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Helmut E. stammt aus Ernst. Ich hatte ihm von meinem Besuch im Landeshauptarchiv und dem dort archivierten Briefwechsel erzählt.
»Die rücken doch nichts raus«, sagte er sicher.
»Was weißt du denn über das Lager?«
»Die Ernster und die Bruttiger, die hatten es noch nie so recht miteinander. Die wischen sich gern gegenseitig eins aus, wie das bei Nachbardörfern eben so ist. Na ja, ich bin eben ein Ernster. Ich glaube, dass du von uns über den Tunnel und das KZ mehr erfahren kannst, als von den Bruttigern. Die Ernster haben damals zwar alles mitbekommen, waren aber nicht direkt betroffen. Die meinen, sie träfe keine Schuld, weil sie ja auf der anderen Moselseite wohnten, und die Brücke gab es ja damals noch nicht. Die erzählen auch heute noch davon. Mein Vater zum Beispiel, der war damals sechzehn, siebzehn Jahre alt. Der hat kürzlich noch erzählt, wie in Bruttig die Leute aufgehängt wurden.«
»Hat er das selbst gesehen?«
»Das glaube ich nicht«, antwortete Helmut. »Aber ich frage ihn noch einmal. Der ist ein alter Sozi, der erzählt.« Der Vater habe eine Zeitlang im Kloster Ebernach, zwischen den Ortschaften Cochem und Ernst gearbeitet. Er wisse von alten, dort lebenden Franziskanern, dass einige der Ebernacher Brüder in die Konzentrationslager deportiert worden seien. Nach Dachau seien sie gekommen.
»Ja, nach Dachau«, sagte ich. »Dahin ist auch der Conder Pastor Ziegler verschleppt worden. Er kam nicht mehr zurück.«
»Mensch, dass man von dir auch noch mal was hört!«, rief Heinrich J. ins Telefon. »Womit kann ich dir helfen?«
»Du wohnst doch nur drei Kilometer von Bruttig weg. Ich will wissen, ob du dich an das KZ in Bruttig und den Tunnel erinnern kannst.«
Heinrich erinnerte sich und begann sofort zu erzählen. Im Hintergrund hörte ich eine Stimme. Es war seine Schwester, die scheinbar direkt begriffen hatte, über welches Thema wir redeten. Sie ergänzte und korrigierte Heinrichs Aussagen. Sie ist ein paar Jahre älter als er und erinnerte sich gut.
»Du kannst dem sagen«, hörte ich sie, »dass wir als junge Mädchen, mitbekommen haben, wie so ein paar arme Kerle aufgehängt worden sind. Vor dem Tunnelportal in Bruttig. Die waren, glaube ich, abgehauen damals.«
Heinrich J. war 1944 erst 14 Jahre alt.
»Ich habe immer nur den Zaun gesehen. Da waren ziemlich viele eingesperrt. Na ja, Motorräder haben mich damals mehr interessiert«, gestand er. »Jedenfalls habe ich keine schwarzen Uniformen gesehen. Ich erinnere mich gut, dass ich mich darüber immer gewundert habe.«
Ich verstand nicht, was er damit sagen wollte.
»Keine schwarzen Uniformen, dass bedeutete, dass die Bewacher keine SS-Leute waren. Soldaten, die in dem Lager die Aufsicht hatten, trugen blaue Uniformen. Wie bei der Luftwaffe. Es steckt aber noch ein anderer Eindruck in mir: Die Kleider der Häftlinge, an die erinnere ich mich gut. Das waren gestreifte Anzüge. Blauweiß gestreift, glaube ich jedenfalls. Längs- oder quergestreift? Warte mal.« Er überlegte. »Nein, das weiß ich nicht mehr.«
Nach dem Krieg habe man erzählt, dass Hitlers Wunderwaffen, die V1 und V2 in den Werkstätten im Tunnel montiert worden seien, erzählte Heinrich, ob das stimme, wisse er nicht. Die KZ-Häftlinge sollen in dem Tunnel für die Firma Bosch gearbeitet haben, und Bosch habe diese Wunderwaffen ja mit entwickelt und gebaut.
Die Annahme, dass im Tunnel Bruttig-Treis die Raketen V1 und V2 gebaut oder montiert worden seien, war in den 1980er Jahren noch sehr verbreitet. In Gesprächen kam darauf immer wieder die Rede. Meine spätere Recherche wird jedoch zeigen, dass diese Annahme nicht den Tatsachen entsprach.
Heinrich J. erzählte, dass vor dem Krieg, der optimalen Voraussetzungen wegen, Champignons im Tunnel gezüchtet worden seien. Von Dir wusste ich von einer Pilzzucht nach dem Krieg. Pilze also, vor und nach dem Krieg.
»Du musst zu den Bruttiger Leuten mal hinfahren und mit denen reden, wenn du etwas über das Lager erfahren willst«, sagte Christa W. entschlossen. »Die reden zwar nicht gerne darüber, aber die wissen da ganz genau Bescheid.«
Christa arbeitete damals als Journalistin, freiberuflich. Sie sagte, dass sie sich auch für die ganzen KZ-Geschichten, wie sie es nannte, interessiere. Sie kenne eine Bruttiger Frau recht gut, die früher bei ihren Eltern im Haushalt gearbeitet habe.
»Die müsste jetzt weit über siebzig sein. Wie wär’s, wenn wir am Sonntag einfach einmal hinfahren?«
»Einverstanden.«
Frieda H. legte die Bibel zur Seite, als sie uns die Treppe zu ihrer Terrasse heraufkommen sah. Sie sagte, dass man ja heutzutage kaum mehr etwas wirklich Gutes zu lesen bekomme. Sie bat uns, in die Küche ihres alten Winzerhauses einzutreten. Ihr offenes Wesen machte es mir leicht, sie bald auf den Tunnel anzusprechen. Sie wusste gut Bescheid und begann mit ihrer Erzählung weit vor der Zeit des Faschismus in Deutschland.
»Der begonnene Bahnbau wurde nach dem ersten Weltkrieg sofort wieder eingestellt. Die Franzosen, die damals das ganze Gebiet hier bis zum Rhein hin besetzt hatten, wollten schon damals die Mosel kanalisieren und zur Großschifffahrtsstraße ausbauen. Eine zusätzliche Bahnlinie rechts der Mosel wäre damit überflüssig geworden. Aber so weit ist es ja dann doch nicht gekommen. In den dreißiger Jahren war eine Pilzzucht im Tunnel angelegt. Champignons, die brauchen die Dunkelheit und das feuchte Klima. Im Krieg war einmal Schluss damit. Nach dem Krieg hat wieder jemand damit angefangen. Die Franzosen beendeten das Unternehmen, mauerten die Tunneleingänge zu und sprengten sie später in die Luft.«
»Die Bunker, bei der früheren Tunneleinfahrt sind ja heute noch vorhanden«, sagte ich.
»Genau, das sind die Reste der beiden Tunnelbunker.«
»Welchen Zweck hatten die?«
»In einem Bunker«, wusste sie genau, »befand sich ein Noteingang zum Tunnel. Zur Sicherheit, falls das Hauptportal einmal zerstört worden wäre. In dem anderen befand sich ein Brunnen und andere Anlagen, die für die Versorgung des Tunnels erforderlich waren.«
»Die Bunker auf der Treiser Seite müssen einem ähnlichen Zweck gedient haben«, folgerte ich.
»Ich denke schon«, sagte sie. »Männer aus der weiteren Umgebung, die kamen alle nicht von hier, haben in der Fabrik im Tunnel gearbeitet. An einen erinnere ich mich. Der war aus Trier.«
»Was wurde denn in der Fabrik hergestellt?«, fragte Christa.
»Ja, Kind«, sagte sie, »das weiß ich auch nicht.«
»Sind dir mal Lastwagen aufgefallen, die nachts mit Planen überzogen ihre Fracht aus dem Tunnel fuhren?«
»Nein, das weiß ich nicht.«
Ich merkte auf einmal, wie die alte Frau sich überwinden musste, weiterzusprechen. Ich hatte nach den KZ-Häftlingen gefragt. Sie erzählte, dass es Kriegsgefangene gewesen seien, die dort hätten arbeiten müssen. Sie blickte zu Boden, schüttelte den Kopf und schwieg. Plötzlich lag eine Spannung zwischen uns. Ich spürte, wie sie mit sich ringen musste, um weitersprechen zu können. Sie schwenkte noch immer den Kopf hin und her. Ihre Lippen zuckten. Dann brachte sie es heraus: »Das war so schrecklich, das könnt Ihr jungen Leute euch nicht vorstellen.« Jetzt wirkte sie erleichtert. »Von hier aus kann ich ja auf den Bahndamm gucken. Jeden Morgen und jeden Abend habe ich das miterleben müssen, wie die zur Arbeit hin- und zurückgeführt worden sind. Rappeldürr waren die. Sie trugen gestreifte Sträflingskleider und Holzschuhe. Abends, auf dem Rückweg zum Lager, konnten sie kaum noch gehen und die, die mit den Uniformen dabei gewesen sind, die Bewacher, schlugen mit ihren Knüppeln auf sie drauf. Schrecklich war das. Das konnte man überhaupt nicht verstehen. Ganz komisch, man hat das jeden Tag gesehen, tatsächlich miterlebt, aber es war so, als wäre es nicht wahr. Man konnte das einfach nicht glauben, obwohl es sich jeden Tag vor der eigenen Haustür abgespielt hat. Ich kann das jetzt noch nicht glauben. Das war, wie wenn man träumt. Einfach schrecklich.«
»Was haben sich denn die Leute hier aus dem Ort darüber erzählt?«, wollte Christa wissen.
»Ja Kind, da wurde nicht viel drüber geredet. Die Männer waren ja alle fort, im Krieg, und wir Frauen hatten Angst. Außerdem war das ja alles so unwirklich. Wir Frauen, wir hatten von Politik und all dem, was da passierte, sowieso keine Ahnung. Das war damals alles Sache der Männer. Und wir haben gemeint, was die sagten, das wäre auch richtig. Gott sei Dank ist das heute nicht mehr so. Früher, Kind, da wurden wir Frauen doch dumm gehalten. Deshalb konnten wir uns auch nicht einmischen. Aber was hätten wir auch tun sollen? Du hättest sehen müssen, wie die mit den armen Kerlen umgegangen sind. Getreten und geschlagen worden sind die. Manche wurden vom Tunnel ins Lager zurückgetragen, weil sie nicht mehr gehen konnten. Die, denen es am schlechtesten ging, bekamen die meisten Prügel. Nein, nein, das kann man alles gar nicht glauben.«
Wir hatten ihr aufmerksam zugehört und saßen eine Weile ergriffen, wortlos unter dem Eindruck ihrer Erzählung. Dann fügte sie noch hinzu und lachte dabei: »Aber manchmal gingen wir Frauen an den Zaun des Lagers und steckten den Gefangenen Äpfel und ein Stück Brot zu. Da musste man sehr aufpassen, dass um Himmels Willen keiner von den Aufsehern Wind davon bekam. Aber das haben viele Frauen gemacht, viele.«
»Darf ich wiederkommen?«, fragte ich bei der Verabschiedung an der Haustür.
»Ja, gern. Aber Sie müssen sich zu erkennen geben«, sagte sie, weil sie nicht jedem die Tür öffne. Man wisse ja nie … und sie sei ja auch ganz allein im Haus.
Ein Gerücht machte sich breit, von dem sich bald herausstellte, dass es völlig aus der Luft gegriffen war. Es hieß, der Bahndamm in Bruttig solle abgerissen werden. Oben auf dem Bahndamm hatte das Lager gestanden. Auch Frieda H. hatte das erzählt.
Falls noch Gebäude oder Teile der Lageranlage stehen, überlegte ich, werden diese jetzt womöglich mit dem Bahndamm dem Abriss zum Opfer fallen. Ich machte mich, mit dem Fotoapparat ausgerüstet, auf den Weg nach Bruttig. Dort war Kirmes. Die Leute waren mit sich und ihren Festtagsgästen beschäftigt, was mir ganz recht war, denn so konnte ich mich unbeobachtet fühlen. Ich ging zu der Baracke hin, die uns ja auch schon aufgefallen war, verknipste hier und nachher auf dem Friedhof einen ganzen Film. Abgesehen von der erwähnten Baracke und einem kleinen Schuppen standen an der Stelle, wo sich das Lager befand, kleine Einfamilienhäuser mit gepflegten Vorgärten. Ich hielt diese Häuser damals für Neubauten, weil sie sich in recht ordentlichem Zustand befanden. Später habe ich erfahren, dass es sich bei den Häusern um restaurierte, ehemalige Häftlingsbaracken des KZ-Außenlagers in Bruttig handelt.
Auf dem Bruttiger Friedhof hinter der Kirche wurde ich unerwartet fündig. Direkt neben dem Treppenaufgang befinden sich Grabsteine, wie sie gewöhnlich auf Kriegsgräbern stehen. Ich entsann mich, dass Frieda H. darüber gesprochen und gesagt hatte, dass auf dem Bruttiger Friedhof tote KZ-Gefangene begraben worden seien.
»Früher lagen noch mehr da, die hier gestorben sind«, hatte sie gesagt. »Die sind aber fortgekommen.«
»Fortgekommen, wohin?«, hatte ich gefragt, und sie hatte geantwortet, dass sie das nicht wisse.1
1 Siebzehn auf dem Bruttiger Friedhof in einem Massengrab verscharrte Leichen von KZ-Häftlingen wurden auf Anordnung der französischen Besatzungsbehörden am 30. September und 1. Oktober 1947 exhumiert. Sieben der Toten wurden später auf dem Bruttiger Friedhof bestattet, die übrigen zehn Toten wurden überführt und in ihren jeweiligen Heimatorten beigesetzt. Quelle: Gespräch mit dem ehemaligen Bruttiger Bürgermeister Manfred Ostermann, vgl. hierzu auch Exhumierungsbericht von Dr. Paul Geis, Koblenz in Guido Pringnitz: Deckname »Zeisig«, 1. Auflage, Treis 2016
Auf sieben Grabsteinen von insgesamt zwölf stehen Namen, die fremdländisch klingen. Das Todesdatum der Begrabenen fällt ohne Ausnahme in das Jahr 1944, das Jahr, in dem das Lager Bruttig existierte.
Die sieben Grabinschriften lauten:
Adolf Czech * 01.10.1910 † 26.07.1944
Josef Anoilczyk * 02.05.1894 † 30.07.1944
Louis Christian Vervooren * 09.10.1895 † 31.03.1944
Hendrikus Rempe * 21.02.1903 † 26.03.1944
Josef Dunal * 13.01.1896 † 01.08.1944
Ignatz Chrzuszoz * 14.01.1909 † 31.07.1944
Jan Krolak * 24.04.1904 † 30.07.1944
Über das Leben und die Umstände des Todes einiger der hier Begrabenen sollte ich noch manches mehr erfahren, als ich an dem Bruttiger Kirmestag ahnte. Davon werde ich dir später berichten.

Abb. 4: Überreste des Konzentrationslagers in Bruttig. Die Abbildungen 4 – 7 zeigen die zentrale und größte Baracke des ehemaligen Lagers, den »Speisesaal« der Häftlinge. Das Gebäude befindet sich auf den Abbildungen aus dem Jahr 1986 noch weitestgehend im Originalzustand. (Fotos: E. Heimes aus dem Jahr 1986)

Abb. 5

Abb. 6

Abb. 7

Abb. 8: Eines der Gebäude des ehemaligen Lagers Bruttig, in dem sich »sanitäre Anlagen« befanden. (Foto: E. Heimes aus dem Jahr 1986)

Abb. 9: Der Bahndamm auf dem sich das Lager befand, führt in Bruttig quer durch den Ort. Über der Unterführung ist eine ehemalige Häftlingsbaracke (»Speisesaal«) zu erkennen. (Foto: Christian Gasterstädt).
Das sogenannte Stammlager
Im folgenden Winter fuhr ich ins Elsass. Natzweiler. Besichtigung der Gedenkstätte KZ Natzweiler. Ein Versuch, mehr zu begreifen. Rückte ich mir das bisher Unvorstellbare näher, weil ich die Anlagen besichtigte? Ich hatte vor gehabt, viele Fotos zu machen, diese zu Hause zu zeigen und zu sagen: Seht mal! Nach dem zweiten Auslösen versagte die Kamera. Vor Kälte. Also keine Fotos. Aber die Notwendigkeit, die Eindrücke aufzuschreiben, sie blieb. Dennoch ging ich tagelang Papier und Bleistift aus dem Weg. Ich schrieb damals nur diesen einen kurzen Text:
Am Eingangstor stand nicht Arbeit macht frei, obwohl es geplant gewesen sein soll, sondern lediglich Konzentrationslager Natzweiler. Beim kurzen Gespräch mit dem Herrn an der Pforte hätte ich diesem gern verheimlicht, dass ich Deutscher bin. Ich begegnete meiner Unsicherheit mit dem Gedanken, dass er mir mein Alter ja ansehen müsse und dass ich aus einer anderen Generation komme, als der, die hier gemordet hatte.
Die Kälte lähmte meine Finger. Ich packte den Fotoapparat in die Tasche. Die Kleider der Lagerinsassen waren dünne Leinenanzüge gewesen. Konnte ich auch nur ahnen, wie schrecklich es gewesen sein muss, hier zu erfrieren? Ich schob meine Hände, in wollenen Handschuhen steckend, tief in die Manteltaschen. Zwei oder drei Minuten lang blieb ich stehen, reckte den Kopf in den schneidenden Wind. Bevor der Schmerz kam, rieb ich mir eine meiner Wollhände durch das Gesicht, um die Eiseskälte zu vertreiben. In den Folterkammern, dem Sektionsraum und den Tötungsräumen suchte ich vergeblich nach Spuren von Gewalt. Alles gereinigt und zur Besichtigung frei gegeben. Das Büro des Arztes, der für medizinische Versuche an Menschen zuständig war, ist ein leerer Raum. Er unterscheidet sich nur durch die Größe und die Höhe des Fensters von den Gefängniszellen, die sich in einer anderen Baracke befinden. Ein bei den Einzelzellen des Bunkers abgetrennter Raum war ursprünglich zum Aufstellen eines Ofens vorgesehen. Viel zu klein für einen menschlichen Körper. Es sollen aber manchmal sogar zwei Menschen darin eingepfercht worden sein. Nicht sitzen, nicht stehen, nicht liegen, irgendetwas dazwischen und das mitunter vierzehn Tage lang. Und dann diese Kälte! Doch meine Fantasie ließ mich im Stich. Der Schrecken wurde nicht spürbar. Ich betrachtete mir andere Besucher der Gedenkstätte. Ob diese mehr begriffen? Im Krematorium stand ich vor dem Verbrennungsofen wie bei einer Schlossbesichtigung vor dem Bett des Bayernkönigs Ludwig auf Neuschwanstein. Die Nazis haben ganze Sache gemacht. Nicht nur das Leben von Menschen, auch das Wesen der Dinge scheinen sie ausgelöscht zu haben, so, dass sie zu mir jetzt nicht mehr sprachen. Nur der Zaun, drei Meter hoch zwischen doppelreihigen Holzpfosten gespannt, ließ mich seine Undurchdringlichkeit spüren.
Das Lager wurde in einer Höhe von achthundert Metern mitten in den Vogesen von den Häftlingen unter Zwang aufgebaut. Ich wäre an der Einsamkeit zu Grunde gegangen, die hier zu spüren war, die trotz aller Besuchergeschäftigkeit mehr nachzuempfinden war, als der Schrecken von Folter- und Tötungsgeräten. Deshalb hat mich auch der Zaun so sehr erschüttert, dieser verfluchte Zaun war es, der diese Vergessenheit, dieses weg sein von der Welt besiegelt haben muss.
Eine Ahnung überkam mich: Ich bin völlig unwichtig und egal. Es ist der Welt und den Menschen einerlei, ob ich lebe, leide oder sterbe. Ich werde geschlagen auf dem Prügelbock. Bäume und Felsen schweigen. Meine Schreie enden an den Wänden der Baracke. Wenn ich tot bin, wird mein Körper verbrannt und die Asche in das Gemüsebeet des Lagerkommandanten gekippt werden. Niemand wird fragen: Wer war er? Völlig egal.
Es war eine sehr ruhige Zeit in Natzweiler mit vielen Gelegenheiten zum Nachdenken. Wieder zu Hause machte ich mich sofort an die Arbeit und schrieb eine Erzählung, die im Wesentlichen das beinhaltete, was ich Dir bis hier hin erzählt habe. Alle Dialoge, verfasste ich allerdings im moselfränkischen Dialekt, so, wie ich sie mit vielen Einheimischen tatsächlich gesprochen habe. Bei späteren Lesungen und Vorträgen trug ich diese Passagen auch im Dialekt vor. Heute weiß ich: Meine Erzählung war nur der Anfang einer jahrelangen Auseinandersetzung mit dem KZ-Außenlager Cochem und seinen Nebenlagern Bruttig und Treis.

Abb. 10: Das Lagertor des Konzentrationslagers Natzweiler Struthof (Foto: E. Heimes Januar 1985)
Wenn ich mich mit den Menschen hier vor Ort unterhalte, sprechen die wenigsten von Konzentrationslagern in Bruttig und Treis. Sie sagen Arbeitslager. Das klingt weniger dramatisch. Und Arbeit ist ja schließlich nichts Schlechtes. Oder? Weit gefehlt, die Annahme, es habe sich hier um eine mildere Abstufung eines der bekannten KZs gehandelt. Die Verhältnisse in den Außenlagern waren die Fortsetzung der Verhältnisse in den großen Konzentrationslagern an anderen Orten. Sie unterschieden sich durch die Größe. Das KZ-Außenlager Cochem war nicht so ausgestattet wie das Lager Natzweiler. Es gab keine Gaskammern und keine Verbrennungsöfen. Auch wurden in Cochem keine medizinischen Versuche an Gefangenen durchgeführt. Aber: In der Mitte des Lagers in Bruttig stand der Galgen, als immer gegenwärtige Drohung, in den Zwingern wurden Hunde gehalten, verkommen zu lebenden Waffen, genau wie in Natzweiler auch. In Treis bedurfte es keines Galgens. Hier wurden die Menschen an den Bäumen erhängt, die im Lager standen. Alle Anweisungen für Cochem kamen aus Natzweiler. Es herrschten die gleichen Vorschriften. Die Post für die Gefangenen in Cochem wurde in Natzweiler zensiert. Das Schrecklichste, was Cochem mit Natzweiler gemein hatte: die Gefangenen waren hier wie dort zu einem bestimmt, zur Vernichtung durch Arbeit.
Cochem mit seinen Nebenlagern Bruttig und Treis war nur eines von 72 Außenlagern des KZ Natzweiler. Andere große KZs hatten ähnlich viele. Man stelle sich das vor. Deutschland war gespickt von Lagern, übersät von Stätten der Folter und des Todes. Und schenkt man den Zeitgenossen Glauben, die davon nichts gewusst haben wollen, sollen sie doch heute endlich zur Kenntnis nehmen, dass in der Nähe von fast allen deutschen Städten und Ortschaften solche Terroreinrichtungen platziert waren. Der Internationale Suchdienst von Arolsen gibt die Zahl der Konzentrationslager im damaligen Reichsgebiet mit 1.037 an. Dreiundzwanzig seien Hauptlager, 1.014 Nebenlager gewesen. Ferner habe es acht Vernichtungslager und unzählige andere Lager gegeben. Wie Treis und besonders Bruttig zeigen, befanden sich die Außenlager teilweise inmitten der Ortschaften.
Das KZ Natzweiler-Struthof, ungefähr fünfzig Kilometer südwestlich von Straßburg gelegen, wurde am 1. Mai 1941 eröffnet. Bereits im September 1944 wurde es geschlossen, nachdem die Gefangenen nach Dachau deportiert worden waren. In den allgemeinen Publikationen über die Konzentrationslager im SS-Staat wird Natzweiler-Struthof als Vernichtungslager charakterisiert. Es gehörte jedoch, misst man die Größe eines Konzentrationslagers an der Anzahl der dort hin Deportierten und Ermordeten, nicht zu den größten Vernichtungslagern. Allerdings war Natzweiler berüchtigt wegen der Durchführung medizinischer Versuche an lebenden Personen. Natzweiler war Endstation für viele Widerstandskämpfer aus den Staaten westlich des Reichsgebietes.
Die Benennung des Lagers ergab sich aus dem Namen der kleinen, im Tal gelegenen Gemeinde Natzweiler und dem Struthof, eines Hotels mit angrenzendem Bauernhof. Oberhalb des Struthofs wurde an einem Berghang das Konzentrationslager errichtet. Um die Arbeiten auszuführen, wurden im Mai 1941 die ersten Gefangenen hierher gebracht. Die Besitzer des Struthofs hatten zu dem Zeitpunkt das Hotel und den Hof bereits geräumt. Ein erstes provisorisches Lager wurde im Struthof errichtet. Die Gefangenen wurden gezwungen, rund achthundert Meter oberhalb des Struthofs das Lager aufzubauen. Die Strecke dazwischen, über die das gesamte Baumaterial von den Gefangenen geschleppt werden musste, war extrem steil und führte damals durch unwegsames Gelände.
Der Beschluss, das Lager an diesem Ort zu errichten, war durch das Vorhaben der Nazis bestimmt, die in der Nähe gelegenen Granitvorkommen durch den Einsatz der Gefangenen abzubauen. Dieses Vorhaben wurde in den Folgejahren unter Ausnutzung der Arbeitskraft der Häftlinge verwirklicht. Natzweiler wurde das einzige Konzentrationslager auf französischem Boden. In seinen vierzehn Häftlingsbaracken war Platz zur Unterbringung von 1.500 Menschen. Zu Beginn des Jahres 1944 lag die Zahl der Häftlinge noch unter 2.000, im September des gleichen Jahres, kurz vor der Umsiedlung und Schließung des Lagers, war es mit 7.000 Menschen völlig überbelegt.
Von den 150 Häftlingen, die im Mai 1941 mit dem ersten Transport auf dem Struthof ankamen, befanden sich 145 Deutsche. Fünf Häftlinge waren Polen. Die Deutschen, zum großen Teil politische Gefangene, mussten den Roten Winkel als Kennzeichnung tragen. Andere, aufständische Matrosen aus Kiel, waren der Spezialabteilung Wehrmacht (SAW) zugeordnet. Wieder andere, sogenannte Asoziale, trugen den Schwarzen Winkel, Homosexuelle den Rosa Winkel und so genannte Gemeinverbrecher den Grünen Winkel auf ihrer Kleidung. Als diese Männer die ersten drei Baracken fertig gestellt hatten, wuchs die Zahl der Häftlinge auf 400 Personen an. In der Folgezeit veränderte sich die Zahl der Gefangenen wie folgt: zum 1. Januar 1942 auf 419 Häftlinge; zum 1. Januar 1943 auf 709 Häftlinge und zum 1. Januar 1944 auf 1.840 Häftlinge. Die höchste nachweisbare Gefangenenzahl lag am 27. August 1944 bei 5.538 Häftlingen.
Neben den 14 Häftlingsbaracken hatte das Lager eine Küche, ein Gebäude mit Gefängniszellen und ein Krematorium. Die Baracken standen stufenförmig in einem Nordhang auf der Schattenseite eines Berges. Auf der untersten Stufe der Anlage befand sich eine Grube, in der die Asche und die Knochenreste von verbrannten Häftlingsleichen verscharrt wurden. Auf der obersten Stufe überragte ein Galgen auf der Mitte des Appellplatzes das Lager. Durch die doppelte Stacheldrahtumzäunung floss elektrischer Strom. Acht hölzerne Wachtürme machten das Gelände zu einer Festung, aus der es kein Entrinnen gab. Außerhalb der Umzäunung, standen die Unterkünfte der Wachmannschaft, die Hundezwinger und die Villa des Kommandanten mit Schwimmbad. Eine Gaskammer wurde auf dem Struthof eingerichtet. Hierzu wurde die Kühlkammer des ehemaligen Hotels umfunktioniert.






