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„Wir gehen zum Hafen und fahren von dort auf die nächstgelegene Insel, die wir in kleinen Gruppen erkunden werden.“
„Jippie!“, riefen Nina und Mia gleichzeitig und sprangen in die Luft.
Auch die übrigen Klassenkameraden freuten sich riesig.
„In einer halben Stunde geht es los, macht euch also schon einmal fertig und nehmt Wasser und Proviant mit!“, meldete sich Herr Malan zu Wort.
Als Nina ihren Lehrer sah, erinnerte sie sich wieder an die Ereignisse der letzten Nacht. Sie schauderte.
Doch Jana riss sie aus ihren Gedanken: „Komm, Nina. Machen wir uns fertig.“
„Und ich?“, protestierte Mia.
„Tut mir leid“, sagte Jana. „Mit Blondinen rede ich nicht.“
„Ich bin auch blond“, protestierte Nina.
„Aber nicht dämlich“, verbesserte Jana sie.
„Ich bin zehnmal klüger als du! Nimm dich lieber in Acht!“, warnte Mia.
„Was machen zwei Blondinen, die Strohballen hin und her werfen? – Gedankenaustausch! Soll ich dir auf dein Strohballenhirn spucken?“
„Nein, igitt! Ich spuck dich zuerst an!“
„Immer zehnmal mehr als du!“
„Gilt nicht!“
„Wohl!“, rief Jana laut.
Die beiden kabbelten sich den ganzen Weg von der Wiese bis hin zu ihrem Bungalow. Erst dort gaben sie endlich Ruhe.
„Cool!“, rief Maria. Sie, Jana, Pia, Mia und Nina standen nebeneinander an der Reling der großen Fähre, die sie zur benachbarten Insel bringen sollte, und der Fahrtwind zerzauste ihnen das Haar.
„Denkt ihr, wir sehen Delfine?“, fragte Pia und stellte sich auf die Zehenspitzen, um nach unten auf die Gischt blicken zu können.
„Brr!“, machte Nina, als ihr die Wassertropfen ins Gesicht klatschten.
„Dir ist doch jetzt nicht kalt?“, fragte Maria, denn alle trugen nur T-Shirts und Shorts und keiner außer Nina fror.
„Frostbeule“, meinte Jana, als Nina aufstand und in die Mitte des Sonnendecks ging, wo die ganze Klasse die Rucksäcke hingestellt hatte. Sie holte sich eine rote Strickjacke, zog sie an und kehrte wieder zu den anderen zurück, um den Wind und die frische Seeluft zu genießen.
Delfine sahen sie zwar nicht, aber als sie ankamen, durften sie in Gruppen den Strand erkunden. Sechs Jungen hatten sich die Erlaubnis geholt, die Stadt hinter den Dünen zu erkunden und waren bald verschwunden. Die Mädchen schlenderten eine Weile am Strand entlang, gingen dann aber auch in Richtung Stadt und ließen sich neben einem Holzweg, der zur Stadt führte, auf einer Wiese nieder. Sie legten sich ins trockene Gras und blinzelten in die Sonne.
„Wie schön kann das Leben sein!“, seufzte Jana und streckte sich. „Wäre da nicht noch diese Mia!“
„Na warte!“, rief Mia und eine Sekunde später wälzten sich die beiden auf dem Gras hin und her, sodass ihre Kleidung einen grünlichen Ton annahm.
Maria, Pia und Nina sahen lachend zu, wie mal Mia, mal Jana oben war und die beiden langsam, aber sicher, dem Strand immer näher kamen. Kurz darauf verfolgte Mia Jana über den Holzweg, und dann waren die beiden wieder am Strand verschwunden.
„Ich wette, bald landen die im Meer“, kicherte Pia.
„Ich hatte euch gewarnt“, sagte eine vertraute Stimme hinter ihnen.
Die drei Mädchen fuhren herum und erblickten Tim, der zwischen zwei Frauen und einem Mann stand.
Nina schluckte, die Drohung im Bus hatte sie völlig vergessen! Die drei Fremden waren ganz in Schwarz gekleidet, mit dicken Regenmänteln und dunklen Kapuzen. Das wäre selbst ihr zu warm geworden! Sie schreckte zusammen, als ihr auffiel, dass alle an ihrem Gürtel ein langes Schwert trugen und in der Hand einen Dolch hielten.
„Was … was soll das?“, fragte Maria und sie versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.
„Schweig, Menschenmädchen!“, sagte der rechts stehende Mann mit einer so gefährlichen Ruhe in der Stimme, dass Pia einen Schritt zurücktrat und den Kopf senkte.
Maria tat es ihr gleich.
Nur Nina musterte die beiden Frauen und den Mann immer noch, ohne eine Spur von Angst zu zeigen. Natürlich fürchtete sie sich, doch sie hatte gelernt, das Ziehen in der Magengegend nicht zu beachten und die schlotternden Glieder zu verbergen. Außerdem war sie – aus welchem Grund auch immer – wütend auf diese Menschen, die hier so einfach aufgetaucht waren. Aber Hilfe war nicht in Sicht, die Lehrer waren weit weg und Jana und Mia waren inzwischen wahrscheinlich schon ins Meer gekugelt.
„So, ihr beiden“, sprach der Mann und trat auf Maria und Pia zu, die schnell noch einen Schritt zurück machten. „Ihr dreht euch jetzt um und kniet euch auf den Boden.“
Mit banger Miene blieben die beiden stehen.
„Wird’s bald!“, forderte die links stehende Frau. Ein paar Spitzen ihrer roten Haare lugten unter der Kapuze hervor und sie schob sie energisch wieder nach hinten.
Die zweite Frau hob den Dolch. „Hier soll niemand unnütz verletzt werden, Kinder. Also tut, was ich euch sage.“ Ihre Stimme klang kalt und fuhr den Mädchen wie Eis zwischen die Glieder.
Als Pia und Maria sich immer noch nicht dazu durchgerungen hatten, sich hinzuknien, hielt der Mann den beiden einen Dolch gegen den Rücken und zwang sie so auf die Knie. Die Frau mit den roten Haaren grinste höhnisch.
Nina hatte mit erstarrter Miene zugesehen, doch jetzt trat sie auf den Mann zu und ihre Wut gewann die Oberhand. „Spinnen Sie denn, uns einfach so anzugreifen? Wir haben Ihnen nichts getan!“, rief sie.
Doch ihre Reaktion war nicht sehr geschickt gewesen.
Der Mann beugte sich zu ihr herunter und sie konnte seine unnatürlich gelben Pupillen sehen. „Deine hübschen Freundinnen müssen sich angewöhnen zu gehorchen“, sagte er langsam und deutlich. „Dann tue ich ihnen auch nichts!“
Jetzt trat Tim vor. „Eigentlich dachte ich, Sie machen einen Scherz. Aber das geht wirklich zu weit. Sie haben uns versprochen, sie nur zu erschrecken. Sie – Sie haben gesagt, Sie wollten den Mädchen einen Streich spielen!“
Der Mann lächelte immer noch und winkte der Frau neben ihm zu, die daraufhin den Jungen mit seinem Dolch zu Boden zwang. „Liegen bleiben“, riet sie, „sonst bekommst du ihn hier zu spüren!“ Sie deutete auf seinen Dolch und grinste genauso grausam wie der Mann.
„Jetzt reicht’s“, sagte Nina und sie spürte, dass der Mann ihr nichts anhaben konnte. „Jetzt reicht’s endgültig!“ Sie wusste nicht, wieso sie es tat, doch sie hob ihre Hände und ließ ihrer Wut freien Lauf. Ihre Sicht war verschwommen. Vor ihren Augen tanzten rote Punkte. Dann wurde ihr kalt und sie begann zu zittern. Mit blauen Lippen fiel sie ins Gras. Sie wollte noch nach den Männern schauen, aber da wurde ihr schon schwarz vor Augen.
Sie erwachte auf der Wiese. Neben ihr lagen Rucksäcke und die drei Lehrer beugten sich besorgt über sie. „Wir haben schon von Tim, Pia und Maria gehört, was passiert ist“, sagte Herr Malan halb besorgt, halb wütend. „Wir werden mit der Jungenbande sprechen müssen.“
Nina zitterte. „K-K-Kalt!“, stotterte sie und sie spürte, dass sie wieder im Begriff war, das Bewusstsein zu verlieren. Pia stand besorgt und verängstigt neben ihr, während Maria eine Jacke aus ihrem Rucksack kramte und sie wie eine Decke über Nina ausbreitete.
„Woher hast du die Kette?“, wollte Frau Barinkson wissen, als Nina sich besser fühlte.
„Welche …?“ Das Mädchen sah an sich herunter. An seinem Hals hing eine wunderschöne, silberne Kette mit einem roten Anhänger in Form eines Feuers. Darauf stand ein großes N und Nina wusste, dass sie diese Kette noch nie in ihrem Leben gesehen hatte. Sie versuchte, die Kette abzumachen, doch sie klebte förmlich auf ihrer Haut. Gerade wollte sie etwas erwidern, als Jana und Mia auf sie zustürmten.
„Wie geht es dir?“, fragte Jana, während Mia sie stürmisch umarmte.
„Ganz gut. Nur etwas kalt ist mir“, sagte Nina und lächelte.
Die Lehrer zogen sich zurück und ließen die fünf allein.
„Mensch, wir haben uns solche Sorgen gemacht! Du warst total unterkühlt“, sagte Maria, als Jana die Kette auffiel, die um Ninas Hals hing.
„Sie war plötzlich da“, sagte Nina, die den Blick bemerkte. „Einfach so – schwupp! Ich weiß wirklich nicht, woher ich sie habe“, fügte sie hinzu. „Ich habe sie vorher noch nicht umgehabt, echt, Leute!“
„Na gut“, sagte Jana.
„Wir glauben dir ja. Aber komisch ist es trotzdem, oder?“, warf Mia ein.
„Auch schon bemerkt? Cool, Blitzmerkerin“, meinte Jana und zwinkerte.
„Blitzmerkerin, du Schlange? Weißt du eigentlich, wie fies Schlangen sind und wie dumm im Gegensatz zu Blondinen?“
„Oh nein!“, stöhnten Maria und Nina gleichzeitig.
„Bewahrt uns!“, flehte Pia.
Herr Malan kam wieder zu den Mädchen. „Könnt ihr diese Angaben bestätigen?“, fragte er. „Zwei große, schlanke Frauen, ein Mann. Alle schwarz und mit Regenmänteln bekleidet?“
„Sie hatten … Dolche bei sich.“ Pia erschauderte.
„Diese eine Frau“, fiel Nina ein. „Sie hatte rote Haare.“
„Gut.“ Herr Malan nickte ihnen dankend zu. „Wir werden natürlich sofort die Polizei verständigen, aber als Pia und Maria uns geholt haben, waren die drei schon verschwunden. Weiß jemand von euch, weshalb das Feuer ausgebrochen ist und wieso es so schnell wieder aus war?“, fragte er. „Das ganze Gras war versengt und Rauch hing in der Luft.“
„Feuer?“, fragte Nina verwirrt.
„Plötzlich hörten wir eilige Schritte“, sagte Maria, „und wir haben uns umgedreht. Anscheinend war Feuer ausgebrochen und der Mann und die Frauen liefen davon, ebenso die Jungs. Aber bevor Pia und ich etwas tun konnten, war es plötzlich weg – einfach so.“
Herr Malan nickte ernst. „Wir werden uns langsam auf den Rückweg zur Fähre machen. Die sechs Jungen sind gerade aus der Stadt eingetroffen.“
Die Mädchen verließen die Fähre als Erste und liefen voraus zur Jugendherberge und in ihr Zimmer.
Nina duschte sich, während die anderen noch einmal rausgingen und Federball spielten. Etwas später verschwanden nacheinander Jana, Mia, Pia und Maria im Badezimmer, während Nina nach Schneewittchen suchte, die sich anscheinend davongemacht hatte. Ob es ihr gut ging? Wo sie wohl war? Und was hatten bloß die beiden Frauen und der Mann von ihnen gewollt? Als sich Nina nach erfolgloser Suche unter die Eiche setzte, schnurrte es neben ihr und ein weiches Fellbündel sprang ihr in den Schoß.
„Schneewittchen!“, flüsterte Nina. „Was geht hier vor? Was wollten diese Frauen und der Mann? Worüber reden Herr Malan und Blyn – wer immer sie auch sein mag? Und was bedeutet diese Kette an meinem Hals?“ Nachdenklich berührte sie den Anhänger.
Die Katze sprang von ihrem Schoß und tauchte eine Minute später mit einem Blatt Papier im Maul wieder auf. Sie sprang erneut auf Ninas Schoß und hielt ihr das Blatt vor die Nase.
Nina nahm es und erkannte, dass es aus einem Buch herausgerissen worden war. „Warst du das? Böses Schneewittchen“, tadelte sie und runzelte die Stirn, als sie die Überschrift gelesen hatte. „Das Zeichen der Sphinxen?“, fragte sie. „Sind Sphinxen nicht diese Orakeldinger aus Ägypten?“ Sie erinnerte sich vage an eine Geschichtsstunde in der fünften Klasse, in der es irgendwie um Sphinxen gegangen war, aber dann hatte Jana ihr unbedingt von ihrem neuem Hobby, Volleyball, erzählen wollen und sie waren sogleich vom Thema abgekommen.
Gerade als Nina weiterlesen wollte, fragte jemand: „Mit wem sprichst du?“
Mist! Es war Jana, die frisch geduscht und mit nassen Haaren in die Nachmittagssonne blinzelte.
„Ich? Ähm … mit Schneewittchen“, sagte Nina ausweichend.
Die Katze miaute zustimmend und lief wieder weg.
„Was hast du da gemurmelt?“, fragte Jana misstrauisch.
„Etwas über Sphinxen … aber nur so. Allgemeinwissen, meine ich“, antwortete Nina hastig. „Geschichte … Ägypten … du weißt schon …“
„Aha.“ Jana zog die Brauen hoch, sagte aber nichts weiter.
Nina war froh darüber. Sie murmelte, sie müsse sich eine Sonnenbrille holen, und lief fort von ihrer Freundin. Als sie an dem Bungalow ihrer Klasse angekommen war, ging sie langsam auf ihr Zimmer zu und versuchte sich zu beruhigen. Die Fragen in ihrem Kopf ließen sie nicht los. Was ging hier vor? Wer hatte es auf sie abgesehen? Was hatte diese Kette zu bedeuten? Und – die wichtigste Frage, fand sie – von wem hatten Herr Malan und diese Blyn gesprochen? Es hatte sich nicht gut angehört. Und was war mit Schneewittchen? Sie benahm sich irgendwie komisch. Eigentlich hatte es eine stinknormale Klassenfahrt werden sollen, doch sie entpuppte sich als alles andere als normal!
Um ihren Freundinnen zu entgehen, schloss sich Nina auf der Mädchentoilette ein und las den Zettel, den Schneewittchen ihr gebracht hatte. „Sphinxen (aus dem Griechischen: ‚erwürgen‘ oder ‚mit einem Zauber festbinden‘ oder aber auch aus dem Ägyptischen: ‚das, was Leben empfängt‘) waren Statuen eines Löwen mit einem Menschenkopf, es waren aber auch Widder- und Falkenköpfe gebräuchlich. Im 2. Jahrhundert v. Chr. wurden Sphinxen von vorderasiatischen Völkern wie den Phönikern übernommen, häufig sind Sphinxen auf Wandmalereien geflügelt dargestellt. Auch die Griechen übernahmen Sphinxen mit Flügeln. Die Ägypter nannten Sphinxen auch ‚Hu‘.“
Nina runzelte die Stirn. Dieser Text hatte ihre Geschichtskenntnisse wieder wachgerufen, aber dennoch wunderte sie sich, warum Schneewittchen ihr das Blatt gebracht hatte.
Als sie in ihr Zimmer trat, sah Nina auf ihrem Bett einen weiteren Zettel liegen. Sie trat näher und las: „Deine Kette heißt Ignis. Ich hoffe, deine Rätsel sind damit gelöst. Malan.“
Nina schnaubte ärgerlich. Was dachte sich ihr Lieblingslehrer eigentlich? Sie wusste nicht, wer oder was Ignis war, und deshalb war natürlich keines ihrer Rätsel gelöst. Und was die Kette zu bedeuten hatte, war ihr auch nicht klar geworden. Nina beschloss, Herrn Malan beim Abendessen darauf anzusprechen. Wut kam in ihr hoch. Er gab ihr sogar noch ein zusätzliches Rätsel auf! Zornig stampfte sie aus dem Zimmer, das Papier zusammengeknüllt in ihrer Hand. Als sie aus der Tür des Bungalows trat, öffnete sie die Faust, die sie auf dem Weg nach draußen geschlossen gehalten hatte. Asche rieselte auf den Boden, doch von dem Zettel war keine Spur. Wo war der jetzt hin? Genervt schnaubte Nina auf.
Jetzt konnte sie auch noch auf sich selbst wütend sein. Zu gern hätte sie nachgesehen, ob auf der Rückseite des Zettels ebenfalls etwas gestanden hatte. Und nun war der Zettel verschwunden. Wie war das möglich? War er etwa aus ihrer Faust gefallen? Und wo kam die Asche plötzlich her?
Nina ging wieder zurück und sah sich suchend um. Doch von dem Papier keine Spur. Sie beschloss, die Sache zu vergessen. Es brachte nichts, darüber nachzudenken. Da ihre Freundinnen wahrscheinlich Fußball oder ein anderes Spiel spielten, legte sie sich auf ihr Bett und angelte sich ein Buch aus dem Koffer. Es war eine sehr spannende Geschichte. Gerade als darin die Polizei mit lautem Sirenengeheul in Richtung des beschriebenen Unfallortes raste, hörte Nina einen schrillen, durchdringenden Ton – Feueralarm!
Das Erste, was Nina spürte, war Angst. Was natürlich eine außerordentlich normale Reaktion war. Starr vor Schreck beobachtete sie, wie sich Feuer durch ihre Zimmertür fraß und in den Raum drängte. Flammen züngelten an der Holztür empor. Hitze breitete sich aus und löste kribbelnd Ninas Erschrockenheit. Ruhe bewahren, rief sie sich den ersten Punkt in Erinnerung, der auf der Brandbekämpfungsliste stand, die sie im Chemieunterricht durchgenommen hatten. Mit einem Satz war sie beim Fenster und öffnete es. Das Feuer hingegen hatte schon den Raum durchquert und war nur noch ein paar Zentimeter von ihr Schuhen entfernt!
„Bleib mir vom Leib!“, sagte Nina leise und versuchte bedrohlich zu wirken. Sie wusste selbst nicht, was mit ihr los war. Erst redete sie mit Schneewittchen wie mit einem erwachsenen Menschen, dann mit diesem Feuer. Sie schüttelte den Kopf und schwang sich hinaus aufs Fenstersims. „Zurück“, flüsterte sie noch einmal und war erstaunt, als das Feuer tatsächlich zurückwich und sich in einen leichten Ascheregen auflöste, der sich auf die Decken der Mädchen und den Fußboden legte. Etwas davon schwebte auch an ihr vorbei nach draußen. Nina seufzte vor Erleichterung und sprang aus dem Fenster auf die Wiese. Zu spät bemerkte sie, dass ihre ganze Klasse und die Lehrer sie fassungslos beobachteten. Zum Umkehren war es zu spät, und was sollte sie jetzt sagen? Sie wusste es selbst nicht und stand deshalb nur da, den Mund vor Erstaunen geöffnet. „Äh …“
Alle starrten sie an.
Und sie starrte zurück. Was nun?
„Was … was war das?“, fragte Herr Pikk und deutete auf Nina, die wie erstarrt unter dem Fenster stand, aus dem sie gerade gesprungen war.
„Sie hat das Feuer bekämpft“, sagte die fassungslose Frau Barinkson mit einem nicht zu deutenden Lächeln.
„Nein, nicht bekämpft, sie hat das Feuer beherrscht und weggejagt“, ergänzte Ulrike, eine Schülerin aus Ninas Klasse.
„Nina!“, sagte Herr Malan laut. „Nina, komm bitte mal mit.“
„Nein!“, kreischte Frau Barinkson und hob die Hände.
Nina wich bis zur kalten Steinwand des Hauses zurück. Was ging hier vor sich?
„Ich spreche mit ihr, Sie Flegel!“, zischte die Lehrerin wütend.
Malans Geschichte
Jetzt waren alle Blicke auf Frau Barinkson gerichtet.
„Aber, aber“, sagte Herr Pikk. „Was haben Sie gerade gesagt? Ich habe Sie nicht ganz verstanden.“ Er schien erschrocken zu sein, seine „Madam“ einen solchen Kraftausdruck gebrauchen zu hören.
„Zum Teufel mit Ihnen allen!“, schrie die Lehrerin. „Nina, komm mit! Sofort!“
Die jedoch beschlich das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte.
„Geh nicht mit!“, zischte Herr Malan ihr aus den Mundwinkeln zu, nachdem er sich neben sie gestellt hatte. „Das dort ist nicht unsere Frau Barinkson.“
„Was? – Ich meine, was sagen Sie da?“ Nina verstand die Welt nicht mehr. „Aber das ist sie doch! Sehen Sie hin!“
„Vertraue nicht deinen Augen, sondern deinem Herzen! Es weist dir den Weg!“, entgegnete Herr Malan.
Nina schaute ihn verständnislos an, doch ihr Lehrer wandte sich ab. Das Mädchen seufzte tief und schaute auf die Schüler, die vor ihr standen und sie anstarrten. „Ich weiß nicht, wie ich das gemacht habe“, stellte sie klar. „Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Wahrscheinlich war es Zufall, dass das Feuer wieder verschwunden ist.“
Um den zweifelnden Blicken zu entgehen, schwang sie sich auf das Fenstersims, kletterte zurück in das Zimmer und schloss das Fenster. Sie durchquerte den Raum, ging durch den Flur und flüchtete in die Mädchentoilette, weil sie wusste, dass Jana, Mia, Pia und Maria sofort im Zimmer aufkreuzen würden, um sie auszuquetschen. Aber ihr wurde das alles zu viel. Sie hatte ein relativ normales Leben gehabt und konnte nicht damit umgehen, dass sich jetzt alles plötzlich auf den Kopf stellte.
Sie schloss sich in der erstbesten Kabine ein, lehnte sich gegen die Tür und dachte nach. Sie musste beim Abendessen mit Herrn Malan sprechen, unbedingt! Aber wie würde es weitergehen? Konnten all diese Dinge eine normale Ursache haben? Nina musste wissen, was hier vor sich ging. Also verließ sie die Kabine, ging an den Waschbecken vorbei und linste aus der Tür. Im Flur war niemand – die Luft war rein! Sie schlüpfte durch die Tür, ging zu der Stelle, an der sie am vorigen Abend das Gespräch von dieser Blyn und Herrn Malan belauscht hatte, und wollte gerade die Hand heben, um an die Tür zu klopfen, da hörte sie aus dem Raum hinter der Tür eine Stimme, die leise um Hilfe rief. Schnell öffnete Nina die Tür und sah, dass Frau Barinkson verschnürt auf dem Boden lag.
„Oh nein!“ Schnell lief das Mädchen zu seiner Lehrerin und befreite sie. „Geht es Ihnen gut?“, fragte Nina.
„Mich hat jemand zusammengeschlagen“, berichtete die Frau, als sie ihre Beine und Arme lockerte.
„Können Sie sich an den Angreifer erinnern?“, fragte Nina, doch Frau Barinkson schüttelte den Kopf.
„Nein“, sagte sie und schüttelte energisch den Kopf. Sie ging zum Fenster, blickte hinaus – und erstarrte. Das Kind trat neben sie und sah, was in diesem Moment die Lehrerin fassungslos die Hand vor den Mund schlagen ließ. Noch immer stand da draußen die Frau, die genauso aussah wie die Lehrerin neben Nina. Die falsche Frau Barinkson schimpfte gerade wütend mit Herrn Malan und deutete wild gestikulierend zu der anderen Seite des Hauses, wo das Fenster von Ninas Zimmer lag.
Ungläubig ließ Nina ihren Blick von der einen Frau Barinkson zur anderen wandern. Und kurz darauf wieder zurück – wie bei einem Tennismatch. Immer schneller ging ihr Blick zwischen den beiden Frauen hin und her. War denn jetzt gar nichts mehr normal? Was passierte hier gerade?
„Oh mein Gott!“, stöhnte die echte Frau Barinkson und hielt sich an einem Stuhl fest. Dann bedeutete sie Nina, ihr aus dem Raum zu folgen. Eine Minute später sahen die echte und die falsche Lehrerin einander an. Alle Schüler, Herr Pikk und Herr Malan starrten fassungslos auf das, was sich vor ihnen abspielte.
„Äh … Sie – Was fällt Ihnen eigentlich ein! Verschwinden Sie!“, forderte die echte Frau Barinkson und stemmte die Hände in die Hüften.
„Ach ja?“ Die unechte Lehrerin lächelte kalt, schnippte einmal mit den Fingern und verwandelte sich in eine sehr schlanke Frau, deren ganzer Körper aus Schlangen zu bestehen schien. Angeekelt und voller Entsetzen wichen die Schüler zurück, nur Nina stand noch neben der echten Frau Barinkson, die fassungslos auf die Schlangenfrau starrte.
Die jedoch wandte sich dem Mädchen zu. „Komm“, sagte sie. „Komm mit, Nina.“
Doch in diesem Moment stellte sich Frau Barinkson vor ihre Doppelgängerin in Schlangengestalt. „Sie nehmen keine meiner Schülerinnen mit, verstanden?“, knurrte sie und wollte gefasst wirken, aber ihre Stimme schwankte leicht und ihre Finger zitterten. Die Schlangenfrau hob nur die Augenbrauen, sagte aber nichts.
Dann geschahen zwei Dinge fast gleichzeitig: Die Schlangenfrau stürmte auf die Lehrerin zu, doch diese warf sich unter den schützenden Baum. Herr Malan hob mit versteinertem Gesichtsausdruck die Hände in die Höhe, und wie von einer unsichtbaren Kraft gelenkt wurde die Schlangenfrau zu Boden geschleudert und verschwand dann spurlos. Alle starrten auf Herrn Malan und dessen Hände, denn er stand immer noch an derselben Stelle, hatte sich nicht vom Fleck bewegt und offenbar nur mit der Kraft seiner Hände die Schlangenfrau verschwinden lassen.
Er schaute die sprachlose Nina an, lächelte ihr zu und verschwand – ebenso wie die Frau kurz vor ihm.
„Magie“, krächzte Jonas, ein Schüler aus Ninas Klasse, „das ist Magie!“
„Quatsch!“ Frau Barinkson wirkte wieder gefasst. „Einbildung ist das, nichts als Einbildung.“ Sie schüttelte den Kopf und schien eher sich selbst als die Schüler überzeugen zu wollen. „Ihr geht jetzt zum Abendessen. – Pikk, kommen Sie bitte mit.“ Sie zeigte zum Haupthaus, in dem sich der Speiseraum befand.
„Und was ist mit Herrn Malan?“, fragte Pia.
„Ich weiß es nicht“, seufzte die Lehrerin. Und als sie sich kurz umdrehte, konnte Nina einen tiefen Schmerz in ihren Augen erkennen.
Den ganzen Abend über waren Herr Malan und die falsche Frau Barinkson natürlich das Thema Nummer eins. Nina hielt sich zurück, als die anderen wilde Vermutungen äußerten, was passiert sein könnte und ob Magie beziehungsweise keine Magie im Spiel gewesen war.
Nina verabschiedete sich früh und ging zu Bett. Ihr war einfach nur schlecht. Die Ereignisse jagten durch ihre Gedanken und sie fragte sich pausenlos, was hier überhaupt normal war. Als sie noch lange, nachdem auch ihre Freundinnen ins Bett gegangen waren, wach gelegen hatte, glitt sie schließlich in einen unruhigen Schlaf, in dem sie von Feuer, der Schlangenfrau und Herrn Malan träumte.
In der Nacht wachte sie mehrere Male auf, weil ihre Kette mit dem Namen Ignis heiß wurde und wie ein Feuer auf ihrem Hals brannte. Aber immer, wenn sie dann schlaftrunken ihre Hand auf den Anhänger legte, wurde dieser wieder kalt.
Am Morgen erwachte Nina wegen Jana, die ihren Namen rief. Schlaftrunken setzte sich das Mädchen auf und sah die anderen auf Mias Bett zusammensitzen und sich unterhalten. Schnell stand Nina auf, kletterte die Leiter zu dem Hochbett ihrer Freundin hinauf und setzte sich dazu.





