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Weite Teile dieses „Geschäftes“ befinden sich in den Händen der OK oder geschlossener Familienclans. Und natürlich haben die Mafia und die Clans ein Interesse daran, das sogenannte „Graufeld“ schwer zugänglich und unübersichtlich zu halten. Dabei sind alle Mittel recht. Den Opfern, die vom Ausland nach Deutschland geschmuggelt werden, werden die Pässe entzogen, sie bekommen keine Möglichkeit, die Sprache zu lernen. Häufige Ortswechsel erschweren die Registrierung. Mit Bedrohungen und tatsächlicher Gewalt werden Opfer und Mittelsmänner eingeschüchtert. Korruption auf allen Ebenen ist an der Tagesordnung.

Zugleich werden schillernde Lobbyistinnen in Talkshows geschickt, um ein glänzendes Bild des Prostitutionsgewerbes zu malen, in welchem die meisten Frauen aus freien Stücken den Beruf der Sexarbeiterin wählen. Die Realität sieht anders aus: Zwang, Gewalt und Missbrauch herrschen vor, Frauen werden auf brutale Weise ausgebeutet.
3. Menschenhandel ist weitestgehend unsichtbar
Dazu noch einmal Menschenhandelheute.net: „Die Opfer und Überlebenden von Menschenhandel sind in der Gesellschaft und in der Öffentlichkeit nicht sichtbar, sie gehören zur sogenannten ,versteckten Bevölkerung‘ (hidden population). Die ,Unsichtbarkeit‘ gehört schon fast zur Definition von Menschenhandel. ,Versteckte Bevölkerungen‘ sind meistens stigmatisiert und/oder illegalisiert (z. B. Prostituierte und undokumentierte Migrant/innen). Um sich selbst zu schützen und weil sie den Behörden nicht vertrauen, werden sie auch nicht mit den Behörden kooperieren oder ohne weiteres sich auf Gespräche mit SozialarbeiterInnen oder ForscherInnen einlassen. Selbst wenn sie Opfer von Menschenhandel sind, […] wenden sich Menschen aus diesen Gruppen aus Angst und Misstrauen eher nicht an die Polizei oder andere Institutionen.“
Betroffene von Menschenhandel sind außerdem oft in einer Doppelrolle. Sie werden normalerweise als Beschuldigte (illegaler Aufenthalt bzw. keine Arbeitserlaubnis) und zugleich als potenzielle Zeugen vor Gericht vernommen. Menschenhandelsopfer haben das Recht auf eine 30-tägige Duldung, während der sie überlegen können, ob sie eine Aussage machen wollen oder nicht. Selbst, wenn ein Opfer dann aussagt, ist seine Aufenthaltsgenehmigung nach Abschluss des Strafverfahrens nicht gesichert. Nach dem Prozess wird die Zeugin oder der Zeuge wieder sich selbst überlassen oder abgeschoben. Vielen Opfern ist eine Aussage daher zu unsicher. Besonders gefährdet sind Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ohne familiären Schutz.
4. Unzureichende Bekämpfung
Eine Statistik kann nur aussagen, was auch tatsächlich dokumentiert wurde. Viele Polizisten, die mit dem Thema befasst sind, stellen fest, dass die finanziellen Mittel nicht ausreichen. Dazu kommen fehlende Rechtsinstrumente, um Zuhälter zu kontrollieren, Menschenhändler festzunehmen und Mafiastrukturen abzubauen.
Was lässt sich nun über die tatsächlichen Zahlen von Menschenhandel bzw. Zwangsprostitution in Deutschland sagen?
Schon bei der Anzahl der Prostituierten in Deutschland gibt es keine zuverlässige Statistik auf einer wissenschaftlichen Grundlage. Auch die Gewerbeanmeldungen bei der Bundesagentur für Arbeit (BfA) sind letztlich eine Farce. Im Jahr 2013 zählte die BfA genau 44 sozialversicherungspflichtig beschäftigte Prostituierte, darunter 4 Männer. Deutlicher kann ja kaum ausgedrückt werden, dass sich Prostitution im halblegalen oder illegalen Raum abspielt.
Eine häufig zitierte Schätzung, die auf die Berliner Prostituiertenberatungsstelle Hydra e. V. zurückgeht, spricht von bis zu 400.000 Prostituierten in Deutschland, so noch zitiert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) am 10. 10. 2014. Aus den Reihen von Hydra selbst wird diese Zahl allerdings mittlerweile revidiert. Die Hilfsorganisation Solwodi weist darauf hin, dass es selbst in offiziellen Dokumenten des Bundestags unterschiedliche Schätzungen gibt (Bundestagsdrucksache 11/7140, S. 5 ff.; 13/6372, S. 5 ff.; 14/4456, S. 5). Angesichts dessen müsse man von einer geschätzten Zahl von mindestens 200.000 Prostituierten in Deutschland ausgehen.
Rund 500.000 Frauen werden nach Angaben der EU jährlich in Westeuropa zur Prostitution gezwungen (United Nations Development Programme 1999).
Gemäß dem vom Bundeskriminalamt (BKA) herausgegebenen „Bundeslagebild Menschenhandel“ wurden im Jahr 2010 in Deutschland 470 Ermittlungsverfahren von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung abgeschlossen. 2012 gab es 491 Ermittlungsverfahren. Im Jahr 2013 wurde bereits von 542 Opfern gesprochen. Eine deutlich steigende Tendenz.

Wenn man bedenkt, dass die „International Organization for Migration“ für Deutschland in einer sehr vorsichtigen Schätzung bereits im Jahr 1998 von 10.000 bis 20.000 Menschenhandelsopfern ausging (IOM, Trafficked Migrant Women in Germany, Report 2, 1998, S. 1), dann lässt sich aus den Steigerungsraten klar ableiten, dass sich die Opferzahlen in den vergangenen 18 Jahren vervielfacht haben.
Alarmierend ist die Tatsache, dass die Opfer immer jünger werden. Mehr als die Hälfte der Opfer im Jahr 2012, nämlich 52 Prozent, waren unter 21 Jahre alt. Experten gehen davon aus, dass die meisten Mädchen, die durch Menschenhandel zur Prostitution gezwungen werden, zwischen 15 und 17 Jahre alt sind. Zwölf der ermittelten Opfer im Jahr 2012 waren Mädchen unter 14 Jahren. Zunehmend werden Kinder und Jugendliche auch in die Pornoindustrie weitergereicht.
Waren es Mitte der 1970er Jahren vor allem Frauen aus Südostasien und Lateinamerika, die nach Deutschland kamen, sind es seit den frühen 1990er Jahren überwiegend Frauen aus Osteuropa, hauptsächlich aus Bulgarien und Rumänien. Als Herkunftsstaaten der Opfer nennt das BKA 2013: Bulgarien: 26 Prozent; Rumänien: 23 Prozent und Deutschland mit 16 Prozent.
Etwas anders sieht es bei den Tätern bzw. Tatverdächtigen aus, hier besteht die Hauptgruppe aus Deutschen:

Eine wenig beachtete, aber immens wichtige Perspektive auf das Thema Menschenhandel betrifft die Nachfrage. Ohne Nachfrage kein Umsatz.
Laut einer Studie der Frauenzeitschrift „Brigitte“ hatten 88 Prozent der deutschen Männer bereits mindestens ein Mal in ihrem Leben Sex mit einer Prostituierten. 47 Prozent der Männer bezahlten sogar ein Mal im Monat für Sex. Auch wenn es sich dabei keineswegs um eine wissenschaftlich fundierte, repräsentative Umfrage handelt, zeigt sie doch eine deutliche Tendenz. Die Gewerkschaft Verdi schätzt, dass täglich bis zu 1,2 Millionen Männer in Deutschland zu einer Prostituierten gehen.
Sexkauf ist nicht nur in vielen Fällen selbst bereits die Ausnutzung einer Zwangslage, es verändert auch die Ansichten der Männer. In einer Studie von 2011 hat die US-Amerikanerin Melissa Farley nachgewiesen, dass sich die Ansichten von Sexkäufern und Nicht-Sexkäufern deutlich unterscheiden („Comparing Sex Buyers with Men Who Don’t Buy Sex”). Signifikante Unterschiede zeigen sich etwa bei der Aussage: „Wenn ich bezahle, muss die Prostituierte machen, was ich will“. Mit diesem wachsenden Dominanzanspruch steigt auch das Gewaltpotenzial gegenüber den Prostituierten.

Zusammenfassend muss man sagen: Menschenhandel und Zwangsprostitution haben sich in den vergangenen Jahren nach Europa verlagert. Deutschland ist dabei zu einer Drehscheibe geworden. Menschenhandel spielt sich in Deutschland aber weiterhin zu einem erheblichen Maße im Graufeld ab. Hier wäre es wichtig, genauere Zahlen zu gewinnen. Es lässt sich dennoch ein deutlicher Anstieg feststellen, und die Opfer werden zunehmend jünger.
Christine und Uwe Heimowski


NACHTS AUF DEM
STRAßENSTRICH
Unterwegs mit Alabaster Jar e. V.
Wir nähern uns der jungen Frau auf der Straße, winken ihr zu und lächeln. „Hallo, wie geht´s dir?“ Sie dreht sich um und lächelt müde. „Scheiße, keine Arbeit“, beklagt sie sich und verzieht dabei ihr Gesicht. Ihr Name sei Christina und sie komme aus Bulgarien. Ihr langes, pechschwarzes Haar fällt ihr über die Schultern. Der Blick aus ihren dunklen Augen wirkt leer. Sie ist höchstens Anfang 20. Sie wird die ganze Nacht hier auf der Straße stehen und das mit zehn Zentimeter hohen Bleistiftabsätzen. Es ist Mittwochabend, kurz nach neun, mitten auf dem Berliner Straßenstrich in der Kurfürstenstraße, direkt an der U-Bahn-Station.
Die Kurfürstenstraße ist schon seit den 1920er Jahren für Straßenprostitution bekannt. In den vergangenen Jahren hat sich der Strich gewandelt. Heute schaffen hier vor allem Osteuropäerinnen zu Tiefstpreisen an. Auf dem abendlichen Rundgang begegnen wir ihnen gruppenweise: erst die Ungarinnen, dann die Bulgarinnen und die Rumäninnen. In der Regel sind die Nationalitäten auf einem Straßenabschnitt nicht durchmischt.
Der Verein Alabaster Jar e. V. wurde 2006 von der Neuseeländerin Patricia Green gegründet mit dem Ziel, Frauen in der Prostitution zu begegnen und zu helfen. Seither sind wir jeden Mittwochabend mit einem Team Frauen auf dem Straßenstrich unterwegs. Wir haben Kaffee, Tee, Kondome und Schokolade dabei. Da die Frauen auf dem Strich oft sehr wenig verdienen, verteilen wir ihnen Kondome, damit sie sich wenigstens schützen können. Startpunkt für unsere Rundgänge ist jeweils unser Café. Diese Räumlichkeiten teilen wir uns mit Neustart e. V.
So etwas wie einen normalen Einsatz-Abend gibt es für uns nicht. Jedes Mal ist anders, und wir wissen vorab nie, was uns erwartet. Auf der Straße ist immer alles in Bewegung. Manchmal finden wir eine Frau, die immer an der gleichen Stelle stand, auf einem ganz anderen Abschnitt wieder. Manchmal ist eine Frau monatelang weg, und wir wissen nicht, ob wir uns darüber freuen sollen oder nicht. Ist sie ausgestiegen? Oder zu Besuch in der Heimat? Oder in eine andere Stadt oder in ein Bordell gebracht worden?
Die Frauen sind „unsere Mädels“ geworden. Wir begegnen ihnen auf Augenhöhe und investieren in Beziehungen. Das ist nicht immer einfach, weil wir sie oft in sehr unregelmäßigen Abständen sehen. Dazu kommt die Sprachbarriere: nicht selten versuchen wir uns mit Händen und Füßen zu verständigen und erreichen trotzdem nicht mehr als einen ratlosen Blick. Für solche Fälle haben wir unsere „Willkommens-Tüten“ dabei. In dem kleinen farbigen Beutel befinden sich ein paar Süßigkeiten und ein Zettel, auf dem in der jeweiligen Muttersprache (es gibt sie auf rumänisch, bulgarisch etc.) zu lesen ist, wer wir sind und was wir machen. So lässt sich wenigstens hoffen, dass sie es in ihrer Sprache nachlesen kann, wenn sie uns schon nicht versteht. Viele Gespräche fangen mit gewöhnlichem Small Talk an. Erst nach einer Weile gehen sie in die Tiefe. Es kann Monate, ein Jahr oder noch länger dauern, bis eine Frau anfängt, sich uns gegenüber zu öffnen.
Im Gespräch versuchen wir immer wieder, den Frauen Leben und Hoffnung zuzusprechen. Sie erleben so viel Erniedrigung und Ablehnung. Immer wieder beobachten wir, wie ein Auto langsamer wird, der Fahrer die Frau von oben bis unten mustert, die Nase rümpft und wieder beschleunigt. Schon wieder nicht gut genug! Das Leben dieser Frauen ist von unzähligen Lügen geprägt. Dem versuchen wir wenigstens ein bisschen entgegenzusteuern. Manchmal ist es nur ein Blick, ein Lächeln, das ihnen sagt: „Ich sehe dich als Frau und Mensch. Du bist es würdig, dass ich dich anlächle.“ So oft wir können, sprechen wir ihnen zu, dass sie schön und wertvoll sind. Wir machen Komplimente und ermutigen sie, an ihren Ideen und Träumen festzuhalten.

Einsatzkörbe mit Süßigkeiten, Literatur, Broschüren und Kondomen.

Kaffee und Tee, um den Frauen durch die Nacht zu helfen.
Manchmal merken wir im Gespräch, dass Fragen aufkommen, die am besten in Ruhe geklärt werden. Aus diesem Grund öffnen wir das Café am Donnerstag, also dem darauffolgenden Nachmittag. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, begleiten wir unsere Mädels auch mal zum Arztbesuch oder aufs Amt. Am meisten freuen wir uns, wenn eine Frau den Willen äußert, auszusteigen. Dies gelingt am ehesten, wenn wir sie in ein Frauenhaus vermitteln können. Nur auf diese Weise wird ein klarer Schlussstrich gezogen, sie kommt aus ihrem Umfeld raus und kann einen echten Neustart machen. Doch der Schritt ins Frauenhaus ist für viele Frauen zu groß, zu beängstigend. Wir bleiben trotzdem dran, versuchen sie zu unterstützen, wo wir können und vor allem: Wir hören nie auf, für unsere Mädels zu beten.
Andrea Kern / Alabaster Jar
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