei Bea und mir im Zimmer schlafen«, schlug ich vor, bevor ich überhaupt darüber nachgedacht hatte. Alle Blicke richteten sich auf mich und Herr Must hob überrascht die Augenbrauen.
»Na ja, sie kennt ja nur mich und außerdem haben wir auch nicht so viele Zimmer frei«, sagte ich verlegen, aber Yu Weiß nickte zustimmend.
Ich verließ hinter Quandri den Raum (die mich übrigens aus zusammengekniffenen Augen musterte. Das zum Thema patziges-Verhaltenvergessen).
Am Nachmittag ging ich mit einem mulmigen Gefühl zu der Unterrichtsstunde. Ich wollte Bea eigentlich nicht in den Klauen (okay, das war jetzt vielleicht etwas übertrieben) Quandris lassen, aber dennoch wurde mir bewusst, dass ich das Kampftraining ernster nehmen sollte, als ich es am Anfang getan hatte.
Yu Weiß war nicht alleine, als ich den großen Raum mit der Statue des Armet betrat (was er ja auch angekündigt hatte). Neben ihm stand ein Junge, etwa in meinem Alter, mit schwarzen Haaren und dunklen Augen. Er war groß und muskulös, aber seine Gesichtszüge waren weich – ein typischer Mädchenschwarm. (Isabell wäre ihm wahrscheinlich sofort um den Hals geflogen.) In seinen Händen hielt er ein dickes Buch – kein gutes Zeichen! Mein Mentor lächelte mir zu, als ich näher trat. »Das ist Merl Kerner. Er wird dich im Kämpfen unterrichten.«
Ich nickte Merl einmal kurz zu und erkundigte mich dann bei Yu Weiß nach Mary.
»Im Moment passt Herr Must auf sie auf. Mach dir keine Sorgen, Sofia.«
Yu Weiß setzte sich unter die Armetstatue, während Merl näher trat. »Also, wir werden erst einmal mit Taekgyeon anfangen. Das ist eine Kampftechnik, bei der unter anderem Tritte, Schläge und Sprünge eingesetzt werden. Das wichtigste beim Taekgyeon ist eigentlich, dass du immer in Bewegung bist, niemals stehen bleibst und dich fließend bewegst. Auf diesem Bild hier«, er klappte das Buch, das er in der Händen gehalten hatte, auf und deutete auf zwei in einander verknäulte Blaukutten, »zeige ich dir erst einmal den sogenannten Gyeot Chigi, auch gewundener Tritt genannt.«
Wir verbrachten die gesamte Stunde mit Theorie. Merl zeigte mir verschiedene Stellungen auf Arbeitsblättern und in Büchern und bläute mir ein, sie bis zum nächsten Tag nicht zu vergessen. Wir sprachen nur über Kampftechniken, und insgeheim fragte ich mich, wo Merl so gut kämpfen gelernt hatte. Es war nicht üblich, dass eine Rotkutte kämpfen lernte.
Als ich den Trainingsraum schließlich wieder verließ, schwirrte mir der Kopf von all denn Informationen und Techniken.
Als ich in mein Zimmer kam, saß Mary auf einer Matratze, die zwischen Beas und mein Bett gelegt worden war (sodass wir nur über die Betten zu unseren Schränken kamen). Auf der Fensterbank saß Herr Must mit einem Stapel Arbeiten vor sich und begann eifrig mit seinem roten Korrigierstift zu schreiben. Ich warf ihm einen mürrischen Blick zu. (Also ehrlich, musste er denn unbedingt in unser Zimmer, um Mary zu bewachen? Ein bisschen Privatsphäre wäre eigentlich wirklich nicht schlecht, auch vor Lehrern!)
»Hi«, sagte ich demonstrativ nur zu Mary, kletterte über mein Bett und hängte meine (jetzt einzige, schließlich hatte Bea die andere so zugerichtet, dass sie nicht mehr tragbar war) rote Robe in den Schrank. Wieder warf ich einen grimmigen Blick auf Herrn Must. Musste er denn unbedingt im Zimmer sein und mich in Leggins und T-Shirt sehen?!
»Wie geht’s dir?«
»Ganz gut, danke«, sagte sie und fügte schüchtern hinzu: »Ich habe gehört, dass du keine Magie hast. Stimmt das?« Ich verdrehte die Augen (also so langsam war ich das Thema wirklich leid).
»Ja, das stimmt«, sagte ich etwas patziger als beabsichtigt und schob deshalb noch hinterher: »Aber ich komme hier ganz gut aus, auch wenn ich keine Rotkutte bin. Das wird dir genauso gehen, Mary.« Damit machte ich mich auf den Weg zu Bea. Einerseits wollte ich sie wirklich sehen, andererseits konnte man sich nicht im Zimmer entspannen, wenn Herr Must direkt neben einem hockte. Insbesondere nicht, wenn ich eigentlich vorhatte zu Duschen. Aber darauf, dass der stellvertretende Schulleiter meinen Gesang (na ja, also das Gekreische des Huhns in mir, wie Bea es immer nannte) hörte, konnte ich getrost verzichten.
Kapitel 3
Die nächsten Tage zogen sich quälend langsam hin. Bea zog wieder in unser Zimmer ein und für Mary wurden ein Bett und ein Schrank gebracht, den wir aus Platzmangel ins Bad bringen mussten. Bea behandelte Mary wie eine Freundin, was wahrscheinlich daran lag, dass sie der Schwarzkutte ihr Leben zu verdanken hatte. Und ich – ich war einfach froh, nicht der einzige Freak hier zu sein. Mary war nett, aber ziemlich eigen. Sie saß die ganze Zeit im Zimmer und las irgendwelche Geschichtsbücher oder so einen Kram (freiwillig übrigens, das muss man sich mal vorstellen) und das besserte sich erst, als Herr Must ihr Mentor wurde. Die anderen Oberstufenschüler behandelten sie wie mich – hinter ihrem Rücken wurde getuschelt, ansonsten hielt sich die Lästerei in Grenzen. Hin und wieder kamen ein paar Sprüche à la »Komm mir nicht zu nah – Schwarzkutten sollen angriffslustig sein!«, aber es war nicht mehr, als ich die letzten Jahre hatte ertragen müssen.
Ich fragte Yu Weiß, ob es wirklich nötig wäre, dass ein Erwachsener in unserem Zimmer Wache hielt und er beschränkte es auf eine Wache vor der Tür und eine im Hof (die armen Lehrer!).
Die Abende verbrachten wir drei eigentlich immer mit Hausaufgaben. Während Mary Fragebögen über Magie, vor allem die der Rotkutten, ausfüllte, ließ Bea Gegenstände durch den Raum fliegen (die leider nicht immer dort landeten, wo sie sollten – ich sag nur blaue Flecke an meinen Beinen und ein grüner Farbklecks auf Marys neuer, roter Robe) und ich las Bücher über die verschiedensten Kampfstellungen.
Die ersten Stunden machten Merl und ich nur Theorie, aber danach fingen wir mit dem Kämpfen an und ich konnte nachvollziehen, dass Yu Weiß Merl als Trainer ausgewählt hatte, auch wenn er noch so jung war.
Bevor ich mich überhaupt nur bewegen konnte, hatte Merl mich schon zu Boden gedrückt. Er hatte viel Geduld mit mir, obwohl ich nicht wirklich besser wurde. Eigentlich wollte ich Bea nicht mit der ganzen Kampfgeschichte belasten, so kurz nach dem Angriff auf sie. Aber die Verletzungen vom Training konnte ich nicht auf ewig geheim halten, und so erzählte ich Bea und Mary schließlich von Merl und meinem (jetzt gebrochenen) Versprechen an Yu Weiß.
»Bei Armet!«, stöhnte Bea, die in ihrem Bett lag und mich mit enttäuschter Miene anstarrte. »Du hättest mir das wirklich erzählen sollen!«
»Sorry«, murmelte ich nur, schließlich hatte ich ihr erklärt, warum ich es zuerst verschwiegen hatte.
»Das ist merkwürdig«, bemerkte Mary, ohne den Blick von ihrem Buch abzuwenden.
Bea und ich schauten sie fragend an. »Na ja …«, sagte Mary gedehnt. »Es sieht ja so aus, als würden sie dir beibringen, dich zu verteidigen. Nachdem was du erzählt hast, übt ihr ja eher das Ausweichen als das Zuschlagen.«
Ich nickte zustimmend und musste feststellen, dass ich das so noch nicht betrachtet hatte. Mary legte ihr Buch über Göttergeschichte (sehr langweilig, ich habe das mal irgendwann vor ein paar Jahren gelesen) zur Seite und schaute uns ratlos an.
»Aber wenn sie dich wirklich vor den Schwarzkutten beschützen wollen – das gibt einfach keinen Sinn, Sofia. Ich war lange bei den Schwarzkutten, und ich kenne ihre Denkweise. Sie wollen Macht – die Macht der Blaukutten. Vor allem die neue Herrscherin Dite ist irgendeiner Sache auf der Spur, die angeblich mit der Macht der Blaukutten zu tun hat. Keine Ahnung, was sie genau plant, aber die Rotkutten interessieren sie generell nicht. Und du hast ja noch nicht einmal irgendwelche Magie.«
»Ich verstehe es ja auch nicht«, seufzte ich, griff unter mein Bett und holte die Keksdose hervor. »Und Merl wohnt jetzt hier im Schülerhaus – ich habe ihn gestern in der Mensa gesehen. So was gibt es doch gar nicht, oder? Wechsel zwischen den Schülerhäusern? Er ist doch sicher nicht nur hierhergekommen, um mich zu unterrichten!« Ich bot den beiden die Kekse an und nahm mir selbst einen, nachdem Mary abgelehnt und Bea zugegriffen hatte.
»Eigentlich gibt es solche Wechsel nicht. Du musst ihn uns unbedingt mal zeigen!«, quietschte Bea aufgeregt. »Bei Armet – ich wünschte, Quandri würde mich auch lehren, mich zu verteidigen. Stattdessen dieser ganze Pilzquatsch!« Sie verdrehte die Augen. »Und sie ermuntert mich die ganze Zeit dazu, Mentorin zu werden. Hallo?! Gerade ich!«






