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Wie viele Menschen insgesamt das Lager Natzweiler durchleiden mussten, ist nicht genau festzustellen. Die Zugänge und Abgänge von Häftlingen wurden zwar peinlich genau festgehalten. Viele sogenannte Angehörige minderwertiger Rassen, also Russen, Polen, Angehörige der Sinti und Roma, verächtlich Zigeuner genannt, wurden jedoch ermordet, ohne Hinterlassung von Spuren. Ebenso erging es vielen Gefangenen, die dem französischen Widerstand angehörten. Nach ihrer Ergreifung wurden sie nach Natzweiler gebracht und umstandslos exekutiert. Die Zahl von rund 45.000 Häftlingen wurde offiziell erfasst. Von diesen sind jedoch nur 10.000 bis 15.000 im Hauptlager Natzweiler, die übrigen in den Außenlagern gewesen. In der Zahl von 15.000 sind etwa 3.000 nicht offiziell erfasste Häftlinge mitgerechnet.
Ein ehemaliger luxemburgischer Gefangener erinnert sich. Er sei in der Schreibstube des Lagers eingeteilt gewesen und habe über alle Zugänge und Abgänge Protokoll führen müssen. Er berichtet:
In Natzweiler sind immer wieder nachts Leute aus dem bewaffneten französischen Widerstand eingeliefert worden, die Maquisards, Mitglieder der Partisanenbewegung, die sich Maquis nannte. Ihre Mitglieder lebten in den Wäldern Frankreichs, daher auch ihr Name, der für dichten Buschwald steht. Sie wurden in Natzweiler oft sofort nach ihrer Ankunft durch Genickschuss getötet oder mit Gift totgespritzt, ohne registriert zu werden. Wenn nachts eine Gruppe Gefangener gebracht wurde, musste ich aufstehen, weil ich ja Buch zu führen hatte. Wenn ich dann von der SS wieder zurückgeschickt wurde, ohne meine Eintragungen machen zu müssen, wusste ich, was geschehen würde. Ich habe mir das aber nie anmerken lassen. Es war zu gefährlich, wenn man zu viel wusste. Ebenso sind auch Russen ohne weiteres einfach umgebracht worden, weil es ja nur Russen waren.2
2 Persönliche Aufzeichnung des Autors aus Gesprächen mit Ernest Gillen, Luxemburg
Alle Häftlinge, auch die in den Außenkommandos, wurden in den Listen als Gefangene von Natzweiler geführt. Viele betraten aber das Lager in Natzweiler nicht, sondern wurden sofort einem Außenlager zugeteilt. Dadurch erhöht sich die Zahl der Häftlinge, die in den Büchern von Natzweiler auftauchen erheblich. Am 3. Mai 1944 sind beispielsweise 850 Russen und Polen direkt von Auschwitz nach Cochem gekommen, wurden aber in Natzweiler als Zugänge registriert. Im Sommer 1944 sollen etwa 10.000 Häftlinge allein in den Außenlagern von Natzweiler gearbeitet haben. Ende September 1944 erreichte diese Zahl mehr als 16.000 und Ende Oktober 1944 sogar 20.822 Häftlinge, darunter 2352 Frauen.
Die Zahl der Toten von Natzweiler lässt sich nicht exakt rekonstruieren. Es müssen jedoch mehrere Tausend gewesen sein, die hier den Tod fanden. In der Broschüre KZ Lager Natzweiler-Struthof ist von 108 Gefangenen die Rede, die allein in der Nacht zum 2. September 1944 umgebracht worden seien. Die Überlebenden entsinnen sich, heißt es darin, der Kamin des Krematoriums war die ganze Nacht über rot.3
3 Quelle: KZ Lager Natzweiler Struthof, Nancy 1982
Alle Häftlinge mussten zur Erkennung unterschiedliche Abzeichen auf ihrer Kleidung tragen. Diese bestanden aus der Häftlingsnummer und den bereits erwähnten Winkeln, worunter man sich ein gleichschenkliges Dreieck vorzustellen hat, dessen Fläche farbig gefüllt war. Ein in den Grünen Winkel, Spitze nach oben, gedrucktes SV stand für Sicherheitsverwahrung, woraus sich im Laufe der Zeit die Bezeichnung Schwerverbrecher entwickelte. Bibelforscher und Zeugen Jehovas wurden durch ein lila Dreieck, Angehörige der Sinti und Roma durch ein schwarzes Dreieck gekennzeichnet. Die Spitze zeigte nach unten, wenn sie zusätzlich als asozial galten. Juden waren in Natzweiler nicht besonders gekennzeichnet. Sie trugen rote, einige auch grüne oder schwarze Winkel. Ein schwarzes Dreieck erhielten zusätzlich sogenannte Rassenschänder. Den Rosa Winkel, Spitze nach unten, gab es für Homosexuelle. Ausländer trugen ab dem Frühjahr 1944 in ihren Winkeln den Anfangsbuchstaben ihrer Nationalität. Angehörigen der Strafkompanie wurde zusätzlich ein schwarzer Punkt aufgenäht. Fluchtverdächtigen wurde auf Brust und Rücken eine rot-weiße Zielscheibe aufgenäht oder aufgemalt. Die SS hatte eine besondere Kennzeichnung für sogenannte Blöde. Auf einer Armbinde mussten die Betroffenen den Satz Ich bin blöde tragen. Die Kategorie der Nacht-und-Nebel-Häftlinge, kurz mit N.N. bezeichnet, der überwiegend Belgier, Franzosen, Holländer, Norweger, Luxemburger aber auch einige Häftlinge anderer Nationen angehörten, war mit den Initialen N.N. gekennzeichnet.
Einlieferungsgründe in das KZ Natzweiler ergaben sich aus den Kategorien: politische Häftlinge wegen ihrer Aktivitäten gegen das faschistische NS-Regime, andere wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer sogenannten minderwertigen Rasse, sowie die sogenannten Asozialen und Arbeitsscheuen, die Homosexuellen und die Kriminellen. Dabei bleibt zu berücksichtigen, dass hinter den Bezeichnungen arbeitsscheu, asozial oder kriminell die menschenverachtende Gesinnung des faschistischen NS-Staates stand.
Kriminelle, echte Kriminelle, gemeint sind bösartige Menschen, die vor Brutalitäten nicht zurückschreckten, wurden bevorzugt als sogenannte Kapos eingesetzt. Kapos waren Funktionshäftlinge, denen von der SS die Aufsicht über die übrigen Gefangenen übertragen wurde. Sie sollen häufig brutaler als die SS selbst, ja, teilweise völlig enthemmt, gegen ihre Mitgefangenen vorgegangen sein.
In das KZ Natzweiler wurden Menschen aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien, Luxemburg, Norwegen, Polen, der Sowjetunion, Spanien und der Tschechoslowakei verschleppt. In geringer Zahl gab es auch Häftlinge anderer Nationen. Für viele der Gefangenen aus dem politischen, bewaffneten Widerstand, die von den Nazis die Bezeichnung N.N. erhalten hatten, war eine sogenannte Sonderbehandlung vorgesehen, nämlich die Vernichtung bei Nacht und Nebel. In sogenannten Nacht-und-Nebel-Aktionen wurden Menschen von der Straße verschleppt und blieben für immer verschwunden. Den N.N. Gefangenen, die nach ihrer Einlieferung nicht sofort getötet wurden, erging es von allen Häftlingen im Lager am schlechtesten. Sie hatten praktisch überhaupt keinen Schutz mehr und durften jeder Zeit gequält und getötet werden. Der Formulierung bei Nacht und Nebel oder Nacht-und-Nebel-Aktion begegnet man auch heute noch. Manchmal wird sie von älteren Menschen benutzt, die es vielleicht besser wissen könnten, oft aber auch von jungen Leuten, die nichts über den nationalsozialistischen Gebrauch dieser Redewendung wissen.
Begründet wurde diese Sonderbehandlung durch den Nacht-und-Nebel-Erlass des Generalfeldmarschalls Wilhelm Keitel, dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht. Er führte in dem umfangreichen Schreiben aus, wie mit den N.N. zu verfahren sei. Damit folgte er dem Willen Hitlers, den Angriffen gegen das Deutsche Reich oder gegen die Besatzungsmacht in den besetzten Gebieten mit abschreckenden Maßnahmen entgegenzutreten und zwar durch den Tod oder durch Verschickung nach Deutschland. In der geheimen Mitteilung Keitels von 12. Dezember 1941 heißt es: Eine wirksame und nachhaltige Abschreckung ist nur durch Todesstrafen oder durch Maßnahmen zu erreichen, die die Angehörigen und die Bevölkerung über das Schicksal des Täters im Ungewissen halten.
Das KZ Natzweiler-Struthof wurde daraufhin zu einer Stätte, die nach dieser Anordnung arbeitete: schnelle Vernichtung von Gegnern des Regimes, ohne Hinterlassung von Spuren. Es ist schwer, all die Grausamkeiten und verschiedenen Strafen aufzuschreiben, die sich die SS für die Häftlinge ausgedacht hatte. Dennoch will ich Dir einen Eindruck vermitteln, wie es den Menschen in Natzweiler ergangen ist, denn Natzweiler war das Stammlager von Cochem und damit maßgebend.
Der Augenzeuge René Marx berichtet: Außerdem wurde von der SS eine Jagd auf Widerstandskämpfer begonnen. (…) Das Ergebnis dieser Offensive ließ nicht auf sich warten. Noch am gleichen Abend, gegen Mitternacht, kam ein Lastwagen nach dem anderen und fuhr zum Krematorium. Von dem Motorenlärm geweckt, bezog ich wieder meinen Beobachtungsposten am Fenster, das auf die Hauptstraße ging. Der Kamin des Krematoriums, vom Schein des Feuers gerötet, hob sich unheimlich von der Dunkelheit ab. Was ging da vor? Vielleicht, sagte ich mir, verbrennt die SS ihre Akten, bevor sie das Lager evakuieren würde. Am nächsten Tag war ich erstarrt. Ein Kamerad aus Luxemburg, der die Nacht im Ankleidungsblock direkt über dem Krematorium verbracht hatte, erzählte mir, dass stundenlang Scharen von Männern und Frauen auf Lastwagen gebracht wurden und dass man die ganze Zeit ein Geräusch gehört habe, das an das Zuknallen einer Tür erinnerte und gleichzeitig erstickendes Schreien und Singen. Von all diesen Menschen, die man zum Krematorium gebracht hatte, war nicht mehr übrig, als ein brenzliger Geruch im Lager und grauer Rauch, der unaufhörlich vom großen Kamin aufstieg und dann in das Tal hinabsank. Es war leicht zu verstehen, was geschehen war. Die Menschen, die man ins Krematorium gebracht hatte, waren die Widerstandskämpfer aus der Umgebung. Man hatte sie eingekreist, gefangengenommen, auf Lastwagen geladen und zu den Verbrennungsöfen gebracht. Das Geräusch, das einer schlagenden Tür ähnelte, war das Knallen der Sechsmillimeter-Revolver der SS, die ihre Opfer durch Genickschuss tötete.4
4 Quelle: KZ Lager Natzweiler Struthof, Nancy 1982
Die Anforderungen in der Strafkompanie waren so schwer, dass die Zuteilung in diese für viele Gefangene einem Todesurteil gleich kam. Mit der Zunahme der N.N. Häftlinge, die ja die brutalste Behandlung überhaupt erfuhren, verlor die Strafkompanie allmählich an Bedeutung. Die Bestraften wurden einfach den N.N. gleichgesetzt.
Nach der regulären Arbeitszeit, die im Sommer bereits um 4:00 Uhr morgens begann, mussten häufig noch Strafarbeiten ausgeführt werden. Dabei handelte es sich meist um völlig unsinnige Beschäftigungen, wie das Tragen von Schnee oder Material von einem Ort zum anderen und zurück.
Eine harte Strafe war das Torstehen. Je nach Schwere der Vergehen mussten die Häftlinge stunden- oder tagelang am Lagertor stehen. Sie bekamen während dieser Zeit nichts zu essen. Ihre Mütze mussten sie abnehmen und in der Hand halten. Viele brachen vor Erschöpfung zusammen.
Bestrafungen für Verstöße gegen die Disziplin waren in drei Stufen unterteilt. Erste Stufe: Drei Tage Holzpritsche in einer hellen Zelle mit Wasser und Brot. Zweite Stufe: Bis zu 24 Tage Holzpritsche in einer dunklen Zelle bei Wasser und Brot, nur jeden vierten Tag normale Ernährung. Dritte Stufe: Eingepfercht in eine Wandnische, die eigentlich als Heizungsschacht vorgesehen war. Ein Mensch konnte darin nicht liegen, nicht sitzen, nicht aufrecht stehen. Die Höhe der Nische betrug ein Meter dreißig. Der Grundriss des Schachtes war so klein, dass einer, der diese Strafe erhielt, dort hineingezwängt werden musste. An dieser Folter sind viele gestorben.
Gefoltert wurde auch auf dem Prügelbock, auf den der Häftling festgeschnallt und mit einem Stock geschlagen wurde. Je nach Schwere der Strafe wurden zwischen 10 und 50 Schläge auf das Gesäß oder auf den Rücken in Höhe der Nieren verabreicht. Dabei musste der Gefolterte die Stockschläge selbst zählen. Verzählte er sich, wurde wieder bei eins angefangen. Viele verloren bei der Prozedur das Bewusstsein.
Todesstrafen durch Erhängen wurden am Galgen in der Mitte des Lagers öffentlich vollzogen. Alle Häftlinge mussten den Exekutionen ihrer Kameraden zusehen. Wurden mehrere erhängt, ging es der Reihe nach. Der Zweite und der Dritte sahen zu, wie der Erste, der Dritte sah zu, wie der Zweite erhängt wurde, bis er selber an der Reihe war. Der Tod soll jeweils nach einigen Minuten eingetreten sein, wurde also nicht durch einen schnellen Genickbruch, sondern durch langsames Erwürgen durch den Strang herbeigeführt. Die Erhängten wurden in Holzkisten durch das Lager zum Krematorium getragen. Automatisiertes Auslöschen von Leben.
Das Lager Natzweiler diente den Deutschen auch als Hinrichtungsstätte für Nicht-Lagerinsassen. Eine regelrechte Mordindustrie hatte die SS hier geschaffen. Delinquenten wurden von außerhalb zur Tötung ins Lager gebracht. In der Regel wurden diese in aller Stille im Krematorium erhängt und verbrannt. An der Decke waren zu diesem Zweck eine Reihe von Eisenhaken angebracht worden. Die einzigen Zeugen dieser Hinrichtungen sollen der Henker und dessen Helfer gewesen sein.
Mit der Bitte um Sonderbehandlung brachte die Gestapo Gefangene nach Natzweiler. Mit diesem Hinweis Eingelieferte wurden sofort getötet.
In einer Kiesgrube, in der Nähe des Lagers fanden Erschießungen statt. Die Menschen wurden durch Exekutionskommandos oder durch Genickschuss mit der Pistole durch einzelne SS-Leute getötet. Die Leichen wurden verbrannt.
Andere wurden durch Injektionen giftiger Substanzen getötet. Viele wurden, wie es hieß, auf der Flucht erschossen. Sie wurden in den Tod getrieben, erschlagen oder starben an Erschöpfung.
Besonders wegen der Durchführung medizinischer Versuche hat sich das Lager Natzweiler einen grauenvollen Namen gemacht. Es handelte sich dabei um Experimente an lebenden Personen. Mit der ausdrücklichen Genehmigung des Reichsführers SS, Himmler, wurden unter der Leitung des berüchtigten Professors Dr. August Hirt Versuche an KZ-Häftlingen durchgeführt. Manche ausgesuchte Häftlinge wurden eigens zur anschließenden Obduktion getötet. Ein Raum mit Seziertisch befand sich im Gebäude des Krematoriums. Der Umbau des Kühlraumes des ehemaligen Hotels Struthof in eine Gaskammer geschah auf Veranlassung von Prof. Hirt. Zur Gaskammer gab es ein Fenster, von dem aus er den Vorgang der Vergasung seiner Opfer von außen beobachten konnte. Hier wurden Leichen und Leichenteile nach Vorschrift hergestellt, die für medizinische und sogenannte rassenspezifische Untersuchungen Verwendung fanden. Die Leichen wurden auf der Stelle seziert und untersucht oder in bestimmten Fällen zur Universität Straßburg gebracht. Das Anatomische Institut der Universität wurde aus dem Konzentrationslager mit Leichen oder Leichenteilen beliefert, um seine kriegswichtigen Geheimversuche durchführen zu können. Ein Briefwechsel, der heute im Bundesarchiv in Koblenz archiviert ist, befasst sich mit der Lieferung eines Versuchs-Tiefkühlschrankes durch die Firma LINDE an die Reichsuniversität Straßburg.
Manchen Gefangenen wurden testweise Viren oder Giftpräparate injiziert. Im Jahr 1944, so ist in den Nürnberger Prozessakten nachzulesen, wurden im KZ Natzweiler zweihundert Personen Typhusviren eingeimpft.
Eines Tages kamen im Lager der schon erwähnte Universitätsprofessor aus Straßburg und ein Fliegeroffizier an. Sie verlangten dreißig junge und kräftige Internierte, die sie in einem Block isolierten. Eine Hälfte des Blockes wurde abgeschlossen, und niemand außer dem Professor, dem Offizier und mir durfte hineingehen. Man bestimmte mich dazu, die Kranken zu versorgen und den Ablauf der Krankheit zu beobachten. Es war den SS-Leuten verboten, in den Block hineinzugehen. Es war uns verboten zu erzählen, was dort geschah.
Ich habe folgendes gesehen: Der Offizier und der Professor setzten ihre Gasmasken auf. Sie spritzten dann in die Handfläche und auf die Innenseite des Vorderarmes etwa zehn Kubikzentimeter eines Produktes ein. Zehn Gefangene bekamen sodann fünfzehn Tropfen Vogan, zehn andere acht solcher Tropfen und der Rest nichts.
(…) Am ersten Abend begannen die Kranken vor Schmerzen zu schreien. Die Impfstelle hatte sich entzündet und glich einer Verbrennung. Bald war ihr ganzer Körper damit überzogen. Sie hatten Schmerzen in den Augen und den Lungen. Ich tat mein Möglichstes, um ihnen zu helfen. Ich legte mich um Mitternacht zu Bett, und am nächsten Tag musste ich feststellen, dass auch ich kaum noch etwas sehen konnte. Der Offizier kam, nicht um die Kranken zu pflegen, sondern um sie zu fotografieren. Von diesem Tag an fotografierte man sie alle Tage, aber man kümmerte sich nicht um die Kranken, die wie Tiere brüllten. Sie waren bald willenlos, bald wie verrückt. Der erste starb nach vierzehn Tagen (am 21.12.42). Seine Leiche wurde nach Straßburg geschickt. In der Folgezeit durfte keine Leiche mehr das Lager verlassen. Man machte die Versuche an Ort und Stelle. Die Autopsie ergab folgende Resultate: Rückgang des Gehirns, die Lungen mit Eiter angefüllt und zerfressen, die Leber ebenso. Die übrigen waren halb blind und lungenkrank. 5
5 Konzentrationslager Dokument F 321 für den Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg, herausgegeben von Eugène Aroneanu. Französisches Büro des Informationsdienstes über Kriegsverbrechen
(…) diese Ärzte machten Versuche mit Gasen an diesen Unglücklichen in einer Gaskammer außerhalb des Lagers. An einem einzigen Tag, am 10. August 1943, wurden 86 Frauen vergast und ihre Leichen sofort nachher verbrannt. 6
6 Konzentrationslager Dokument F 321 für den Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg, herausgegeben von Eugène Aroneanu. Französisches Büro des Informationsdienstes über Kriegsverbrechen
Tatsächlich handelte es sich bei der hier geschilderten Begebenheit um 87 jüdische Häftlinge. Es waren 30 Frauen und 57 Männer.
Gearbeitet wurde in dem schon erwähnten, 700 Meter oberhalb des Lagers gelegenen Steinbruch. Für die Beaufsichtigung der Arbeiten und die Einhaltung der Vorgaben durch die SS waren die Kapos verantwortlich. Diese gingen in der Regel brutal und rücksichtslos gegen die Gefangenen vor. Sie hatten dafür zu sorgen, dass ein gewisses Arbeitspensum erledigt wurde. Lagen sie unter dem Limit, hatten sie selbst eine Bestrafung zu erwarten. Dieser konnten sie nur dann entgehen, wenn sie nachweisen konnten, dass sie die Häftlinge massiv durch Schläge zur Arbeit angetrieben hatten. Beim morgendlichen Marsch der Kolonnen in den Steinbruch wurde von der SS Anweisung gegeben, wie viele Häftlinge am Abend ins Lager zurück getragen werden mussten. Diese hatten entweder völlig erschöpft oder tot zu sein. Von dieser Anweisung waren vorwiegend die N.N. Häftlinge, die Russen und die Polen betroffen.
In den Hallen auf dem Gelände des Steinbruchs mussten Junker-Motoren abgeschossener Flugzeuge durch die Häftlinge demontiert und auf Wiederverwendung überprüft werden. Bei diesen Arbeiten kam es immer wieder zu Sabotageakten. Später wurde die Tätigkeit für die Flugzeugindustrie intensiviert und weitere Montagehallen entstanden. Mit dem Ziel, die Arbeiten unter die Erde zu verlegen, begannen Häftlinge, zum Teil fünfzig bis sechzig Meter tiefe Stollen in die Granitfelsen des Steinbruches zu treiben. Zu einer unterirdischen Produktion, wie im Tunnel Bruttig-Treis, kam es in Natzweiler jedoch nicht.
Ein erschütterndes Zeugnis gibt der ehemalige Häftling Doktor Ragot in seinem Bericht über eine Weihnacht in Natzweiler: Weihnachten kam … und an zwei Tagen hintereinander wurde uns nachmittags die Arbeit erlassen und wir wurden eine Stunde später geweckt. Vierzehn Tage vorher hatten wir einen anderen Kapo bekommen, einen »grünen« Deutschen, der schon seit vielen Jahren Gefangener war. Ungefähr fünfzig Jahre alt, trieb er uns zu schneller Arbeit an, aber meiner Meinung nach hatte er das große Verdienst, gerecht zu sein.
Von unseren Liedern am Sonntag eingenommen, bat er uns, etwas für den Heiligen Abend vorzubereiten, und er selbst besorgte einen Tannenbaum, Girlanden und sogar kleine Kerzen. Ein Freudenfest war vorgesehen, das vor allem aus zusätzlichem Essen bestehen sollte. Es ist überflüssig zu sagen, dass uns dies am meisten interessierte. Aber es gab auch andere Freuden …
Gleich mittags, bei der Rückkehr von der Arbeit, bietet man uns die erste. Zwei Galgen sind auf dem Podium errichtet, davor steht die ganze Belegschaft im Viereck, und so werden zwei Häftlinge erhängt; langsames Erhängen, nicht durch den Fall des Körpers herbeigeführt, sondern durch einfaches Erwürgen. Das Opfer braucht mindestens zwei Minuten um zu sterben.
Als dieses Schauspiel vorbei war, mussten wir mit Mützen ab in Fünferreihen zwischen den beiden baumelnden Leichen hindurchgehen, rechts und links von uns der Generalstab der SS, wo Kramer, der Lagerkommandant, thronte, seine ewige Zigarre in der Schnauze; mit den Augen Wahnsinniger genossen sie es und beobachteten die Nachwirkung, die es auf uns ausübte. Aber wir zogen vorbei, automatisch, gleichgültig, den Blick ins Ungewisse gerichtet und dachten vor allem an unsere Suppe, die auf uns wartete und in unseren Essnäpfen kalt wurde.
Dieses Schauspiel hinderte uns nicht daran, fünf Minuten später drei Kartoffeln und etwas Fleischsauce zu genießen und am Nachmittag zu singen und Musik zu machen. Man lebte und starb, man lebte und arbeitete, man ging vor Hunger ein, aber man verlor nie die Hoffnung. Man starb oft allein, ohne Kameraden, um den Toten die Augen zu schließen, ohne geistlichen Beistand für die Gläubigen, und wenn sich die armen geopferten Körper einmal in Rauch aufgelöst hatten, blieb kaum die Erinnerung an sie zurück. 7
7 Quelle: KZ Lager Natzweiler Struthof, Nancy 1982
Neuer Antrieb
Inzwischen war meine Erzählung über das KZ-Außenlager Cochem in einer kleinen Auflage erschienen. Wegen dieses schmalen Bändchens wurde ich für ein Reisestipendium vorgeschlagen, das der Verband deutscher Schriftsteller, VS, zusammen mit dem Auswärtigen Amt jährlich vergibt. Wenig später erhielt ich tatsächlich die Zusage und wurde Stipendiat. Ich empfand diese Anerkennung als Aufforderung, weitere Recherchen zum Thema KZ-Außenlager Cochem anzustellen. Ich entschied mich nach Luxemburg zu reisen.
Du weißt, mit welchem Eifer ich in meiner Kindheit und Jugend als Messdiener tätig war. Ich fuhr damals mit einer kleinen Gruppe aus unserer Gemeinde zu einem religiösen Fest nach Malmedy in Belgien. In einer Gaststätte, in der wir zu Mittag essen wollten, wurden wir nicht bedient. Das war mir damals unverständlich. Auch die Art und Weise, in der man uns die Bewirtung verweigerte, irritierte mich sehr. Unser orts- und geschichtskundiger Pfarrer, der sich mit auf der Tour befand, erzählte mir später von einem Massaker deutscher Soldaten an Zivilisten aus Malmedy. Bei dem Gedanken, nach Luxemburg zu fahren, um dort Kontakt zu ehemaligen Häftlingen zu suchen, fiel mir diese Begebenheit wieder ein.
Post. Über die Frankfurter Geschäftsstelle der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) erhielt ich Kontaktadressen in Luxemburg. Die Landesbildstelle Rheinland-Pfalz antwortete auf meine Anfrage: Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass in unserem Bildarchiv keine Aufnahmen zum Thema ›KZ-Außenkommando Cochem‹ vorhanden sind.
Vom Verband der Schriftsteller in Luxemburg kam die Einladung, ich möge als Vertreter der rheinland-pfälzischen Autoren bei der im Herbst geplanten Literatur-Biennale in Clerf als Gastautor aus meinen Texten lesen. Die Veranstaltung sollte an einem Wochenende stattfinden, das in die Zeit fiel, in der ich vorhatte, mich in Luxemburg aufzuhalten. Natürlich sagte ich zu.
Luxemburg. Ich wollte mich auf das kleine Land einlassen. Was gab es an Büchern über Luxemburg? Ich hatte im VLB, dem Verzeichnis lieferbarer Bücher, nachgesehen. Es gab einiges über Landschaften und Sehenswürdigkeiten. Die Auswahl war abgestimmt auf den Bedarf von Gästen, die in Luxemburg Erholung suchten, und sich für Besichtigungen interessierten.
Luxemburg, das hatte für mich immer irgendwie zu Deutschland gehört, irgendwie. Das war kein richtiges Ausland gewesen. So wie Bayern. Und wenn wir früher als Kinder aufzählten, in welchen Ländern wir schon gewesen sind, dann wurde die Nennung von Luxemburg immer mit einem gelangweilten Ach ja, Luxemburg und mit einer ausladenden Handbewegung abgetan. Dass Luxemburg nicht zu Deutschland gehört, wurde mir tatsächlich und endgültig erst klar, als ein Freund eine Luxemburgerin heiratete.
»Ah, aus Luxemburg!«, sagten alle erstaunt, denen er die Frau vorstellte. Ihr Vater sei ein hohes Tier in der luxemburgischen Regierung, hatte der Freund gesagt. Erst damit wurde Luxemburg endgültig als 12. Bundesland abgeschrieben – für Kopf und Bauch.






